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Die Doppelgänger
»Bitte, seht Ihr hier auf dieser Karte im Indischen Ozean, westlich von der Insel Taprobane – die Aufschrift: ›Meerwunder, die man Sirenen heißt?‹ Cristoforo Colombo erzählte mir, er hätte sich sehr gewundert, als er an diese Stelle kam und keine Sirenen vorfand ... Worüber lächelt Ihr?«
»Es ist nichts, Guido! Erzählt nur weiter, ich höre zu.«
»Ich weiß schon, Messer Leonardo: Ihr glaubt doch, daß es gar keine Sirenen gibt. Was würdet Ihr erst zu den Skiapoden sagen, die ihre Fußsohlen wie einen Schirm zum Schutze gegen die Sonne gebrauchen, oder zu den Pygmäen, die so große Ohren haben, daß sie das eine als Bettuch und das andere als Bettdecke benützen? Oder zu dem Baume, der statt Früchten Eier trägt, aus denen gelbe Vögel, die jungen Enten gleichen, herauskriechen – ihr Fleisch hat den Geschmack von Fischen und man darf es daher an Fasttagen genießen? Oder zu der Insel, auf der einst einige Schiffer landeten, Feuer machten und darauf ihr Nachtmahl bereiteten, und die sich später als ein Walfisch entpuppte, wie es mir ein alter Seemann zu Lissabon erzählte, der ein durchaus nüchterner Mann war und dazu noch seine Mitteilung mit einem Schwur beim heiligsten Leib und Blut des Herrn bekräftigte?«
Dieses Gespräch wurde geführt fünf Jahre nach der Entdeckung der Neuen Welt in der Palmwoche, am 6. April 1498 in der Kürschnergasse zu Florenz, unweit des Alten Marktes, in einem Raume über dem Warenlager des Handelshauses von Pompeo Berardi, der auch in Sevilla Warenniederlagen besaß und die Ausrüstung der Schiffe, welche in die von Kolumbus entdeckten Länder geschickt wurden, besorgte. Messer Guido Berardi war ein Neffe Pompeos; er zeigte bereits seit seiner frühesten Kindheit große Neigung, Seefahrer zu werden und wollte sogar an der Expedition Vasco-da-Gamas teilnehmen, als er plötzlich an jenem Leiden erkrankte, das erst in jener Zeit auftauchte und das die Italiener die französische, die Franzosen die italienische, die Polen die deutsche, die Moskoviter die polnische und die Türken die christliche Krankheit nannten. Er ließ sich von allen Ärzten behandeln und opferte allen wundertätigen Heiligenbildern wächserne Priape, doch beides war vergeblich. Er war ganz gelähmt und zu ewiger Unbeweglichkeit verurteilt, und doch hatte er seinen lebhaften und regen Geist bewahrt; er unterhielt sich viel mit Seefahrern, verbrachte ganze Nächte über seinen Büchern und Karten, segelte in seiner Phantasie über Weltmeere und entdeckte auf diesen Fahrten unbekannte Länder.
In seinem Zimmer gab es eine Menge Schiffahrtsinstrumente – Äquatoreale aus Messing, Quadranten, Sextanten, Astrolabien, Kompasse und Himmelsgloben; es sah bei ihm daher wie in einer Schiffskajüte aus. Die Türe zur Loggia stand offen und draußen dämmerte der klare Aprilabend. Die Lampe flackerte zuweilen im Winde auf. Von den Warenlagern kam ein Duft der ausländischen Gewürze herauf – von indischem Pfeffer, Ingwer, Zimmt, Muskatnuß und Nelken.
»So ist es, Messer Leonardo!« schloß Guido seine Erzählung und rieb sich mit der Hand seine eingepackten kranken Beine. »Nicht umsonst heißt es, daß der Glaube Wunder wirkt, hätte auch Colombo gezweifelt, wie Ihr es tut, so hätte er nichts erreicht. Ihr werdet doch zugeben, daß es sich lohnt, unsagbare Leiden zu erfahren und mit dreißig Jahren alt und grau zu werden, um die Lage des irdischen Paradieses zu entdecken?«
»Des Paradieses?« wunderte sich Leonardo, »wie meint Ihr das, Guido?«
»Wie? Ihr wißt es noch nicht? Habt Ihr denn noch nie etwas von den Beobachtungen gehört, die Messer Colombo bei den Azorischen Inseln über den Polarstern gemacht hat und mit denen er bewies, daß die Erde nicht, wie man früher annahm, die Form eines kugelrunden Apfels habe, sondern die einer Birne mit einem Ansatz, wie die Warze auf einer Frauenbrust? Diese Brustwarze ist ein Berg, so hoch, daß sein Gipfel in die Mondsphäre hineinragt und auf dem Gipfel befindet sich das Paradies ...«
»Aber Guido! Es widerspricht ja allen Ergebnissen der Wissenschaft!«
»Ja, die Wissenschaft!« unterbrach ihn mit verächtlichem Achselzucken Guido. »Wißt Ihr, was Colombo von der Wissenschaft sagt? Ich will Euch seine eigenen Worte aus dem Buche »Libro de las profecias« zitieren: Weder der Mathematik, noch den Karten der Geographen, noch den Gründen der Vernunft verdanke ich das, was ich erreicht habe, sondern allein der Prophezeiung Jesajas vom neuen Himmel und von der neuen Erde.«
Guido verstummte. Er bekam seine gewöhnlichen Schmerzen in den Gelenken. Leonardo rief auf seine Bitte die Diener herbei und diese brachten den Kranken in sein Schlafzimmer.
Als der Künstler allein geblieben, begann er die mathematischen Berechnungen, die Kolumbus bei den Azorischen Inseln über die Bewegung des Polarsterns angestellt hatte, nachzuprüfen und fand in diesen so grobe Fehler, daß er seinen Augen nicht traute.
»Welche Ignoranz!« sagte er verwundert. »Er ist gleichsam im Finstern ganz zufällig auf eine neue Welt gestolpert! Wie ein Blinder, weiß er gar nicht, was er entdeckt hat; er glaubt, es sei China, oder Salomos Ophir, oder das irdische Paradies! Er wird wohl auch in diesem Wahne sterben, ohne es erkannt zu haben.« Er las noch einmal den Brief vom 29. April 1493, mit dem Kolumbus Europa von seiner Entdeckung in Kenntnis setzte: »Brief des Christophorus Kolumbus, dem unsere Zeit vieles zu verdanken hat, von den kürzlich entdeckten Indischen Inseln über dem Ganges.«
Die ganze Nacht verbrachte Leonardo über den Karten und Berechnungen. Ab und zu trat er auf die offene Loggia hinaus, blickte nach den Sternen und dachte an den Propheten der Neuen Erde und des Neuen Himmels, den sonderbaren Schwärmer, mit dem Herzen und Verstand eines Kindes. Unwillkürlich mußte er sein eigenes Schicksal mit dem des Kolumbus vergleichen.
»Wie wenig hat er gewußt, wie viel hat er erreicht! Und ich bin mit allem meinem Wissen so unbeweglich, wie dieser gelähmte Berardi: mein ganzes Leben lang strebe ich nach unbekannten Welten und habe mich ihnen noch um keinen Schritt genähert. Sie sprechen vom Glauben. Ist denn aber vollkommener Glaube und vollkommenes Wissen nicht ein und dasselbe? Sehen denn meine Augen nicht weiter, als die Augen des blinden Propheten Kolumbus? Oder will es so das menschliche Schicksal, daß man sehend sein muß, um zu wissen und blind, um zu schaffen?«
Leonardo merkte gar nicht, wie die Nacht verging. Die Sterne waren erloschen. Ein rötlicher Widerschein lag auf den Vorsprüngen der Dächer und auf den schrägen Holzbalken in den Mauern der alten Backsteinhäuser. Von der Straße her ließ sich das Rauschen und Reden der Menge vernehmen.
An die Türe wurde geklopft. Er schloß auf. Es war Giovanni, der gekommen war, um den Meister zu erinnern, daß an diesem Palmsamstag die »Feuerprobe« stattfinden sollte.
»Was für eine Probe?« fragte Leonardo.
»Fra Dominico wird für Fra Savonarola in das Feuer des Scheiterhaufens steigen, und Fra Giuliano Rondinelli für seine Gegner; wer von den beiden unversehrt bleibt, dessen Sache ist gerecht,« erklärte Beltraffio.
»Also geh nur hin, Giovanni, ich wünsche dir viel Vergnügen an diesem Schauspiel.«
»Kommt Ihr denn nicht mit?«
»Nein, du siehst ja, daß ich beschäftigt bin.«
Der Schüler wollte Abschied nehmen, dann sagte er noch unsicher:
»Auf dem Wege zu Euch begegnete ich Messer Paolo Somenci. Er versprach mir, uns abzuholen und uns einen guten Platz, von dem alles gut zu sehen ist, zu verschaffen. Schade, daß Ihr jetzt keine Zeit habt. Ich dachte ... vielleicht ... Wißt Ihr, Meister, die Feuerprobe ist für die Mittagsstunde angesagt, wenn Ihr bis dahin mit Eurer Arbeit fertig sein könntet, so kämen wir noch zurecht!? ...«
Leonardo lächelte.
»Willst du denn durchaus, daß ich dieses Wunder sehe?«
Giovanni schlug die Augen nieder.
»Nun, es ist nichts zu machen: ich will mitkommen – dir zuliebe!«
Zur festgesetzten Stunde kam Beltraffio zu seinem Meister in Begleitung des Paolo Somenci, eines beweglichen, gleichsam mit Quecksilber gefüllten Menschen, der in Florenz der Hauptspion Moros, des erbittertsten Feindes Savonarolas, war.
»Ist es wahr, Messer Leonardo, daß Ihr Euch anfangs geweigert habt, uns zu begleiten?« fragte Paolo mit einer unangenehmen gellenden Stimme, mit närrischen Grimassen und Gebärden. »Aber ich bitte Euch, wer sollte sich denn für dieses physikalische Experiment noch mehr interessieren, als Ihr, der große Liebhaber der Naturwissenschaften?«
»Wird man ihnen denn wirklich erlauben, ins Feuer zu gehen?« fragte Leonardo.
»Was soll ich Euch sagen? Wenn die Sache so weit kommt, so wird Fra Dominico auch vor dem Feuer nicht zurückschrecken. Er steht, übrigens, nicht allein da: zweiundeinhalb tausend Bürger, reiche und arme, gelehrte und dumme, Frauen und Kinder haben sich gestern in San-Marco bereit erklärt, an der Feuerprobe teilzunehmen. Es ist ein solcher Blödsinn, daß auch den Vernünftigen der Kopf dumm wird, selbst unsere Philosophen und Freidenker haben Angst: wenn es nun einem der Mönche einfällt, unversehrt zu bleiben? Nein, Messere, stellt Euch nur die dummen Gesichter der frommen Greiner vor, wenn alle beide verbrennen!«
»Es kann nicht sein, daß Savonarola wirklich daran glaubt,« versetzte Leonardo nachdenklich, halb für sich.
»Er selbst glaubt vielleicht auch nicht daran,« entgegnete Somenci, »oder wenigstens nicht ganz. Er wäre froh, wenn er noch zurücktreten könnte; jetzt ist es aber zu spät. Er hat dem Pöbel einmal Appetit gemacht, und nun läuft ihnen das Wasser im Munde zusammen – sie wollen unbedingt ein Wunder sehen, und basta! Denn auch hier, Messere, ist Mathematik, die nicht weniger interessant als die Eurige ist: wenn es einen Gott gibt, warum sollte er nicht einmal ein Wunder geschehen lassen, so daß zweimal zwei ausnahmsweise fünf und nicht vier macht? Besonders, wenn es gilt, das Gebet der Gläubigen zu erhören und die gottlosen Freidenker – wie wir es beide sind – zu beschämen!«
»Nun, wir wollen gehen. Ich glaube, es ist Zeit?« sagte Leonardo und warf Paolo einen Blick voll unverhohlenen Ekels zu.
»Ja gewiß, es ist Zeit!« bestätigte jener. »Nur noch ein Wort, wer, glaubt Ihr, hat diesen Trick mit dem Wunder ausgeheckt? Das war ich! Daher will ich auch, Messer Leonardo, daß Ihr die Sache würdigt. Ihr seid ja der Einzige, der sie würdigen kann!«
»Warum denn gerade ich?« fragte Leonardo angeekelt.
»Versteht Ihr mich denn nicht? Ich bin ein einfacher Mensch und wie Ihr seht ganz offenherzig. Und dann bin ich ja auch ein wenig Philosoph. Ich weiß ja ganz genau, welchen Wert die Fabeln haben, mit denen die Mönche uns Angst machen wollen. Wir beide, Messer Leonardo, sind in dieser Sache Kampfgenossen. Daher sage ich, daß jetzt an uns die Reihe kommt zu triumphieren! Es lebe die Vernunft, es lebe die Wissenschaft! Denn, mag es einen Gott geben oder nicht – zweimal zwei ist immer vier!«
Die drei machten sich auf den Weg. In den Straßen bewegten sich große Menschenmassen. In allen Gesichtern war die feierliche Erwartung und Neugier zu lesen, die Leonardo auch schon in Giovannis Gesicht bemerkt hatte.
In der Strumpfwirkergasse bei Or-San-Michele, vor dem in einer Wandnische stehenden Bronzebildwerk des Verrocchio, das den Apostel Thomas, wie er seine Finger in die Wunden Christi legt, darstellt, herrschte ein besonderes Gedränge. Da hing ein Plakat mit den in großen roten Lettern gedruckten acht theologischen Thesen, über deren Richtigkeit die Feuerprobe entscheiden sollte. Die einen buchstabierten sie, die andern hörten zu und besprachen die Thesen:
Leonardo, Giovanni und Paolo gerieten hier ins Gedränge, Sie blieben stehen und lauschten den Gesprächen.
»Alles stimmt zwar, Brüder, ich fürchte nur, daß es doch Sünde ist!« sagte ein alter Handwerker.
»Warum sollte es eine Sünde sein?« entgegnete ein junger Geselle mit leichtsinnigem und selbstbewußtem Lächeln. »Ich glaube, Filippo, daß hier von Sünde keine Rede sein kann ...«
»Es ist ein Ärgernis, mein Freund!« bestand Filippo auf seiner Meinung: »Wir verlangen ein Wunder; sind wir aber eines Wunders würdig? Es steht geschrieben: Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen.«
»Schweig, Alter! Was krächzst du da wie ein Rabe? So ihr Glauben habt als ein Senfkorn, so möget ihr sagen zu diesem Berge: Heb dich von hinnen dorthin! So wird er sich heben. Gott darf uns das Wunder nicht versagen, sobald wir glauben!«
»Er darf es nicht! Er darf es nicht!« fielen mehrere Stimmen ein.
»Wer geht zuerst ins Feuer, Brüder, Fra Dominico oder Fra Girolamo?«
»Beide zugleich.
»Nein. Fra Girolamo wird nur beten, er selbst geht aber nicht ins Feuer.«
»Wie? Wer soll dann ins Feuer gehen, wenn nicht er? Zuerst kommt Dominico, dann Girolamo, und dann werden auch wir Sünder dieser Gnade teilhaftig, alle, die sich im Kloster San Marco eingeschrieben haben.«
»Ist es wahr, daß Vater Girolamo einen Toten auferwecken wird?«
»Ja, es ist wahr. Zuerst kommt das Wunder mit dem Feuer und dann die Auferweckung des Toten. Ich habe selbst seinen Brief an den Papst gelesen. Da schreibt er: man soll mir einen Gegner bestellen und wir werden dann beide vor ein Grab hintreten und einer nach dem andern sprechen: Stehe auf! Auf wessen Befehl der Tote sich aus dem Grabe erhebt, der ist ein Prophet; der andere aber ein Betrüger.«
»Wartet nur, Brüder! Es wird noch ganz anders kommen! Wenn ihr nur glaubt, so werdet ihr auch den Menschensohn, der da in den Wolken kommt, leibhaftig sehen! Und dann kommen noch Zeichen und Wunder, wie es solche noch nie gegeben hat!«
»Amen! Amen!« erklang es in der Menge. Die Gesichter wurden blaß und in den Augen flammte wahnsinniges Feuer auf.
Die Menge setzte sich in Bewegung und zog auch die drei mit sich. Giovanni blickte zum letzten Mal auf das Bildwerk Verrocchios zurück. Da glaubte er in dem liebevollen, schlauen und furchtlos-neugierigen Lächeln, mit dem der ungläubige Thomas seine Finger in die Wunden des Herrn legt, eine Ähnlichkeit mit dem Lächeln Leonardos zu sehen.
Auf dem Platze der Signoria gerieten sie wieder in ein derartiges Gedränge, daß Paolo einen Reiter der Stadtmiliz bitten mußte, sie zu der Ringhiera – einer steinernen Bühne vor dem Rathause, wo für die Gesandten und die vornehmen Bürger Plätze reserviert waren, zu geleiten.
Giovanni glaubte, noch nie eine solche Menschenansammlung gesehen zu haben. Nicht nur auf dem ganzen Platz, sondern auch in allen Loggien, Türmen, Fenstern und selbst auf den Dächern drängten sich die Leute. Sie klammerten sich an die in die Mauern eingelassenen eisernen Fackelhälter, an die Gitter, Giebelvorsprünge und Dachrinnen, sie hingen stellenweise in schwindelnder Höhe. Man kämpfte um die Plätze. Jemand stürzte ab und war auf der Stelle tot.
Schlagbäume mit Ketten sperrten die Straßen ab. Nur drei Zugänge standen offen; hier waren Stadtwachen postiert, die nur erwachsene und unbewaffnete Männer durchließen.
Paolo zeigte seinen Begleitern den Scheiterhaufen und erklärte ihnen die Einrichtung dieser »Maschine«, von dem Fuße der Ringhiera, wo der Marzocco, der heraldische Bronzelöwe von Florenz stand, bis zum Dache der Pisaner zog sich ein schmaler langer Scheiterhaufen; zwischen zwei Wänden aus Brennholz, das mit Pech beschmiert und mit Pulver bestreut war, ging ein schmaler mit Ton, Steinen und Sand gepflasterter Steg für die zu Prüfenden.
Von der Vecherecchia-Straße her kamen die Franziskaner – die Feinde Savonarolas, und dann die Dominikaner. Fra Girolamo in einer Sutane aus weißer Seide mit einer in der Sonne funkelnden Monstranz in den Händen und Fra Dominica in feuerrotem Samtgewand beschlossen den Zug.
»Preiset den Herrn,« sangen die Dominikaner: »Er ist groß über Israel und seine Macht ist über den Wolken. Furchtbar bist du, Herr, in deinem Heiligtume.«
Die Volksmenge fiel in den Gesang der Mönche mit dem erschütternden Schrei ein:
»Hosianna! Hosianna! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn!«
Die Feinde Savonarolas besetzten die dem Rathaus zunächst gelegene Hälfte der Loggia Orcagni, die zu diesem Zweck mit einer Bretterwand in zwei Hälften geteilt worden war; seine Anhänger – die andere Hälfte.
Alles war fertig. Man brauchte nur noch den Scheiterhaufen anzuzünden und ins Feuer zu gehen.
So oft aus dem Palazzo Vecchio die Kommissare heraustraten, die den Wettkampf überwachten, verstummte das Volk erwartungsvoll, sie liefen zu Fra Dominico, tuschelten mit ihm eine Weile und kehrten dann wieder ins Schloß zurück. Fra Giuliano Rondinelli war verschwunden.
Die Spannung und die Ungewißheit wurden unerträglich. Manche erhoben sich auf den Zehen und reckten die Hälse, um besser zu sehen. Andere bekreuzten sich und beteten den Rosenkranz mit dem einfältigen kindlichen Flehen: »Tue ein Wunder, Herr! Ein Wunder!«
Es war still und schwül. Der Donner, den man schon seit dem frühesten Morgen vernahm, rollte immer näher heran. Die Sonne brannte entsetzlich.
Aus dem Palazzo Vecchio traten auf die Ringhiera einige vornehme Bürger, Mitglieder des Rates, in langen togaähnlichen Mänteln aus dunkelrotem Tuch.
»Signori! Signori!« rief geschäftig ein Greis mit runder Brille auf der Nase und einer Gänsefeder hinter dem Ohr, wohl der Sekretär des Rates. »Die Sitzung dauert noch fort. Jetzt werden die Stimmen gesammelt ...«
»Der Teufel mag sie mit ihren Stimmen holen!« rief ein Bürger. »Ich habe genug! Den Unsinn kann man nicht länger anhören!«
»Worauf warten die noch?« bemerkte ein anderer, »wenn sie wirklich solche Lust haben, zu verbrennen, so soll man sie nur ins Feuer gehen lassen und die Sache hat ein Ende!«
»Aber bitte: es wäre ja Mord!«
»Unsinn! Es ist kein Unglück, wenn die Welt um zwei Narren ärmer wird!«
»Ihr sagt, daß sie verbrennen werden. Es handelt sich aber darum, daß sie nach allen kirchlichen Gesetzen und kanonischen Regeln verbrennen – das ist die Sache! Es ist eine schwierige theologische Frage ...«
»Wenn es eine theologische Frage ist, so soll man sie zum Papst schicken.«
»Was hat das Ganze mit dem Papst und den Mönchen zu schaffen? Wir müssen doch, Signori, an das Volk denken. Wenn man mit dieser Maßregel die Ruhe in der Stadt wiederherstellen könnte, so müßte man natürlich alle Pfaffen und Mönche nicht nur ins Feuer, sondern auch ins Wasser, in die Luft und in die Erde werfen!«
»Wasser genügt! Ich schlage vor: man bringe einen großen Kübel Wasser und tauche beide Mönche hinein; wer trocken bleibt, der hat recht. Dies ist wenigstens ungefährlich!«
»Habt ihr es gehört, Signori?« mischte sich Paolo mit unterwürfigem Kichern ins Gespräch ein: »Unser armer Fra Giuliano Rondinelli hat vor Angst eine Magenverstimmung bekommen. Jetzt läßt man ihn zur Ader, damit er nicht gar vor Angst stirbt.«
»Ihr scherzt nur, Signori,« versetzte ein würdig aussehender Alter mit klugem und traurigem Gesicht, »wenn ich aber die ersten Vertreter meines Volkes solche Reden führen höre, so weiß ich nicht, was besser ist: zu leben oder zu sterben. Denn wahrlich, unsere Vorfahren, die Gründer dieser Stadt, hätten sicher jeden Mut verloren, wenn sie geahnt hätten, daß ihre Nachkommen so tief sinken werden ...«
Die Kommissare liefen noch immer zwischen dem Rathaus und der Loggia hin und her. Die Unterhandlungen wollten gar kein Ende nehmen.
Die Franziskaner behaupteten, Savonarola habe die Kutte Dominicos behext. Er zog sie aus. Der Zauber konnte aber auch in der Unterkleidung stecken. Da ging er ins Schloß, entkleidete sich vollständig und zog die Kleidung eines andern Mönches an. Man untersagte ihm, sich dem Fra Girolamo zu nähern, damit er ihn nicht wieder behexe. Man verlangte noch, daß er das Kreuz, das er in der Hand hielt, lasse. Dominica ging auch darauf ein, doch erklärte er, daß er den Scheiterhaufen nicht anders als mit den heiligen Sakramenten in den Händen betreten werde. Darauf erklärten die Franziskaner, daß Savonarolas Schüler den Leib und das Blut Christi verbrennen wollten. Dominico und Girolamo suchten ihnen zu beweisen, daß das heilige Sakrament nicht verbrennen könne und daß vom Feuer nur der vergängliche »Modus«, nicht aber die ewige »Substanz« zerstört werden könne. Darüber entwickelte sich ein scholastischer Streit.
Die Volksmenge begann zu murren.
Der Himmel hatte sich inzwischen mit Wolken bedeckt.
Plötzlich ließ sich ein langgedehntes hungriges Brüllen vernehmen. In der Löwengasse hinter dem Palazzo Vecchio wurden in einem gemauerten Graben einige Löwen als heraldische Wahrzeichen von Florenz gehalten. An diesem Tage hatte man wohl im allgemeinen Trubel vergessen, ihnen Futter zu geben.
Es schien, als ob der eherne Marzocco aus Empörung über die Schande seines Volkes brülle.
Die Menge stimmte in das Tiergebrüll mit einem noch schrecklicheren hungrigen Menschengeheul ein:
»Rascher! Rascher! Ins Feuer! Fra Girolamo! Ein Wunder! Wunder!«
Savonarola, der vor einem Abendmahlskelche betete, schien aus einer Verzückung zu sich zu kommen. Er trat an den Rand der Loggia und hob mit seiner gewohnten herrischen Gebärde beide Arme, um dem Volke Schweigen zu gebieten.
Das Volk aber wollte nicht schweigen.
In den hinteren Reihen der unter dem Dache der Pisaner stehenden Menge rief einer der » Arrabbiati«:
»Jetzt hat er die Courage verloren!«
Die Volksmenge fing diesen Ruf auf und er schallte jetzt über den ganzen Platz.
Von hinten her drängten sich die wütenden »Arrabbiati«. Sie wollten die Loggia stürmen und in der allgemeinen Verwirrung ihren Feind – Savonarola erschlagen. Man hörte empörte Schreie:
»Schlagt sie tot, die verdammten Scheinheiligen!«
Giovanni sah wilde tierische Gesichter. Er schloß die Augen, um nicht sehen zu müssen, wie sie Fra Girolamo ergreifen und zerfleischen würden.
In diesem Augenblick krachte ein Donnerschlag, ein greller Blitz durchzuckte den ganzen Himmel und dann kam ein Wolkenbruch, wie man ihn in Florenz seit vielen Jahren nicht erlebt hatte.
Er war zwar von kurzer Dauer, doch als er aufhörte, war an die Feuerprobe nicht mehr zu denken: aus dem Durchgange zwischen den beiden Wänden des Scheiterhaufens strömte das Wasser wie aus einer Dachrinne.
»Nein! Diese Mönche!« lachte man in der Menge: »Sie wollten ins Feuer und gerieten ins Wasser! Das nenne ich ein Wunder!«
Eine Abteilung Soldaten mußte Savonarola durch die erboste Menge begleiten.
Nach dem Gewitter kam ein stiller Landregen.
Als Beltraffio Fra Girolamo sah, wie er unter dem langsam fallenden Regen mit eiligen unsicheren Schritten abzog, die Kapuze über das Gesicht gestülpt und das weiße Ordenskleid von Kot bespritzt, da krampfte sich sein Herz zusammen.
Leonardo sah, wie Giovanni erbleichte; er nahm ihn bei der Hand und führte ihn, wie bei der Verbrennung der Eitelkeiten, aus der Menge heraus.
Am nächsten Tag saß der Künstler wieder im gleichen kajütenähnlichen Zimmer des Hauses Berardi und bewies dem Messer Guido, wie unsinnig die Ansicht des Kolumbus über die Lage des Paradieses auf der Brustwarze der birnenförmigen Erde sei.
Guido hörte anfangs aufmerksam zu, er machte Einwände und widersprach; dann wurde er plötzlich still und traurig, als ob er Leonardo wegen seiner Wahrheit zürne.
Etwas später bekam er wieder seine Schmerzen in den Beinen und ließ sich ins Schlafzimmer tragen.
»Warum habe ich ihn betrübt?« fragte sich der Künstler, »Wie die Schüler Savonarolas, braucht er nicht die Wahrheit, sondern ein Wunder.«
Er blätterte in seinen Arbeitsheften und kam zufällig auf jene Zeilen, die er an jenem denkwürdigen Tage, als der Pöbel sein Haus stürmte und von ihm den heiligsten Nagel forderte, niedergeschrieben hatte:
»O, deine wunderbare Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung! Du wolltest keiner Kraft die Ordnung und die Art der notwendigen Wirkungen versagen: denn, wenn eine Kraft, die einen Körper hundert Ellen weit fortbewegen soll, auf diesem Wege auf einen Widerstand stößt, so erzeugt die Kraft des Anpralles, weil du es so gewollt, neue Bewegungen und der nicht zurückgelegte Rest der Strecke wird von den verschiedenen dabei entstehenden Stößen und Vibrationen völlig ausgeglichen. O deine göttliche Notwendigkeit, du erster Urheber der Bewegung! – So zwingst du mit deinen Gesetzen alle Wirkungen auf dem kürzesten Wege ihren Ursachen zu entspringen, welch ein Wunder!«
Er dachte nun an das heilige Abendmahl und an das Antlitz Christi, das er immer noch suchte und nie fand, dabei fiel ihm ein, daß zwischen diesen Worten vom ersten Urheber der Bewegung und von der göttlichen Notwendigkeit einerseits und der vollkommenen Weisheit dessen, der gesagt hatte: »Einer unter euch wird mich verraten«, andererseits, ein Zusammenhang bestehen müsse.
Abends kam Giovanni zu ihm und berichtete ihm von den letzten Ereignissen.
Die Signoria hatte den Fratres Girolamo und Dominico befohlen, die Stadt zu verlassen. Als die beiden Mönche noch zögerten, zogen die Arrabbiati mit Waffen und Kanonen, von einer großen Volksmenge begleitet, zum San Marco-Kloster und stürmten die Kirche, wo die Mönche gerade die Vesper beteten: Sie verteidigten sich mit brennenden Kerzen, Leuchtern und Kruzifixen aus Holz und Eisen wie mit Waffen. Im Pulverrauch und im Widerschein der Feuersbrunst schienen sie lächerlich – wie wütende Tauben und schrecklich – wie Teufel. Ein Mönch war aufs Dach geklettert und bewarf die Feinde mit Steinen. Ein anderer sprang auf den Altar, pflanzte sich vor dem Kruzifixe auf und feuerte aus einer Arkebuse in die Menge; nach jedem Schuß rief er: »Gelobt sei der Herr!«
Das Kloster wurde erstürmt. Die Mönche flehten Savonarola, er möchte fliehen. Er ergab sich aber mit Dominico selbst den Feinden. Sie wurden ins Gefängnis abgeführt.
Die Wache der Signoria bemühte sich vergeblich (oder suchte sich wenigstens diesen Schein zu geben), sie vor dem Pöbel zu schützen.
Die einen schlugen Fra Girolamo von hinten auf die Backen und sangen, den näselnden Ton der »Greiner« nachahmend:
»Prophezeie nun, prophezeie, du Mann Gottes, errate, wer dich geschlagen hat!«
Die andern krochen auf allen Vieren vor ihm her, als suchten sie etwas im Straßenkote. Sie grunzten: »Wo ist das Schlüsselchen? Hat denn niemand Girolamos Schlüsselchen gesehen?« – Das war eine Anspielung auf das von ihm in seinen Predigten oft erwähnte »Schlüsselchen«, mit dem er die geheimen Verließe der römischen Gräuel aufzusperren drohte.
Kinder, die erst vor kurzem Krieger des Heiligen Heeres der Inquisition gewesen waren, bewarfen ihn mit faulen Äpfeln und verdorbenen Eiern.
Alle, die sich nicht durch die Menge hindurchdrängen konnten, riefen ihm aus der Ferne die immer gleichen Schimpfworte zu, als könnten sie sich an ihnen gar nicht sättigen:
»Feigling! Feigling! Feigling! Judas, Verräter! Sodomit! Hexenmeister! Antichrist!«
Giovanni hatte ihn bis zu seinem Gefängnisse im Palazzo Vecchio begleitet. Als Fra Girolamo die Schwelle des Gefängnisses überschritt, das er erst zu seiner Hinrichtung verlassen sollte, stieß ihn ein Spaßmacher mit dem Knie ins Hintere und rief:
»Seht! Hier kamen seine Prophezeiungen heraus!«
Am nächsten Morgen reisten Leonardo und Giovanni ab.
Gleich nach seiner Ankunft in Mailand vertiefte sich der Künstler in jene Arbeit, die er achtzehn Jahre lang hinausgeschoben hatte: es galt das Antlitz Christi für das heilige Abendmahl zu schaffen.
Am 7. April 1498, am gleichen Vorabend des Palmsonntags, an dem in Florenz die Feuerprobe stattfand, starb plötzlich Karl VIII., König von Frankreich.
Die Nachricht von seinem Tode erschreckte Moro über alle Maßen, denn nun sollte der ärgste Feind des Hauses Sforza – der Herzog von Orleans – unter dem Namen Ludwig XII. den französischen Thron besteigen. Der Enkel der Valentina Visconti, der Tochter des ersten Mailänder Herzogs, hielt sich für den einzigen rechtmäßigen Erben der Lombardei und wollte sie wieder erobern und dabei das »Räubernest der Sforzas« dem Erdboden gleich machen.
Noch vor dem Tode Karls VIII. fand einmal in Mailand am Hofe Moros ein »gelehrter Wettkampf« statt, der dem Herzog so gut gefallen hatte, daß er zwei Monate darauf einen zweiten veranstalten wollte. Viele glaubten, er werde in Anbetracht der Kriegsgefahr die Veranstaltung absetzen, doch der schlaue und durchtriebene Moro zog es vor, den Feinden zu zeigen, daß er sich um sie wenig kümmere, daß in der Lombardei unter der milden Regierung der Sforzas die wiedergeborenen Künste und Wissenschaften, die »Früchte des goldenen Friedens« in schönerer Blüte ständen als je und daß sein Thron sich nicht auf Waffengewalt allein, sondern auch auf den Ruhm des aufgeklärtesten Fürsten Italiens, des Beschützers der Musen, stütze.
Im großen »Saal des Ballspiels« in der Rocchetta versammelten sich die Doktoren, Dekane und Magister der Universität Pavia in ihren viereckigen roten Baretten, hochroten seidenen hermelinbesetzten Kragen, violetten Handschuhen aus Sämischleder und mit goldgestickten Beuteln am Gürtel. Die Hofdamen trugen prachtvolle Balltoiletten. Rechts und links zu Moros Füßen saßen Madonna Lucrezia und Gräfin Cecilia.
Die Sitzung wurde mit einer Rede Giorgio Merulas eröffnet, der den Herzog mit Perikles, Epaminondas, Szipio, Cato, Augustus, Maecenas, Trajanus, Titus und noch unzähligen andern großen Männern verglich und den Beweis erbringen wollte, daß Mailand, »das neue Athen«, das alte Athen übertrumpft habe.
Darauf begann ein theologischer Disput über die unbefleckte Empfängnis der heiligen Jungfrau und ein medizinischer über folgende Fragen:
»Sind schöne Frauen fruchtbarer als häßliche? Ging die Heilung Tobiae mit der Fischgalle auf natürlichem Wege vor sich? Ist die Frau ein unvollkommenes Geschöpf? In welchem inneren Körperorgan hatte sich das Wasser gebildet, das aus der Wunde des Herrn floß, als er auf dem Kreuze von einem Speere durchbohrt wurde? Ist die Frau wollüstiger als der Mann?«
Dann kam ein philosophischer Wettstreit über die Frage, ob der primäre Urstoff vielgestaltig oder einfach sei?
»Was bedeutet dieses Apophthegma?« fragte ein zahnloser Greis mit giftigem Lächeln, und den trüben Augen eines Säuglings, ein großer Doktor der Scholastik. Er suchte seine Gegner zu verwirren, indem er einen so feinen Unterschied zwischen »quidditas« und »habitus« aufstellte, daß ihn niemand verstehen konnte.
»Der primäre Urstoff,« bewies ein anderer, »ist weder eine Substanz, noch ein Accidens. Inwiefern wir aber unter jedem Akt entweder ein Accidens, oder eine Substanz verstehen, insofern ist der primäre Urstoff auch kein Akt.«
»Ich behaupte,« rief ein dritter, »daß jede geschaffene Substanz wie die körperliche, so auch die geistige, ins Reich der Materie gehört.«
Der alte Doktor der Scholastik schüttelte nur den Kopf, als wisse er von vornherein, was ihm seine Gegner erwidern könnten und als könne er alle ihre Sophismen wie ein Spinngewebe wegblasen.
»Nehmen wir an,« erklärte ein vierter, »die Welt sei ein Baum: dann entsprechen die Wurzeln dem Urstoff, die Blätter sind Accidentien, die Äste – Substanz, die Blüten – die vernunftbegabte Seele, die Früchte – die Engelsnatur, und Gott ist der Gärtner.«
»Der primäre Urstoff ist einfach!« schrie ein fünfter dazwischen, ohne auf die andern zu hören, »der sekundäre Urstoff ist zwiefach, der tertiäre – vielfach. Und alle streben zur Einheit. Omnia unitatem appetunt!«
Leonardo hörte wie immer einsam und schweigend zu; zuweilen spielte ein feines Lächeln um seine Lippen.
Nach einer Pause demonstrierte der Mathematiker Luca Paccioli, ein Franziskanermönch, Kristallmodelle von Polyedern und erläuterte an Hand dieser die pythagoräische Lehre von den fünf erstgeschaffenen regelmäßigen Körpern, aus denen das Weltall entstanden. Er rezitierte auch ein Gedicht, in dem sich diese Körper selbst verherrlichen:
Der Forschung Frucht, die süßeste und schönste
Hat alle Weisen immer angeregt
Zu suchen unsren rätselvollen Ursprung.
Wir strahlen stets in körperloser Schönheit,
Wir sind der erste Ursprung aller Welten,
An unsren wunderbaren Harmonien
Berauschten Pluto sich, Pythagoras, Euklid.
Wir füllen aus die ewge Sphäre; haben
So vollkommne Gestalt, daß alle Körper
Von uns erhalten ihr Gesetz und Maß.
Gräfin Cecilia flüsterte dem Herzog etwas zu, auf Leonardo hinweisend. Moro rief ihn zu sich heran und bat ihn, am Wettkampfe teilzunehmen.
»Messere,« wandte sich zu ihm die Gräfin selbst, »seid doch so freundlich ...«
»Siehst du, die Damen bitten dich,« sprach der Herzog. »Ziere dich nicht! Es macht dir auch keine Mühe. Erzähle uns etwas Lustiges. Ich weiß ja, dein Kopf ist immer voll von wunderbaren Chimären ...«
»Hoheit, gestattet mir zu schweigen. Ich hätte Euch gerne, Madonna Cecilia, den Gefallen erwiesen, ich kann aber wirklich nicht, ich verstehe es einfach nicht ...«
Leonardo sprach die Wahrheit. Er liebte wirklich nicht öffentlich zu sprechen, und konnte es auch nicht. Zwischen seinen Gedanken und seinen Worten lag eine ewige Scheidewand. Es schien ihm, daß jedes seiner Worte übertreibe, oder vertusche, fälsche und lüge. Seine Tagebuchaufzeichnungen unterzog er einer ständigen Umarbeitung, die Worte durchstreichend und abändernd. Auch im Gespräch stotterte er, suchte nach Worten und brach oft unvermittelt ab. Die Redner und Schriftsteller nannte er Schwätzer und Federfuchser, und doch, in der Tiefe seines Herzens – beneidete er sie. Die abgerundete formvollendete Sprache mancher ganz unbedeutenden Menschen ärgerte und entzückte ihn zugleich. Er dachte sich: »Es ist wirklich eine erstaunliche Gottesgabe!«
Je energischer sich Leonardo weigerte, um so inständiger baten die Damen:
»Messere,« zwitscherten sie im Chor, sich um ihn drängend: »Bitte! Bitte! Wir alle bitten Euch! Erzählt uns doch etwas Schönes!«
»Wie die Menschen einst fliegen werden,« schlug Donsella Fiordalisa vor.
»Oder lieber etwas von der Magie!« fiel Donsella Ermellina ein: »Von der schwarzen Magie. Es ist so interessant! Oder von der Nekromantie – wie man die Toten aus den Gräbern zitiert ...«
»Aber Madonnen, ich kann Euch versichern, daß ich noch nie einen Toten zitiert habe ...«
»Dann erzählt uns etwas anderes, Aber nur Grusliges, und ohne Mathematik ...«
Leonardo konnte niemandem etwas abschlagen, um was es sich auch handelte.
»Ich wüßte wirklich nicht, Madonnen ...« sagte er verlegen.
»Er sagt ja! Er sagt ja!« rief Ermellina, mit den Händen klatschend. »Messer Leonardo wird sprechen! Hört!«
»Wie? Wer?« fragte der vom Alter halb blödsinnig gewordene und schwerhörige Dekan der theologischen Fakultät.
»Leonardo!« schrie ihm ins Ohr sein Nachbar, ein junger Magister der Medizin.
»Über den Mathematiker Leonardo Pisano, nicht wahr?«
»Nein, Leonardo da Vinci selbst wird sprechen.«
»Da Vinci? Doktor oder Magister?«
»Weder Doktor, noch Magister, nicht einmal Baccalaureus, sondern der Künstler Leonardo, der das heilige Abendmahl gemalt hat.«
»Ein Künstler? Spricht er über Malerei?«
»Nein, ich glaube über Naturwissenschaften.«
»Über Naturwissenschaften? Sind denn jetzt die Künstler Gelehrte geworden? Leonardo? Nie gehört ... was hat er denn für Werke geschrieben?«
»Gar keine. Er veröffentlicht nichts.«
»Veröffentlicht nichts?«
»Man sagt, er schreibe mit der linken Hand und in einer Geheimschrift, damit es niemand lesen kann,« mischte sich ein anderer ein.
»Damit es niemand lesen kann? Mit der linken Hand?« wiederholte der Dekan mit immer wachsendem Erstaunen. »Es wird wohl etwas Drolliges sein, Messere, wie? Vielleicht zur Erholung von unseren Arbeiten und zur Belustigung des Herzogs und der schönsten Damen?«
»Vielleicht ist es auch etwas Drolliges. Wir werden sehen.«
»So, so. Hättet Ihr es mir gleich gesagt. Es sind ja Hofleute hier und eine Belustigung ist wohl am Platze. Diese Künstler sind wirklich possierliche Menschen. Der Narr Buffalmaco soll ja auch ein so lustiger Geselle gewesen sein ... Also gut, wollen wir hören, was Leonardo für einer ist!«
Er putzte seine Brille, um das bevorstehende Schauspiel besser sehen zu können.
Leonardo blickte den Herzog noch zum letzten Mal flehend an. Jener lächelte ihm nicht sehr freundlich zu. Gräfin Cecilia drohte mit ihrem Finger.
»Sie werden mir noch zürnen,« dachte sich der Künstler. »Ich werde ihn aber bald wieder um Bronze für das Pferd bitten müssen. Also gut, ich erzähle ihnen das erste beste, was mir gerade einfällt, nur um sie loszuwerden.«
Mit verzweifelter Entschlossenheit stieg er aufs Katheder und musterte mit einem raschen Blick die gelehrte Versammlung.
»Ich muß vorausschicken,« begann er stotternd und errötend wie ein Schuljunge. »Ich bin ganz unvorbereitet ... Und nur auf dringenden Wunsch des Herzogs ... Das heißt, ich will sagen ... ich glaube ... Mit einem Wort – ich will über Muscheln sprechen.«
Er erzählte von den versteinerten Seetieren und von den Abdrücken von Seealgen und Korallen, die man in Bergen und Höhlen, weit vom Meere entfernt findet und die davon zeugen, daß das Antlitz der Erde sich seit der ältesten Urzeit verändert hat und daß dort, wo heute Erde und Berge sind, einst der Grund eines Ozeans gewesen war. Das Wasser, die Triebkraft der Natur, ihr »Fuhrmann« erschafft und zerstört Gebirge. Die Ufer wachsen immer an, indem sie sich der Mitte der Meere nähern; die Binnenmeere legen allmählich ihren Boden blos und verwandeln sich schließlich in große Ströme, die in den Ozean münden. So hat z. B. der Po die ganze Lombardei entwässert, und das Gleiche wird er dereinst mit dem ganzen Adriatischen Meere machen. Der Nil wird das Mittelländische Meer in eine hügelige Sandwüste, in ein neues Ägypten oder Lybien verwandeln und dann hinter Gibraltar in den Ozean münden.
»Ich bin überzeugt,« schloß Leonardo seinen Vortrag, »daß die Erforschung der versteinerten Pflanzen und Tiere, die von den Gelehrten bisher wenig beachtet wurden, den Grund zu einer neuen Wissenschaft von der Erde, von ihrer Vergangenheit und Zukunft legen wird.«
Seine Gedanken waren so klar, präzis und, trotz seiner scheinbaren Bescheidenheit, so erfüllt von einem unerschütterlichen Glauben an die Wissenschaft; sie waren so verschieden von den unklaren pythagoräischen Phantasien Pacciolis und der toten Scholastik der gelehrten Doktoren, daß alle Zuhörer stutzten und nicht recht wußten, wie sie sich verhalten sollten: soll man da loben oder lachen? Und ist es eine neue Wissenschaft oder das freche Geschwätz eines Ignoranten?
»Es wäre uns sehr erwünscht,« sagte der Herzog mit jenem herablassenden Lächeln, mit dem man zu Kindern spricht: »Es wäre uns sehr erwünscht, daß deine Prophezeiung in Erfüllung ginge, daß die Adria austrocknete und unsere Feinde, die Venetianer, auf ihren Lagunen wie die Krebse auf einer Landbank sitzen blieben!«
Alle lachten devot und mit übertriebener Heiterkeit. Die Richtung war jetzt gegeben und die höfischen Windfahnen drehten sich nach dem Winde. Der Rektor der Universität Pavia, Gabriele Pirovano, ein stattlicher Greis mit silberweißem Haar und einem majestätischen, doch völlig unbedeutenden Gesicht sagte, den herablassenden Scherz des Herzogs in seinem vorsichtigen und flachen Lächeln spiegelnd:
»Eure Mitteilungen, Messer Leonardo, waren in der Tat höchst interessant. Ich gestatte mir aber die Bemerkung: wäre es denn nicht einfacher, den Ursprung dieser kleinen Muscheln, dieses zufälligen, amüsanten und man kann wohl sagen entzückenden, aber völlig unschuldigen Naturspiels, auf dem Ihr eine ganze Wissenschaft begründen wollt, – wäre es nicht einfacher, sage ich, ihren Ursprung so zu erklären, wie man es bisher immer tat: nämlich mit der Sintflut?«
»Ja, gewiß, die Sintflut!« fiel Leonardo ein. Er sprach jetzt ganz unbefangen und mit einer Ungezwungenheit, die vielen zu frei und sogar frech erschien. »Ich weiß es, alle sprechen da von der Sintflut. Diese Erklärung ist aber nichts wert. Urteilt doch selbst: während der Sintflut soll das Wasser, nach Zeugnis desjenigen, der es gemessen, zehn Ellen über den höchsten Berggipfeln gestanden haben. Folglich mußten da die von den Wellen herumgetriebenen Muscheln von oben herab fallen; unbedingt von oben, Messer Gabriele, und nicht von der Seite her; sie konnten also keineswegs zu den Bergsohlen und ins Innere der Höhlen geraten; ferner mußten sie je nach der Laune der Wellen in einem bunten Durcheinander gesunken sein, und nicht in aufeinanderfolgenden Schichten, wie wir sie beobachten. Und dann bitte ich Euch noch folgendes zu beachten: jene Tiere, die in Gemeinschaft leben, wie Schleimwürmer, Tintenfische und Austern, werden auch in größeren Ansammlungen gefunden, während diejenigen, die einzeln leben, auch einzeln herumliegen; es ist genau so, wie wir es auch heute am Meeresufer beobachten können. Ich habe schon selbst oft die Verteilung der versteinerten Muscheln in Toskana, Lombardei und Piemont beobachtet, wenn Ihr aber einwendet, daß sie nicht von den Wellen hergetrieben worden, sondern selbst dem steigenden Wasser gefolgt sind, so werde ich auch diesen Einwand leicht umstoßen, denn die Muschel ist ein ebenso langsames Tier wie die Schnecke. Sie schwimmt nie und kann nur über Sand und Steinen kriechen, indem sie ihre Schalen auf und zu klappt; sie kann dabei drei, höchstens vier Ellen an einem Tage zurücklegen. Wie wollt Ihr nun, Messer Gabriele, erklären, daß sie in den vierzig Tagen, welche die Sintflut nach dem Zeugnisse Mosis dauerte, die 250 Meilen lange Strecke von der Adria bis zu den Monferrato-Hügeln zurückgelegt haben? Dies wird nur der zu behaupten wagen, der das Experiment und die Beobachtung verwirft, die Natur nur nach Büchern, dem elenden Geschwätz der Literaten beurteilt und noch nie mit eigenen Augen jene Gegenstände gesehen hat, von denen er spricht!«
Ein ungemütliches Schweigen folgte diesen Ausführungen. Alle hatten den Eindruck, daß die Entgegnung des Rektors zu schwach war und daß eher Leonardo das Recht habe, auf ihn wie auf einen Schüler herabzusehen, als umgekehrt.
Endlich schlug der Hofastrologe, der Liebling Moros, Messer Ambrogio da Rosate, eine andere Erklärung vor: mit Hinweis auf den Naturalisten Plinius behauptete er, daß die Versteinerungen, die nur die äußere Gestalt von Seetieren hätten, im Erdinnern unter dem magischen Einflusse der Gestirne entstanden wären.
Als Leonardo das Wort »magisch« hörte, lächelte er müde und gelangweilt.
»Wie erklärt Ihr nun, Messer Ambrogio,« entgegnete er, »daß die an einem Orte und unter dem Einflusse der gleichen Gestirne entstandenen Tiere nicht nur verschiedenen Gattungen angehören, sondern auch von verschiedenem Alter sind? Ich habe nämlich gefunden, daß der Schnitt einer Muschel, genau so wie die Hörner der Rinder und Schafe und die Jahresringe der Bäume, Aufschluß über ihr Alter gibt, und zwar nicht nur in Jahren, sondern auch in Monaten ausgedrückt. Wie wollt Ihr erklären, daß die einen ganz, die andern zerbrochen gefunden werden; andere wieder mit Sand, Schlamm, Krabbenscheren, Fischgräten und Zähnen, auch mit jenen vom Wasser rundgeschliffenen Steinchen, wie wir solche am Meeresstrande finden, gefüllt? Und was sagt Ihr zu den zarten Abdrücken von Blättern auf den Felsen der höchsten Berge? Und zu den versteinerten Algen an den Muscheln? Woher kommt das alles? Vom Einflusse der Gestirne? Wenn man so urteilen wollte, Messere, so gibt es, glaube ich, in der ganzen Natur keine Erscheinung, die man nicht mit dem magischen Einflusse der Gestirne erklären könnte; dann wären aber alle Wissenschaften mit Ausnahme der Astrologie überflüssig ...«
Der alte Doktor der Scholastik bat ums Wort, und als es ihm gewährt wurde, erklärte er, daß der Streit ganz falsch geführt werde, denn entweder gehört die Frage von den Versteinerungen in das Bereich der niederen, »mechanischen« Wissenschaften, die mit der Metaphysik nichts zu schaffen haben, und dann lohne es sich überhaupt nicht, über sie zu sprechen, denn man sei hier nicht dazu versammelt, um über unphilosophische Dinge zu disputieren; oder aber, sie gehöre in das Bereich des höchsten Wissens – der Dialektik; in diesem Falle dürfe sie auch nur nach allen Regeln der Dialektik behandelt werden, indem man die Gedanken zu geläuterten Spekulationen erhöhe.
»Ich weiß,« sagte Leonardo mit noch gelangweilterem Ausdruck. »Ich weiß, was Ihr damit sagen wollt, Messere. Ich habe schon oft darüber nachgedacht. Aber Ihr irrt.«
»Ich irre?« bemerkte der Alte sarkastisch. Sein ganzes Wesen schien sich mit Gift zu füllen. »Wenn ich mich irre, so erleuchtet uns doch bitte, Messere, und belehrt uns, wie es damit steht.«
»Ach nein ... Ich hatte gar nicht die Absicht ... Ich versichere Euch, ich wollte nur von den Muscheln sprechen ... Also ich glaube ... Mit einem Worte, es gibt weder höhere, noch niedere Wissenschaften, sondern nur eine wirkliche Wissenschaft, die auf Erfahrung fußt.«
»Auf Erfahrung? Gestattet mir die Frage: wie steht es dann mit der Metaphysik eines Aristoteles, Plato, Plotin und aller alten Philosophen und mit ihren Lehren über Gott, Geist und Wesenheit? Ist denn dies alles ...?«
»Gewiß ist dies alles keine Wissenschaft!« erwiderte Leonardo ruhig. »Ich erkenne wohl die Größe der Alten an, aber nicht in diesem Punkte. In der Wissenschaft gingen sie einen falschen Weg. Sie wollten durchaus Dinge erfassen, die dem Wissen unzugänglich sind; dabei haben sie das Zugängliche übersehen. Sie haben sich in ihren Irrgängen verirrt und auch die anderen irrten mit ihnen viele Jahrhunderte lang. Denn wenn Menschen über unbeweisbare Dinge sprechen, so können sie auch nichts einstimmig und endgültig annehmen. Wo es keine vernünftigen Beweise gibt, versucht man sie durch Geschrei zu ersetzen. Wer aber etwas positiv weiß, der braucht nicht zu schreien. Es gibt nur ein Wort der Wahrheit, und wenn es nur einmal ausgesprochen ist, so muß jeder Streit verstummen; wenn aber noch weiter gestritten wird, so bedeutet es, daß man die Wahrheit noch nicht gefunden hat. Streitet man denn in der Mathematik darüber, ob zweimal drei fünf oder sechs sei? Ob die Summe der Winkel im Dreieck zwei rechte Winkel ausmache, oder nicht? Verschwindet denn hier nicht jeder Widerspruch vor der Wahrheit, so daß ihre Diener sie in Frieden genießen können, was bei den vermeintlichen sophistischen Wissenschaften nie der Fall ist? ...«
Er wollte noch etwas hinzufügen, als er aber seinen Gegner anblickte, verstummte er.
»So weit sind wir jetzt, Messer Leonardo!« sagte der Doktor der Scholastik noch giftiger. »Ich wußte, übrigens, im voraus, daß wir uns ausgezeichnet verstehen werden. Eines kann ich nur nicht begreifen – Ihr müßt es mir altem Mann nicht übel nehmen – ist es denn wirklich so, wie Ihr sagt? Ist denn unser ganzes Wissen von der Seele, von Gott und von dem Leben nach dem Tode, also das Wissen, welches keinen natürlichen Versuchen unterliegt, und, wie Ihr Euch ausgedrückt habt, ›unbeweisbar‹ ist, aber dennoch in der heiligen Schrift unumstößliche Bestätigung findet ...?«
»Das wollte ich gar nicht behaupten,« unterbrach ihn Leonardo mit finsterer Miene. »Ich will hier die göttlichen Bücher unberührt lassen, denn sie sind das höchste Wissen ...«
Man ließ ihn nicht ausreden. Es entstand eine allgemeine Verwirrung. Die einen schrieen, die andern lachten, viele sprangen auf und warfen ihm drohende Blicke zu, andere wieder wandten sich von ihm mit Verachtung ab.
»Genug! Genug! – Laßt mich doch, Messere, ich will ihm antworten! – Da gibt es nichts zu antworten! – Unsinn! – Ich bitte ums Wort! – Plato und Aristoteles! – Die ganze Sache ist keinen roten Heller wert! – Wie erlaubt man nur so etwas? – Die Wahrheiten unserer heiligen Mutter Kirche!– Ketzerei! Ketzerei! Gottlosigkeit! ...«
Leonardo schwieg, sein Gesicht drückte Ruhe und Wehmut aus. Er sah sich einsam unter diesen Menschen, die sich für Diener der Wissenschaft hielten; er sah den unüberbrückbaren Abgrund, der ihn von ihnen trennte und er ärgerte sich, nicht über seine Gegner, sondern über sich selbst, weil er nicht rechtzeitig geschwiegen und dem Streite ausgewichen war; weil er sich wieder, trotz seiner Erfahrungen, von der Ansicht hatte leiten lassen, es genüge den Menschen die Wahrheit zu zeigen, damit sie sie auch annehmen.
Der Herzog, die Höflinge und die Damen verfolgten den Streit mit großem Genuß und Interesse, obwohl sie längst nichts mehr davon verstanden.
»Wunderbar!« rief der Herzog, sich die Hände reibend: »Es ist wie eine wirkliche Schlacht! Seht nur hin, Madonna Cecilia, gleich geraten sie sich in die Haare! Seht den Greis da an, wie er aus der Haut fährt: er zittert, droht mit den Fäusten, jetzt hat er seinen Hut ergriffen und fuchtelt mit ihm herum. Und der Schwarze, der Schwarze, der hinter ihm sitzt! Dem steht schon Schaum vor dem Munde! Und wenn man nur bedenkt, daß der ganze Streit sich um irgendwelche versteinerte Muscheln dreht! Ein merkwürdiges Volk sind diese Gelehrten! Man hat seine liebe Not mit ihnen! Und erst unser Leonardo! Der sich sonst so still und sanft verhält! ...«
Alle lachten und vergnügten sich an diesem Gelehrtenwettstreit wie an einem Hahnenkampf.
»Jetzt muß ich meinen Leonardo retten,« sagte der Herzog, »sonst machen ihm diese Rotmützen den Garaus! ...«
Er trat unter die erbitterten Gegner. Alle verstummten und wichen vor ihm zurück, als hätte sich beruhigendes Öl in eine stürmische Flut ergossen: ein einziges Lächeln Moros vermochte Physik mit Metaphysik zu versöhnen.
Er lud die Gäste zur Abendtafel und bemerkte liebenswürdig: »Nun, Signori, Ihr habt gestritten und euch erhitzt; jetzt ist's genug! Man muß sich auch stärken. Ich bitte! Ich hoffe, daß meine gekochten Tiere aus der Adria, die Gott sei Dank noch nicht ausgetrocknet ist, weniger Streit erregen werden, als die versteinerten Tiere des Messer Leonardo.«
Bei der Abendtafel flüsterte Luca Paccioli, der Leonardos Tischnachbar war, diesem ins Ohr:
»Zürnt mir nicht, mein Freund, weil ich geschwiegen habe, als sie über Euch herfielen. Sie hatten Euch mißverstanden und doch könntet Ihr mit ihnen eine Einigung erzielen, denn das eine hindert das andere nicht. Man soll eben nicht gleich ins Extreme gehen, denn alles läßt sich in Einklang bringen und versöhnen ...«
»Ich bin mit Euch vollkommen einverstanden, Fra Luca,« sagte Leonardo.
»Also seht Ihr! So ist es auch besser. Man soll immer in Eintracht leben. Denn wozu dieser Streit? Gut ist die Metaphysik, gut ist auch die Mathematik. Alle finden Platz. Wir lassen Euch in Ruhe und Ihr – uns. Nicht wahr, Freund?«
»Ganz richtig, Fra Luca.«
»Das ist ja schön! Es soll, folglich, keinerlei Mißverständnisse geben, wir lassen Euch in Ruhe und Ihr uns ...«
»Ein freundliches Kalb saugt bei zwei Müttern,« dachte sich der Künstler und musterte das schlaue Gesicht des Mönches und Mathematikers, der blitzschnelle Mausaugen hatte und Pythagoras mit Thomas von Aquino zu versöhnen wußte.
»Auf Euer Wohl, Meister!« sagte mit dem Ausdrucke eines Mitwissenden sein anderer Tischnachbar, der Alchimist Galeotto Sacrobosco, den Becher erhebend. »Schön habt Ihr sie, der Teufel mag sie holen, bei der Nase herumgeführt! Was für eine feine Allegorie das war!«
»Was für eine Allegorie?« »So, jetzt fangt Ihr wieder an! Es ist nicht schön, Messere! Ich glaube, daß Ihr Euch vor mir nicht zu verstellen braucht. Wir sind ja, Gott sei Dank, beide Eingeweihte! Wir werden uns doch gegenseitig nie verraten ...«
Der Alte zwinkerte schlau mit den Augen.
»Ihr fragt, was es für eine Allegorie war? Das will ich Euch sagen: die Erde bedeutet Schwefel, die Sonne – Salz, die Wellen des Ozeans, die einst die Bergspitzen bedeckten, – das Quecksilber, die lebende Flüssigkeit des Merkurs. Was sagt Ihr nun dazu? Habe ich denn nicht recht?«
»Gewiß, Messer Galeotto, habt Ihr recht!« erwiderte Leonardo lachend. »Ihr habt meine Allegorie wunderbar erfaßt.«
»Ich habe sie also erfaßt? Folglich bin auch ich nicht auf den Kopf gefallen. Die versteinerten Muscheln bedeuten aber das größte Geheimnis der Alchimisten – den Stein der Weisen, der aus der Verbindung von Sonne – Salz, Erde – Schwefel und Wasser – Merkur entsteht. Es ist die göttliche Verwandlung der Metalle!«
Er hob seinen Zeigefinger, bewegte seine dünnen, vom Feuer des alchimistischen Ofens versengten Augenbrauen und brach in ein gutmütiges und kindlich-einfältiges Lachen aus.
»Aber unsere Gelehrten mit den roten Mützen haben nichts verstanden! Wollen wir auf Euer Wohl trinken, Messer Leonardo, und auf das Gedeihen unserer Mutter Alchimie!«
»Gerne, Messer Galeotto! Jetzt sehe ich wirklich ein, daß man vor Euch nichts verheimlichen kann, und ich gebe mein Wort, daß ich mich vor Euch nie wieder verstellen werde!«
Nach dem Abendessen nahmen die Gäste Abschied. Der Herzog hielt aber einige Auserwählte zurück und lud sie in ein kühles, behagliches Gemach, wohin er Wein und Früchte bringen ließ.
»Wie herrlich es doch war!« schwärmte Donsella Ermellina. »Ich hätte nie geglaubt, daß es so amüsant werden könnte. Ich muß gestehen, daß ich etwas höchst Langweiliges erwartet hatte. Nun war es aber schöner als jeder Ball! Ich würde gerne jeden Tag solchen gelehrten Wettstreiten beiwohnen. Wie sie über den Leonardo herfielen, wie sie ihn angeschrien haben! Es ist zu schade, daß sie ihn nicht ausreden ließen. Es wäre doch so schön gewesen, wenn er uns noch etwas von seiner Magie oder Nekromantie erzählt hätte ...«
»Ich weiß nicht, ob es wahr ist, – vielleicht ist es nur ein leeres Geschwätz,« sagte ein alter Würdenträger: »daß Leonardo sich in seinem Geiste so ketzerische Gedanken bilde, daß er auch an Gott nicht glaubt. Er hat sich ganz den Naturwissenschaften ergeben und soll der Ansicht sein, daß es besser sei, ein Philosoph, als ein Christ zu sein ...«
»Unsinn!« unterbrach ihn der Herzog. »Ich kenne ihn gut. Er hat ein goldenes Herz. Nur wenn er spricht, ist er ein solcher Held, in der Tat tut er auch einem Floh nichts zu leid. Man sagt, er sei ein gefährlicher Mensch. Da haben sie den richtigen getroffen. Sich vor dem zu fürchten! Die Patres Inquisitoren mögen schreien so viel sie wollen, aber meinen Leonardo lasse ich nicht antasten!«
»Auch die Nachwelt,« sagte mit ehrfurchtsvoller Verbeugung Baltasare Castiglione, ein eleganter Würdenträger des Hofes von Urbino, der nach Mailand zum Besuche gekommen war. »Auch die Nachwelt wird Ew. Hoheit für die Erhaltung eines so ungewöhnlichen, man darf wohl sagen, einzig in der Welt dastehenden Künstlers dankbar sein. Es ist aber doch schade, daß er die Kunst vernachlässigt und seinen Geist mit so sonderbaren Phantasien und so ungeheuerlichen Chimären nährt ...«
»Ihr habt recht, Messer Baltasare,« sagte Moro. »Wie oft habe ich ihm schon gesagt: laß deine Philosophie! Ihr wißt aber wohl, was für Menschen diese Künstler sind. Man kann mit ihnen nichts machen. Man darf von ihnen auch nichts verlangen. Es sind Sonderlinge!«
»Ew. Durchlaucht geruhten sich ganz richtig auszudrücken!« fiel ein anderer Würdenträger ein – der Hauptkommissar der Salzzölle, der schon längst etwas über Leonardo zum besten geben wollte. »Es sind wirklich Sonderlinge! Die hecken manchmal so etwas aus, daß man nur so staunt. Ich komme neulich in seine Werkstatt, um bei ihm eine allegorische Zeichnung zu einer Hochzeitstruhe zu bestellen. Ich frage: ›Ist der Meister zu Hause?‹ – ›Nein‹, sagt man mir, ›er ist sehr beschäftigt und nimmt keine Aufträge an‹. – ›womit‹, frage ich, ›ist er denn so beschäftigt?‹ – ›Er will das Gewicht der Luft messen‹. Ich glaubte, sie machten sich über mich lustig, später treffe ich Leonardo selbst und frage ihn: ›Ist es wahr, Messere, daß Ihr das Gewicht der Luft meßt?‹ – ›Ja‹, sagt er, ›es ist wahr!‹ und sieht mich dabei wie einen Narren an. Das Gewicht der Luft! Wie gefällt es Euch, Madonnen? Wieviel Pfund und Gran mag wohl ein Lenzlüftchen wiegen?! ...« »Das ist noch gar nichts!« bemerkte ein junger Cameriere mit einem genügend dummen und selbstzufriedenen Gesicht. »Ich habe gehört, er hätte ein Boot erfunden, das ohne Ruder gegen die Strömung fahren kann!«
»Ohne Ruder? Ganz von selbst?«
»Ja, auf Rädern und durch Dampfkraft.«
»Ein Boot auf Rädern! Das habt Ihr wohl eben selbst erfunden ...«
»Ich kann Euch mein Ehrenwort geben, Madonna Cecilia, daß ich es von Fra Luca Paccioli gehört habe und dieser hat die Zeichnung der Maschine gesehen. Leonardo glaubt, daß dem Dampfe eine solche Kraft innewohne, daß man mit ihm nicht nur Boote, sondern auch ganze Schiffe fortbewegen könne.«
»Also Ihr seht, ich habe ja davon gesprochen! Hier steckt ja seine schwarze Magie und Nekromantie!« rief Donsella Ermellina aus.
»Ja, das muß ich schon zugeben, daß er ein merkwürdiger Kauz ist!« schloß der Herzog mit gutmütigem Lächeln. »Und doch liebe ich ihn von Herzen: denn er ist ein lustiger Geselle und nie langweilt er einen!«
Leonardo ging durch eine stille Straße der Vercellina-Vorstadt seinem Hause zu. Am Rande der Straße weideten Ziegen. Ein von der Sonne gebräunter Junge in zerfetzter Kleidung trieb mit einem Stecken eine Gänseherde. Der Abend war heiter. Nur im Norden türmten sich über den unsichtbaren Alpen schwere, gleichsam steinerne, goldumrandete Wolken und unter ihnen leuchtete auf dem blassen Himmel ein einsamer Stern.
Leonardo dachte an die beiden Wettkämpfe, deren Zeuge er gewesen war – an den des Wunders in Florenz und den des Wissens in Mailand –; sie erschienen ihm verschieden und zugleich einander ähnlich, wie Doppelgänger.
Auf einer Steintreppe, die an der Außenwand eines alten Häuschens klebte, saß ein etwa sechsjähriges Mädchen und aß einen Kuchen aus Roggenmehl mit gebackenen Zwiebeln.
Er blieb stehen und winkte das Kind zu sich heran. Sie blickte ihn ängstlich an. Aber sein Lächeln flößte ihr wohl Vertrauen ein; sie lächelte ihm ebenfalls zu und stieg mit ihren nackten braunen Füßen, die mit Küchenabfällen, Eier- und Krebsschalen bedeckten Stufen hinunter. Er holte aus seiner Tasche eine sorgfältig in Papier gewickelte, vergoldete und verzuckerte Pomeranze, wie solche bei Hofe gereicht wurden. Er pflegte sich oft solche Leckereien einzustecken, um sie später bei seinen Spaziergängen an Straßenkinder zu verschenken.
»Er ist aus Gold!« flüsterte das Mädchen. »Ein goldener Ball!«
»Es ist kein Ball, sondern ein Apfel. Versuch ihn nur: innen ist er süß.«
Das Mädchen konnte sich nicht entschließen hineinzubeißen. Es betrachtete die ihr ganz fremde Leckerei mit stummem Entzücken.
»Wie heißt du?« fragte Leonardo.
»Maja.«
»Maja, kennst du die Geschichte vom Hahn, vom Ziegenbock und vom Esel, die Fische fangen wollten?«
»Nein.«
»Soll ich sie dir erzählen?«
Er streichelte mit seiner zarten, langen und feinen Hand, die wie die Hand eines jungen Mädchens war, ihr weiches, zerzaustes Haar.
»Also komm, wollen wir uns setzen. Halt, ich habe auch Anisplätzchen; denn ich glaube, Maja, daß du den goldenen Apfel gar nicht magst.«
Er begann in seinen Taschen zu suchen.
Aus dem Hause schaute eine junge Frau heraus. Sie sah Maja mit Leonardo stehen, nickte ihnen freundlich zu und setzte sich an ihren Spinnrocken.
Etwas später kam aus dem Hause eine alte gebeugte Frau. Sie hatte die gleichen klaren Augen wie Maja und war wohl ihre Großmutter.
Auch sie blickte Leonardo an; als sie ihn erkannte, schlug sie die Hände zusammen, beugte sich dann zur Spinnerin und sagte ihr etwas ins Ohr. Diese sprang auf und rief:
»Maja, Maja, komm schnell her!«
Das Mädchen zögerte.
»Komm sofort her, du Taugenichts! Oder ich werde dich ...«
Maja lief erschrocken die Treppe hinauf. Die Großmutter entriß ihr den goldenen Apfel und warf ihn über die Mauer in einen Nachbarhof, wo Schweine grunzten. Das Mädchen brach in Tränen aus. Die Alte flüsterte ihr aber etwas zu, wobei sie auf Leonardo wies. Maja wurde sofort still und richtete auf ihn ihre weit aufgerissenen erschrockenen Äugen.
Leonardo wandte sich ab und ging stumm und mit gesenktem Kopf von dannen.
Er begriff, daß die Alte, die sein Gesicht kannte und wohl von jemandem gehört hatte, daß er ein Zauberer sei, nun Angst habe, daß er Maja mit einem bösen Blick bezaubern könne.
Er lief fluchtartig davon und war so verwirrt, daß er noch immer in seiner Tasche nach den nun unnötigen Anisplätzchen suchte. Er lächelte zerstreut und verlegen.
Vor diesen erschrockenen unschuldigen Kinderaugen fühlte er sich einsamer, als vor dem Volkshaufen, der ihn als einen Gottlosen erschlagen wollte, als vor den Gelehrten, die seine Wahrheiten wie das Lallen eines Irrsinnigen verlacht hatten. Er fühlte sich den Menschen ebenso fremd, wie der einsame Abendstern im hoffnungslos-klaren Himmel.
Nach Hause zurückgekehrt, begab er sich in sein Arbeitszimmer. Es erschien ihm mit den verstaubten Büchern und wissenschaftlichen Instrumenten finster wie eine Gefängniszelle. Er setzte sich an den Tisch, zündete eine Kerze an, nahm eines seiner Hefte vor und vertiefte sich in die von ihm längst begonnene Untersuchung über die Bewegung von Körpern auf der schiefen Ebene.
Die Mathematik wirkte auf ihn ebenso beruhigend wie die Musik. Auch an diesem Abend gab sie ihm die wohlbekannte selige Ruhe.
Als er mit den Berechnungen fertig war, holte er aus einem Geheimfach seines Tisches sein Tagebuch hervor und schrieb darin mit der linken Hand in verkehrter Schrift, die man nur im Spiegel lesen konnte, jene Gedanken nieder, die ihm nach dem Gelehrtenwettstreit gekommen waren:
»Die Schriftgelehrten und Literaten, die Schüler des Aristoteles, diese Krähen in Pfauenfedern und Verkünder und Nachahmer fremder Werke – verachten mich, den Erfinder. Ich könnte ihnen aber mit den Worten antworten, die Marius zu den römischen Patriziern sprach: Ihr schmückt euch mit fremden Werken und wollt mir die Früchte meiner eigenen nicht lassen.«
»Zwischen einem Naturforscher und einem Nachahmer der Alten besteht der gleiche Unterschied, wie zwischen einem Gegenstand und seinem Bilde im Spiegel.«
»Sie glauben, daß ich nicht das Recht habe, über Wissenschaft zu sprechen und zu schreiben, weil ich nicht ein Literat wie sie bin und folglich meine Gedanken nicht richtig ausdrücken kann. Sie wissen aber nicht, daß meine Kraft nicht in den Worten ist, sondern in der Erfahrung, der Lehrmeisterin aller, die gut geschrieben haben.«
»Ich will nicht und kann mich nicht auf die Bücher der Alten stützen, wie sie es tun; daher stütze ich mich auf die Erfahrung, die Lehrerin aller Lehrer, die wahrer ist als alle Bücher.«
Die Kerze brannte trüb. Der Kater, der einzige Freund seiner schlaflosen Nächte, sprang auf den Tisch und schmeichelte sich gleichgültig schnurrend an ihn heran. Der einsame Stern schien durch das verstaubte Fensterglas noch ferner, noch hoffnungsloser. Er blickte ihn an und dachte wieder an die auf ihn gerichteten, entsetzten Augen Majas, doch ohne Wehmut: er war wieder klar und fest in seiner Einsamkeit.
Und nur im tiefsten Grunde seiner Seele, der ihm selbst unbekannt war, sprudelte wie ein heißer Quell unter der Eisdecke eines zugefrorenen Stromes – eine unergründliche Wehmut, gleichsam ein Schuldbewußtsein: er fühlte sich wirklich vor Maja schuldig; er wollte und konnte sich nicht verzeihen.
Am nächsten Morgen wollte Leonardo ins Kloster delle Grazie gehen, um die Arbeit am Antlitze Christi wieder aufzunehmen.
Der Mechaniker Astro erwartete ihn an der Haustüre mit den Heften, Pinseln und Farbenkasten. Als der Künstler in den Hof trat, sah er, wie der Stallknecht Nastagio unter einem Schutzdache eine graue Apfelschimmelstute putzte.
»Wie geht es dem Giannino?« fragte Leonardo.
So hieß eines seiner Lieblingspferde.
»Gut,« erwiderte der Stallknecht nachlässig. »Aber der Schecke hinkt.«
»Der Schecke!« sagte Leonardo geärgert. »Seit wann?«
»Seit vier Tagen.«
Nastagio blickte seinen Herrn nicht an und bearbeitete schweigend und verdrossen die Flanken des Pferdes mit solcher Wucht, daß das Tier unruhig tänzelte.
Leonardo wollte den Schecken sehen. Nastagio führte ihn in den Stall.
Als Giovanni Beltraffio in den Hof trat, um sich am Brunnen mit kaltem Wasser zu waschen, hörte er jene gellende durchdringende beinahe weibische Stimme, mit der Leonardo in den Anfällen seines plötzlichen, heftigen, doch ganz ungefährlichen Zorns zuweilen schrie:
»Du Dummkopf, besoffener Kerl, wer hat dich denn gebeten, die Pferde vom Roßarzt behandeln zu lassen?«
»Aber Messere, ein krankes Pferd muß man doch kurieren?!«
»Kurieren! Glaubst du, Esel, daß diese stinkige Salbe was nützt?«
»Es ist nicht die Salbe, sondern es gibt eine Formel zum Besprechen. – Ihr versteht nichts von dieser Sache und darum zürnt Ihr so ...«
»Geh zum Teufel mit deinen Besprechungen! Wie kann denn dieser ungebildete Schinder kurieren, wenn er von Körperbau und Anatomie keinen Dunst hat?«
Nastagio hob seine satten faulen Augen, blickte seinen Herrn mürrisch an und sagte mit dem Ausdrucke unendlicher Verachtung:
»Ja, die Anatomie!«
»Schurke! Fort, fort aus meinem Hause!«
Der Stallknecht zuckte mit keiner Wimper. Er wußte aus langer Erfahrung, daß, sobald der plötzliche Zorn seines Herrn verpufft, er ihn flehentlich bitten wird, zu bleiben, denn er schätzte Nastagio als großen Pferdeliebhaber und Kenner.
»Ich wollte schon längst um Entlassung bitten!« sagte Nastagio. »Ew. Gnaden schulden mir noch den Lohn für drei Monate. Was aber das Heu betrifft, so ist es nicht meine Schuld. Marco gibt kein Geld her, um Hafer zu kaufen.«
»Was ist das nun wieder? Wie untersteht er sich, kein Geld zu geben, wenn ich es befohlen habe?«
Der Stallknecht zuckte mit den Achseln und kehrte Leonardo den Rücken, um ihm zu zeigen, daß er mit ihm nicht weiter reden wolle. Er räusperte sich und begann wieder das Pferd zu striegeln, als wolle er an ihm seinen Ärger auslassen.
Giovanni hörte mit lustigem Lächeln interessiert zu und rieb sich sein vom kalten Wasser gerötetes Gesicht mit einem Handtuch.
»Nun, Meister? Wollen wir vielleicht gehen?« fragte Astro, des Wartens überdrüssig.
»Warte noch,« erwiderte Leonardo, »ich muß noch den Marco wegen des Hafers fragen und feststellen, ob dieser Schurke die Wahrheit spricht.«
Er ging ins Haus. Giovanni folgte ihm.
Marco arbeitete in der Werkstatt. Die Vorschriften des Meisters mit der ihm eigenen Genauigkeit befolgend, schöpfte er die schwarze Farbe für die Schatten mit einem winzigen Löffelchen aus Blei, wobei er noch in einen mit Zahlen vollgeschriebenen Zettel hineinguckte. Auf seiner Stirne standen Schweißtropfen, die Adern auf seinem Halse schwollen an. Er atmete schwer, als müsse er einen schweren Stein auf einen Berg hinaufrollen. Seine fest zusammengepreßten Lippen, der gekrümmte Rücken, der sich eigensinnig sträubende rote Haarschopf und die roten Hände mit den krummen dicken Fingern schienen zu sagen: »Mit Geduld und Spucke fängt man eine Mucke.«
»Messer Leonardo, Ihr seid noch nicht fort? Wollt Ihr mir nicht diese Rechnung nachprüfen? Ich glaube, ich habe da einen Fehler gemacht ...«
»Gut, Marco, später. Jetzt wollte ich dich aber fragen: ist es wahr, daß du kein Geld hergibst, um für die Pferde Hafer zu kaufen?«
»Ich gebe keines her.«
»Wieso denn, mein Freund? Ich habe dir ja gesagt, –« fuhr der Künstler fort, seinen strengen Hausverwalter immer schüchterner und ängstlicher anblickend. »Ich habe dir ja gesagt, Marco, daß du unbedingt Geld für den Hafer hergeben sollst, hast du es denn vergessen?«
»Nein. Aber wir haben kein Geld.«
»So, so! Ich konnte es mir denken – wir haben also wieder kein Geld? Ich bitte dich, Marco, überlege es dir selbst: können denn die Pferde ohne Hafer bleiben?«
Marco erwiderte nichts und warf wütend seinen Pinsel fort.
Giovanni beobachtete, wie sich ihre Gesichtsausdrücke veränderten: jetzt glich der Meister einem Schüler und der Schüler einem Meister.
»Hört, Meister!« sagte Marco. »Ihr habt mich selbst ersucht, die Wirtschaft zu übernehmen und Euch mit den Haushaltssorgen nicht zu belästigen, warum fangt Ihr nun wieder an?«
»Marco!« rief Leonardo vorwurfsvoll. »Marco, ich habe dir noch in der vergangenen Woche dreißig Florins gegeben!..«
»Dreißig Florins! Rechnet nun davon, gefälligst, vier Florins ab, die wir Paccioli schuldeten, dann zwei – für den zudringlichen Bettler Galeotto Sacrobosco, fünf – für den Henker, der Euch für Eure Anatomie Leichen vom Galgen stiehlt, drei – kostete die Reparatur der Öfen und Fenster im Warmhause, wo Ihr Eure Kröten und Fische haltet, und ganze sechs goldene Dukaten – der gestreifte Teufel ...«
»Du meinst wohl die Giraffe?«
»Ja, die Giraffe, wir haben selbst nichts zu essen und füttern noch dies verdammte Vieh! Ihr könnt mit ihr anfangen, was Ihr wollt, sie wird doch krepieren!«
»Das macht nichts, Marco! Mag sie krepieren,« erwiderte Leonardo mild: »ich werde sie sezieren: sie hat höchst interessante Halswirbel ...«
»Ja, die Halswirbel! Ach Meister, Meister, wenn nicht alle Eure Liebhabereien – Pferde, Leichen, Giraffen, Fische und Gott weiß was wären, wie herrlich könnten wir dann leben, ohne vor jemand den Rücken beugen zu müssen! Ist denn ein Stück tägliches Brot nicht besser?«
»Das tägliche Brot? Verlange ich denn für mich etwas anderes, als ein Stück tägliches Brot? Ich weiß, übrigens, Marco, daß du sehr froh wärest, wenn alle meine Tiere, die ich mir mit solcher Mühe und um so teures Geld anschaffe und die ich so notwendig brauche, krepieren würden. Du willst durchaus deinen Willen durchsetzen! ...«
Die Stimme des Meisters klang hilflos und beleidigt.
Marco schwieg finster mit niedergeschlagenen Augen.
»Wie soll es nun werden?« fragte Leonardo. – »Ich frage, was nun mit uns geschehen soll? Wir haben keinen Hafer. Es ist doch kein Spaß! So weit sind mir jetzt. Wir haben noch nie so etwas erlebt! ...«
»Es war immer so und wird auch immer so bleiben,« entgegnete Marco, »Was wollt Ihr denn? Es ist ja mehr als ein Jahr, daß wir vom Herzog keinen Heller bekommen haben, Ambrogio Ferrari vertröstet Euch immer auf morgen; immer heißt es bei ihm – morgen. Er macht sich offenbar nur lustig ...«
»Er macht sich lustig!« rief Leonardo, »Warte nur, ich will ihm schon zeigen, was es heißt, sich über mich lustig zu machen! Ich werde mich beim Herzog beschweren, da wird er was erleben! Mit diesem Schurken Ambrogio werde ich schon fertig werden, daß ihm der Herr böse Ostern beschert! ...«
Marco machte nur eine stumme Handbewegung, mit der er wohl sagen wollte, daß, wenn schon jemand mit dem herzoglichen Schatzmeister fertig werden könne, so jedenfalls nicht Leonardo.
»Laßt es, Meister, laßt!« sagte Marco, und plötzlich ging durch seine harten, eckigen Gesichtszüge ein gutmütiges, zärtliches, gönnerhaftes Lächeln. »Der Herr ist ja gnädig, wir werden schon irgendwie durchkommen, wenn Ihr es unbedingt wollt, so richte ich es, vielleicht, so ein, daß es auch zum Hafer langt ...«
Er wußte, daß er ihn von seinem eigenen Geld, daß er sonst seiner kranken alten Mutter zu schicken pflegte, werde bezahlen müssen.
»Der Hafer allein macht es nicht!« rief Leonardo und sank erschöpft in einen Stuhl.
Seine Augen blinzelten, die Lider zuckten wie bei starkem, kaltem Wind.
»Hör einmal, Marco. Ich muß dir noch etwas sagen. Im nächsten Monat muß ich unbedingt achtzig Dukaten haben, denn, siehst du, ich muß eine Schuld begleichen ... schau mich nur nicht mit solchen Augen an ...«
»Wem schuldet Ihr sie?«
»Dem Geldwechsler Arnoldo.«
Marco schlug verzweifelt die Hände zusammen, sein roter Schopf zitterte.
»Dem Geldwechsler Arnoldo! Nun, ich muß Euch gratulieren, das war vernünftig gehandelt! Wißt Ihr denn nicht, daß er eine Bestie ist, viel ärger als ein Jude oder Maure?! Der ist gar kein Christenmensch. Meister, Meister, was habt Ihr nun wieder angestellt! Warum habt Ihr mir nichts davon gesagt? ...«
Leonardo ließ seinen Kopf sinken.
»Ja, Marco, ich brauchte dringend Geld, Du sollst mir nicht böse sein ...«
Er schwieg eine Weile, dann fügte er ängstlich und schüchtern hinzu:
»Bring einmal die Rechnungen her, Marco, vielleicht finden wir noch einen Ausweg? ...«
Marco war zwar überzeugt, daß sie keinen Ausweg finden würden; da man aber den Meister auf keine andere Weise beruhigen konnte, als daß man seine plötzliche vorübergehende Erregung sich ganz austoben ließ, holte er gehorsam die Rechnungen.
Als Leonardo sie von weitem sah, verzog er jämmerlich sein Gesicht. Er sah das ihm bekannte dicke Buch im grünen Einband mit jenem Blick an, mit dem der Mensch eine klaffende Wunde am eigenen Körper anblickt.
Er vertiefte sich in die Rechnungen, bei denen er, der große Mathematiker, oft Additions- und Subtraktionsfehler machte. Zuweilen fiel ihm irgend eine abhanden gekommene Rechnung über einige tausend Dukaten ein und er begann seine Schatullen, Kisten und staubigen Papierberge zu durchstöbern; dabei fand er aber nur ganz unnötige, von ihm eigenhändig und sorgfältig abgeschriebene Rechnungen, über lächerlich geringe Beträge, so z.B. eine über Salainos Mantel:
Silberbrokat | 15 Lire | 4 Soldi |
Roten Samt zum Besatz | 9 Soldi | |
Schnüre | 9 Soldi | |
Knöpfe | 12 Soldi |
Er zerriß wütend die Zettel und warf die Fetzen schimpfend unter den Tisch.
Giovanni beobachtete den Ausdruck menschlicher Schwäche im Gesichte des Meisters. Die Worte eines der Verehrer Leonardos fielen ihm ein: »Der neue Gott Hermes Trismegistos hat sich in ihm mit dem neuen Titanen Prometheus verbunden.«
»Hier steht er – weder Gott, noch Titan,« dachte er lächelnd, »sondern ein Mensch wie alle. Warum hatte ich nur solche Angst vor ihm? O, der Arme, Liebe!«
Nach zwei Tagen geschah alles so, wie es Marco vorausgesehen: Leonardo vergaß die Geldsorgen, als hätte er nie an sie gedacht. Schon am nächsten Tag bat er Marco um drei Florins zum Ankauf einer vorsintflutlichen Versteinerung – er tat es so sorglos, daß Marco nicht den Mut hatte, ihn durch eine Absage zu betrüben, und ihm die drei Florins vom eigenen Geld, das für seine Mutter bestimmt war, gab.
Der Schatzmeister hatte ihm trotz der Bitten Leonardos sein Gehalt noch nicht ausgezahlt: der Herzog brauchte zu jener Zeit selbst Geld zu den großen Rüstungen gegen Frankreich.
Leonardo borgte bei jedem, bei dem er nur borgen konnte, selbst bei seinen eigenen Schülern.
Der Herzog ließ ihn nicht einmal das Sforzadenkmal vollenden. Das Tonmodell, die Gußform mit dem Eisengerippe und die Schmelzöfen – alles war fertig. Als aber der Künstler den Kostenanschlag über die Bronze einreichte, – geriet Moro außer sich und weigerte sich sogar, ihn zu empfangen.
Ende November 1498 schrieb er, von der Not zum Äußersten gebracht, dem Herzog einen Brief. In Leonardos Papieren befindet sich ein Entwurf zu diesem Brief; er besteht aus abgerissenen und verworrenen Sätzen und gleicht dem verschämten Lallen eines Menschen, der nicht zu betteln versteht:
»Signore, ich weiß zwar, daß der Geist Ew. Hoheit von wichtigeren Dingen in Anspruch genommen ist, aber da ich durch mein Schweigen den Zorn meines gnädigsten Gönners heraufzubeschwören fürchte, wage ich es, Euch meine kleinen Nöte und die zum Stillstand Verurteilten Künste in Erinnerung zu bringen ...«
» ... seit zwei Jahren bekam ich kein Gehalt ausgezahlt ...«
» ... Die anderen Leute, die im Dienste Ew. Durchlaucht stehen, haben Nebeneinkünfte und können warten; aber ich, mit meiner Kunst, die ich gerne mit etwas Besserem vertauschen würde ...«
» ... Hoheit können über mein Leben verfügen und ich bin stets bereit, jedem Befehle nachzukommen ...«
» ... vom Denkmal will ich gar nicht sprechen, denn ich kenne die Zeiten ...«
» ... Es ist mir sehr peinlich, daß ich der Nahrungssorgen wegen meine Arbeit unterbrechen und mich mit Bagatellen abgeben muß. Ich mußte sechs Menschen 56 Monate lang ernähren und hatte nur 50 Dukaten ...«
» ... Ich weiß gar nicht, wie ich meine Kräfte anwenden soll ...«
» ... Soll ich an Ruhm denken, oder an das tägliche Brot? ...«
An einem Novemberabend kam Leonardo ganz erschöpft nach Hause; er lief den ganzen Tag in Geschäften herum, er hatte den freigebigen Würdenträger Gaspare Visconti besucht, dann mit dem Geldwechsler Arnoldo und mit dem Scharfrichter unterhandelt, der von ihm Bezahlung für zwei gelieferte Leichen schwangerer Frauen forderte und mit einer Anzeige bei der Heiligsten Inquisition drohte. Er ging zuerst in die Küche, um seine Kleider zu trocknen. Dann ließ er sich von Astro den Schlüssel geben und wollte in sein Arbeitszimmer gehen; vor der Türe aber blieb er stehen, da er im Zimmer jemand sprechen hörte.
»Die Türe ist verschlossen,« dachte er sich. – »Was ist es nun? Sind es vielleicht Diebe?«
Er erkannte die Stimmen seiner Schüler Giovanni und Cesare, und erriet, daß sie seine geheimen Papiere durchstöberten, die er nie und niemandem zeigte. Er wollte schon die Türe aufmachen; er stellte sich aber vor, mit welchen Augen sie ihn ansehen würden, wenn er sie ertappte. Er schämte sich für sie. Auf den Zehen schlich er sich, ganz rot, als ob er der Schuldige wäre, davon. Er ging an das andere Ende der Werkstatt und rief mit unnatürlich lauter Stimme, so daß es die Schüler unbedingt hören mußten:
»Astro! Astro! Bring, eine Kerze her! Wo steckt ihr denn alle? Andrea, Marco, Giovanni, Cesare!«
Die Stimmen im Arbeitszimmer verstummten. Dann klirrte etwas, als ob ein Glas zerschlagen würde; ein Fensterrahmen wurde zugeschlagen. Er horchte noch immer und konnte sich nicht entschließen, einzutreten. Er spürte weder Zorn, noch Erbitterung, sondern nichts als Ekel und Langeweile.
Er hatte sich nicht geirrt: Giovanni und Cesare waren ins Zimmer durch ein Fenster von der Hofseite eingedrungen, hatten die Fächer seines Arbeitstisches durchstöbert und sich über seine geheimen Papiere, Zeichnungen und Tagebücher gemacht.
Beltraffio, der ganz blaß war, hielt einen Spiegel. Cesare las über ihn gebeugt das Spiegelbild von Leonardos verkehrter Schrift:
»Laude del Sol« – »Lob der Sonne«.
»Ich kann Epikur nicht den Vorwurf ersparen, behauptet zu haben, die Sonne sei in Wirklichkeit nur so groß, wie sie uns erscheine; ich begreife auch Sokrates nicht, der dieses große Gestirn beleidigte, indem er es einen glühenden Stein nannte. Ich wollte, ich hätte genügend starke Worte, um jene zu tadeln, die der Anbetung der Sonne – die Anbetung eines Menschen vorziehen ...«
»Soll ich noch weiter lesen?« fragte Cesare.
»Ich bitte dich, lies alles bis zu Ende!« sagte Giovanni.
»Diejenigen, die Götter in menschlicher Gestalt anbeten,« las Cesare weiter, »sind in großem Irrtum, denn wenn ein Mensch auch die Größe der Erdkugel hätte, so wäre er noch immer kleiner als der kleinste Planet, als der winzigste Punkt im Weltall. Außerdem unterliegen alle Menschen der Verwesung ...«
»Wie sonderbar!« wunderte sich Cesare: »Wie ist es nun? Die Sonne betet er an, und Den, der durch seinen Tod den Tod besiegt hat, scheint er gar nicht zu kennen! ...«
Er wendete das Blatt.
»Hier kommt noch etwas, paß nur auf!«
»An allen Enden Europas wird man den Tod eines in Asien gestorbenen Menschen beweinen.«
»Verstehst du das?«
»Nein,« flüsterte Giovanni.
»Es ist der Karfreitag,« erklärte Cesare.
»O ihr Mathematiker!« las er weiter: »Macht doch diesem Wahnsinn ein Ende. Der Geist kann nicht ohne Körper bestehen und wo es kein Fleisch und Blut, keine Zunge, keine Knochen und Muskeln gibt, da kann es weder Stimme, noch Bewegung geben.« – Weiter ist alles ausgestrichen, ich kann da nichts entziffern. Hier ist aber der Schluß: – »Was aber alle anderen Definitionen des Geistes betrifft, so überlasse ich sie den heiligen Vätern, den Lehrern des Volkes, die die Naturgesetze durch Intuition kennen.«
»Hm, es würde unserm Messer Leonardo recht übel ergehen, wenn diese Papierchen in die Hände der heiligen Patres Inquisitoren gerieten ... Da steht wieder eine Prophezeiung:
»Ohne etwas zu tun, Armut und Arbeit verachtend, werden Menschen in Herrlichkeit leben, in palastähnlichen Häusern wohnen, sichtbare Schätze gegen unsichtbare eintauschen und behaupten, dies sei die beste Art, dem Herrn zu dienen.«
»Er meint die Ablaßzettel!« riet Cesare. »Das klingt beinahe wie Savonarola! Es ist auf den Papst gemünzt!«
»Menschen, die vor tausend Jahre gestorben, werden die Lebenden ernähren.«
»Das verstehe ich nicht. Es ist schon zu schwierig ... Übrigens ... Ja, gewiß! Die vor tausend Jahren gestorben – es sind die Märtyrer und Heiligen, in deren Namen die Mönche Gelder sammeln.«
»Man wird zu denen sprechen, die Ohren haben und nicht hören; man wird vor denen Lampen anzünden, die Augen haben und nicht sehen. – Es sind natürlich die Heiligenbilder.«
»Frauen werden den Männern alle ihre Wollust und alle ihre geheimen Schandtaten eingestehen. – Dies ist die Beichte. – wie gefällt es dir, Giovanni? Er ist doch ein merkwürdiger Mensch. Denke dir nur: für wen mag er diese Rätsel, erfinden? Und doch ist keine richtige Bosheit darin, es ist nur ein Spiel mit Blasphemie!«
Er blätterte noch etwas weiter und las:
»Viele, die mit vermeintlichen Wundern Handel treiben und so den dummen Pöbel betrügen, richten diejenigen hin, die ihren Schwindel aufdecken. – Hier ist wohl von der Feuerprobe des Fra Girolamo und von der Wissenschaft, die den Wunderglauben zerstört, die Rede.«
Er legte das Heft fort und blickte Giovanni an.
»Ich glaube, dies wird genügen. Oder willst du noch andere Beweise? Die Sache ist doch klar?«
Beltraffio schüttelte den Kopf.
»Nein, Cesare. Es ist immer noch nicht das Richtige. Wenn man nur eine Stelle finden könnte, wo er sich ganz offen ausspricht!«
»Offen? Nein, Bruder, so etwas findest du bei ihm nie. Er hat einmal diese Natur: alles ist bei ihm zweideutig, doppelsinnig und listig wie bei einem Weibe. Daher liebt er auch die Rätsel: versuch ihn einmal da zu fangen! Er kennt sich, übrigens, auch selber nicht und ist für sich selbst das größte Rätsel!«
»Cesare hat recht,« dachte sich Giovanni. »Lieber offene Blasphemie, als dieser Spott, als dies Lächeln des ungläubigen Thomas, der seine Finger in die Wunden des Heilands legt ...«
Cesare zeigte ihm eine kleine Rötelzeichnung auf blauem Papier, die er unter Maschinenskizzen und Rechnungen entdeckt hatte; sie stellte die heilige Jungfrau mit dem Jesuskinde in der Wüste dar; die Mutter saß auf einem Stein und zeichnete mit dem Finger im Lande Dreiecke, Kreise und andere Figuren: sie unterrichtete ihren Sohn in der Geometrie, der Quelle alles Wissens.
Lange betrachtete Giovanni diese sonderbare Zeichnung und der Wunsch kam ihm, den Text, der unter ihr stand, zu entziffern. Er näherte sie dem Spiegel und Cesare begann zu lesen. Als er aber die ersten Worte: »Die Notwendigkeit ist eine ewige Lehrmeisterin,« entziffert hatte, erklang aus der Werkstatt die Stimme Leonardos:
»Astro! Astro! Bring eine Kerze her! Wo steckt ihr denn alle? Andrea, Marco, Giovanni, Cesare!«
Giovanni fuhr zusammen, erblich und ließ den Spiegel fallen. Dieser zerbrach.
»Das bedeutet Unglück!« scherzte Cesare.
Hastig, wie ertappte Diebe, steckten sie die Papiere wieder in das Fach, sammelten die Spiegelscherben auf, öffneten das Fenster, sprangen auf das Fensterbrett und kletterten, sich an der Dachrinne und den Ästen der das Haus umschlingenden Weinreben festklammernd, in den Hof hinunter. Cesare stürzte ab und hätte sich beinahe den Fuß ausgerenkt.
An diesem Abend konnte Leonardo in der Mathematik nicht die ersehnte Ruhe finden. Bald ging er im Zimmer auf und ab, bald setzte er sich an den Tisch, begann zu zeichnen und warf gleich darauf die Zeichnung wieder fort. In seiner Seele war eine unbestimmte Unruhe, als müsse er eine Aufgabe lösen und könne es nicht. Seine Gedanken kehrten hartnäckig immer zum gleichen Ausgangspunkt zurück.
Er dachte daran, wie Giovanni Beltraffio zu Savonarola geflüchtet, wie er dann wieder zu ihm zurückgekehrt war, anscheinend für einige Zeit Ruhe gefunden und sich ganz der Malerei hingegeben hatte. Und daß er nach jener unglückseligen Feuerprobe und besonders von jenem Tage an, als nach Mailand die Kunde vom Ende des Propheten kam, elender und zerstreuter als zuvor geworden war.
Der Meister sah, wie er sich quälte, daß er ihn verlassen wollte und es doch nicht konnte; er erriet den inneren Kampf in der Seele des Schülers, die zu tief war, um nicht zu fühlen, und zu schwach, – um die eigenen Widersprüche zu besiegen. Zuweilen schien es Leonardo, daß er Giovanni verstoßen müsse, um ihn zu retten, doch fehlte ihm der Mut dazu.
»Wenn ich nur wüßte, wie ich ihm helfen könnte,« dachte der Künstler lächelnd.
»Ich habe ihn behext und verdorben! Die Leute haben wohl recht: ich habe wirklich einen bösen Blick ...«
Er stieg die steilen Stufen der finsteren Treppe hinauf und klopfte an. Als ihm niemand antwortete, öffnete er selbst die Türe.
In der engen Zelle herrschte ein Halbdunkel. Man hörte den Regen auf das Dach klatschen und den Herbstwind heulen. In der Ecke vor der Madonna brannte ein Lämpchen. Auf der weißen Wand hing ein Kruzifix. Beltraffio lag angekleidet im Bett, zusammengekauert, wie ein krankes Kind, mit eingezogenen Knien und das Gesicht in die Kissen vergraben.
»Giovanni, schläfst du?« fragte der Meister.
Beltraffio sprang auf, gab einen leisen Schrei von sich, streckte seine Arme aus und blickte auf Leonardo mit weit aufgerissenen wahnsinnigen Augen, mit dem Ausdrucke des gleichen Schreckens, den der Künstler schon in Majas Augen gesehen hatte.
»Was hast du, Giovanni? Ich bin es doch!«
Beltraffio schien aus einer Betäubung zu erwachen, er fuhr sich langsam mit der Hand über die Augen:
»Ach so, Ihr seid es, Messer Leonardo! ... Mir schien ... Ich hatte einen schrecklichen Traum ...«
»Also Ihr seid es wirklich?« wiederholte er, ihn noch immer mißtrauisch anstarrend.
Der Meister setzte sich auf den Bettrand und legte ihm seine Hand auf die Stirne.
»Du hast Fieber, du bist krank. Warum hast du es mir nicht gesagt?«
Giovanni wandte sich ab. Dann aber richtete er seinen Blick wieder auf Leonardo, seine Mundwinkel senkten sich und erbebten. Er faltete seine Hände und flehte:
»Meister, jagt mich fort! ... selbst gehe ich nicht, und doch darf ich bei Euch nicht länger bleiben, denn ich ... ja, ich bin ein gemeiner Mensch ... ein Verräter!«
Leonardo umarmte ihn und zog ihn zu sich heran.
»Was sagst du da, mein armer Junge! Gott sei mit dir! Sehe ich denn nicht, wie du dich quälst? Wenn du glaubst, daß du dich gegen mich vergangen hast, so verzeihe ich dir alles. Vielleicht wirst du einmal auch mir vergeben ...«
Giovanni richtete auf ihn langsam seine großen erstaunten Augen und plötzlich schmiegte er sich an ihn an und verbarg sein Gesicht an seiner Brust und in seinem seidenweichen Barte.
»Wenn ich Euch doch einmal verlasse,« lallte er unter Schluchzen, das seinen ganzen Körper erschütterte, »wenn ich Euch doch einmal verlasse, Meister, so sollt Ihr nicht glauben, daß ich Euch nicht liebe! Ich weiß selber nicht, was mit mir vorgeht ... Es kommen mir so schreckliche Gedanken, als würde ich verrückt ... Gott hat mich verlassen ... Nein, Ihr sollt es nicht glauben, denn ich liebe Euch mehr als jemanden in der Welt, mehr als meinen Vater Fra Benedetto! Niemand kann Euch so lieben wie ich! ...«
Leonardo streichelte mit mildem Lächeln sein Haar, seine von Tränen benetzten Wangen und tröstete ihn wie ein Kind:
»Nun ist's genug, höre auf! Ich weiß wohl, daß du mich liebst, mein armer, unverständiger Junge ...«
»Du hast wohl wieder alles vom Cesare her?« fügte er hinzu, »warum hörst du auf ihn? Er ist klug, doch unglücklich, auch er liebt mich, obwohl ihm scheint, daß er mich hasse. Er kann ja vieles nicht verstehen ...«
Giovanni wurde plötzlich still und hörte zu weinen auf. Er blickte den Meister etwas sonderbar und prüfend an und schüttelte den Kopf.
»Nein,« sprach er langsam, die Worte mit Mühe hervorbringend: »Nein, es war nicht Cesare. Ich selbst ... Nein, nicht ich, sondern Er ...«
»Wer?« fragte der Meister.
Giovanni schmiegte sich noch fester an ihn. Seine Augen wurden wieder starr vor Schreck.
»Nicht doch ...« flüsterte er kaum hörbar. »Ich bitte Euch ... redet nicht von Ihm ...«
Leonardo fühlte ihn in seinen Armen zittern.
»Hör einmal, mein Kind,« sagte er streng, doch freundlich und etwas unnatürlich, wie die Ärzte mit Kranken zu sprechen pflegen. »Ich sehe, daß du etwas auf dem Herzen hast. Du mußt es mir sagen. Ich will alles wissen, hörst du, Giovanni? Dann wirst du es auch leichter haben.«
Er dachte etwas nach und fügte hinzu:
»Sage mir, von wem du eben sprachst?«
Giovanni blickte sich ängstlich um, näherte seine Lippen dem Ohre Leonardos und flüsterte, um Atem ringend:
»Von meinem Doppelgänger? Hast du von ihm geträumt?«
»Nein, ich habe ihn in Wirklichkeit gesehen.«
Leonardo sah ihn durchdringend an und einen Augenblick lang glaubte er, Giovanni phantasiere.
»Messer Leonardo, Ihr wart doch nicht vorgestern Dienstag nachts hier bei mir?«
»Nein, weißt du es denn selbst nicht?«
»Ich weiß es schon ... Also seht, Meister, jetzt ist es gewiß, daß Eres war!«
»Wie bist du denn darauf gekommen, daß ich einen Doppelgänger habe? Wie ist das geschehen?«
Leonardo fühlte, daß Giovanni selbst alles erzählen wollte, und er hoffte, daß die Aussprache ihn erleichtern würde.
»Wie das geschah? Es war so: Er kam zu mir ebenso, wie Ihr heute gekommen seid und zu der gleichen Stunde. Er setzte sich auf den Bettrand, wie Ihr jetzt sitzt, und tat und sprach das Gleiche, was Ihr tut und sprecht. Sein Gesicht war wie Euer Gesicht, aber in einem Spiegel gesehen. Er ist nicht linkshändig. Mir kam gleich der Gedanke, daß Ihr es nicht seid. Er erriet sofort diesen Gedanken, ließ mich aber nichts davon merken; er stellte sich so, als wüßten wir beide nichts davon. Nur beim Weggehen wandte er sich nach mir um und sagte: hast du denn, Giovanni, noch nie meinen Doppelgänger gesehen? Wenn du ihn einmal siehst, so fürchte ihn nicht. – Da begriff ich alles ...«
»Glaubst du auch jetzt noch daran, Giovanni?«
»Wie sollte ich nicht glauben? Ich sah Ihn ja so, wie ich jetzt Euch sehe ... Und Er hat mit mir gesprochen ...«
»Worüber?«
Giovanni bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
»Sag es lieber,« sprach Leonardo – »sonst wirst du immer wieder darüber denken und dich quälen.«
»Es war nicht gut,« sagte Beltraffio und blickte seinen Meister mit hoffnungslosem Flehen an. »Es war schrecklich, was Er zu mir sprach. Er sagte, alles in der Welt sei nur Mechanik, alles sei so, wie jene schreckliche Spinne mit den beweglichen Beinen, die Er ... das heißt, nicht Er, sondern Ihr erfunden ...«
»Eine Spinne? Ach ja, ich weiß. Du hast wohl die Skizze zu der Kriegsmaschine gesehen?«
»Dann sagte Er noch,« fuhr Giovanni fort, »daß der Gott, zu dem die Menschen beten, nur jene ewige Kraft sei, welche die Spinne und ihre eisernen bluttriefenden Beine antreibt, und daß Ihm alles ganz gleich sei: Recht und Unrecht, Gut und Böse, Leben und Tod. Er sei unerbittlich wie die Mathematik: zweimal zwei könne nie fünf geben ...«
»Gut, gut. Quäle dich nicht. Genug. Jetzt weiß ich alles ...«
»Nein, Messer Leonardo, Ihr wißt noch nicht alles. Hört nur zu, Meister! Er sagte noch, daß Christus ganz umsonst gekommen sei: nach dem Tode wäre er gar nicht auferstanden, er hätte auch nicht den Tod mit dem Tode besiegt, sondern wäre im Grabe verwest. Als er dies sagte, mußte ich weinen. Da tat ich ihm leid und er tröstete mich und sprach: Weine nicht, mein armer unverständiger Junge, es gibt keinen Christus, es gibt nur die Liebe; die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis; wer alles weiß, der liebt auch alles. – Ihr seht: es sind Eure eigenen Worte! – Einst – sagte er, – kam die Liebe aus Schwäche, Wunderglauben und Unwissenheit; heute kommt sie aus Stärke, Wahrheit und Erkenntnis, denn die Schlange hat nicht gelogen: Welches Tags ihr von dem Baum der Erkenntnis esset, werdet ihr sein wie Gott. – Und da begriff ich erst, daß Er vom Teufel kam und ich verfluchte ihn. Er ging fort, versicherte aber, wiederzukommen.«
Leonardo hörte mit solchem Interesse zu, als wäre es gar nicht mehr die Fieberphantasie eines Kranken. Er fühlte, wie Giovannis Blick, der nun anklagend und fast ruhig war, ins tiefste Innere seines Herzens drang.
»Das schrecklichste war,« flüsterte der Schüler, sich aus der Umarmung des Meisters losreißend und ihn mit durchdringendem Blick anstarrend, »das Gräßlichste war, daß Er lächelte, während er dies alles sprach, lächelte ... genau so wie Ihr jetzt lächelt!«
Giovanni wurde plötzlich leichenblaß, sein Gesicht verzog sich, er stieß Leonardo zurück und schrie gellend und wahnsinnig:
»Du ... Wieder du! ... Hast dich verstellt ... Im Namen Gottes ... Verschwinde, vergehe, versinke, Verdammter! ...«
Der Meister erhob sich, blickte ihn gebieterisch an und sprach:
»Gott sei mit dir, Giovanni! Jetzt sehe ich, daß es besser für dich ist, wenn du mich verläßt. Du weißt, in der Schrift steht: Wer sich aber fürchtet, ist nicht völlig in der Liebe. Liebtest du mich mit voller Liebe, so würdest du dich nicht fürchten und würdest verstehen, daß dies alles – Wahnsinn und Fieberwahn ist; daß ich anders bin, als die Leute glauben; daß ich keinen Doppelgänger habe und daß ich vielleicht an meinen Christus und Heiland stärker glaube, als diejenigen, die mich einen Diener des Antichrist nennen. Lebe wohl, Giovanni! Der Herr beschirme dich. Fürchte nicht: Leonardos Doppelgänger kehrt nie wieder zu dir zurück!«
Seine Stimme zitterte in unendlicher, stiller Wehmut. Er stand auf und wollte fortgehen.
»Ist es auch wirklich so? Habe ich ihm die Wahrheit gesagt?« ging es ihm durch den Kopf und im gleichen Augenblick fühlte er, daß er auch lügen würde, wenn eine Lüge Giovanni retten könnte.
Beltraffio sank in die Knie und küßte die Hände des Meisters.
»Nein, nein, ich will es nie wieder tun! ... Ich weiß, daß es Wahnsinn ist ... Ich glaube Euch ... Ihr werdet sehen: ich werde diese schrecklichen Gedanken vertreiben ... verzeiht mir nur, Meister, verzeiht mir! Verlaßt mich nicht! ...«
Leonardo blickte ihn mit unsagbarem Mitleid an, beugte sich über ihn und küßte ihn auf den Kopf.
»Gut, Giovanni, vergiß nicht, was du mir versprochen hast. – Aber jetzt,« fügte er mit seiner gewöhnlichen ruhigen Stimme hinzu: »jetzt wollen wir schnell hinuntergehen. Denn hier ist es kalt. Du darfst nicht wieder hierher, bis du dich nicht ganz erholt hast. Ich habe, übrigens, eine dringende Arbeit vor und du kannst mir helfen.«
Er führte ihn in sein neben der Werkstatt gelegenes Schlafzimmer, fachte das Feuer im Kamin an und, als die Flamme knisterte und das Zimmer mit ihrem behaglichen Schein beleuchtete, sagte er zu Giovanni, er müsse jetzt ein Malbrett herrichten.
Leonardo hoffte, daß die Arbeit den Kranken ablenken werde.
So geschah es auch. Giovanni ließ sich von der Arbeit hinreißen. Mit ernstem Gesicht, als gelte es ein höchst wichtiges und interessantes Werk, half er dem Meister das Brett mit einer giftigen Lösung von Sublimat und doppelschwefligem Arsenik in Weingeist zu imprägnieren, die das Holz vor Wurmfraß schützen sollte. Dann legten sie die erste Schicht des Grundes an, füllten alle Fugen mit Alabaster, Cypressenöllack und Mastix und polierten die Unebenheiten mit einem flachen Schabeisen weg. Die Arbeit ging rasch und leicht vor sich und glich in Leonardos Händen einem Spiel. Zur gleichen Zeit erteilte er Ratschläge, lehrte, wie man Pinsel binden müsse, von den stärksten und härtesten aus Schweineborsten in Bleifassung, bis zu den feinsten und weichsten aus Eichhornhaaren, die in Federkiele gefaßt werden; oder wie man der Beize, damit sie rascher trockne, venetianisches Kupfergrün und roten eisenhaltigen Ocker beimengen müsse.
Das Zimmer füllte sich mit dem angenehmen flüchtigen und erfrischenden Geruch von Terpentin und Mastix, der zur Arbeit anregte. Giovanni rieb mit aller Kraft das Brett mit einem sämischledernen Läppchen mit heißem Leinöl ein. Es wurde ihm dabei heiß und sein Fieberfrost verging.
Er hielt einen Augenblick inne, um auszuruhen und wandte sein gerötetes Gesicht zum Meister.
»Rasch, rasch! Schlafe nicht!« trieb ihn Leonardo an. »Wenn es kalt wird, kann es nicht mehr ins Holz eindringen.«
Giovanni krümmte den Rücken, spreizte die Beine, preßte die Lippen fest zusammen und machte sich wieder an die Arbeit.
»Nun, wie fühlst du dich jetzt?« fragte Leonardo.
»Gut!« erwiderte Giovanni mit zufriedenem Lächeln.
Auch die anderen Schüler versammelten sich in die warme, helle Ecke um den großen steinernen mit schwarzsamtenem Ruß bedeckten lombardischen Herd, aus dem das Heulen des Windes und das Rauschen des Regens so angenehm tönten. Da waren der frierende, doch stets sorglose Andrea Salaino, der einäugige Cyclop – der Schmied Zoroastro da Peretola, Jacopo und Marco d'Oggione. Nur Cesare da Sesto fehlte wie immer in diesem Freundeskreise.
Leonardo legte das Brett zum Trocknen weg und zeigte nun den Schülern die beste Art, reines Malöl zu gewinnen. Man brachte eine große irdene Schüssel mit einem abgestandenen Brei aus Nüssen, die in sechsmal gewechseltem Wasser eingeweicht waren; die Nüsse hatten einen weißen Saft ausgeschieden und oben schwamm eine bernsteingelbe fette Schicht. Nun rollte Leonardo aus Baumwolle lange Zöpfe, die Lampendochten glichen und legte sie mit dem einen Ende in die Schüssel, mit dem anderen in einen Blechtrichter, der im Halse einer Glasflasche stak. Das Öl wurde von der Baumwolle eingesogen und tropfte am anderen Ende golden und durchsichtig in die Flasche.
»Seht nur, seht!« rief Marco: »wie rein es ist! Ich erhalte immer eine ganz trübe Schmiere, so oft ich es auch durchseihe.«
»Du läßt wohl an den Nüssen das obere Häutchen,« bemerkte Leonardo. »Es tritt dann auf der Leinwand hervor und macht alle Farbe schwarz.«
»Hört ihr?« triumphierte Marco. – »Das größte Kunstwerk kann durch solchen Dreck – durch Nußhäute zugrunde gehen! Und ihr lacht mich immer aus, wenn ich sage, man müsse die Vorschriften mit mathematischer Genauigkeit befolgen ...«
Die Schüler folgten plaudernd und scherzend, aber aufmerksam den Erklärungen des Meisters. Obwohl es schon spät war, wollte noch niemand schlafen gehen. Sie hörten auch nicht auf die Ermahnungen Marcos, der über jedes Holzscheit schimpfte und warfen immer neues Holz ins Feuer. Wie es oft bei solchen improvisierten Zusammenkünften der Fall ist, herrschte große grundlose Fröhlichkeit.
»Wollen wir Märchen erzählen!« schlug Salaino vor. Als erster gab er die Novelle vom Priester zum Besten, der am Karsamstag in alle Häuser ging und so auch in die Werkstatt eines Malers kam, wo er alle Bilder mit Weihwasser besprengte. »Warum hast du das getan?« fragte ihn der Maler. – »Weil ich dir Gutes will, denn es steht geschrieben: Ein gutes Werk wird hundertfältig vergolten«. Der Maler erwiderte nichts, als aber der Pater das Haus verließ, lauerte er ihm auf und goß ihm aus dem Fenster einen Kübel kalten Wassers über den Kopf und sagte: »Hier hast du die hundertfältige Vergeltung für die Wohltat, die du mir erwiesen, indem du mir meine Bilder verdorben hast.«
Novelle folgte nun auf Novelle, jeder hatte einen neuen Einfall, der eine unsinniger als der andere. Alle freuten sich unsagbar, am meisten aber Leonardo.
Giovanni liebte es zu beobachten, wie der Meister lachte: seine Augen zogen sich zusammen und wurden zu engen Schlitzen, sein Gesicht nahm den Ausdruck von kindlicher Einfalt an, er schüttelte den Kopf, wischte sich die Tränen aus den Augen und lachte in hohen feinen Tönen, die so sonderbar zu seiner großen männlichen Erscheinung paßten und ebenso schrill und weibisch klangen, wie seine zornigen Schreie.
Gegen Mitternacht spürten sie Hunger. Sie wollten nicht ohne Imbiß zu Bett gehen, um so weniger, als das Nachtmahl karg gewesen war; denn Marco hielt sie sehr knapp.
Astro holte alles, was er in der Speisekammer finden konnte: schäbige Reste eines Schinkens, etwas Käse, an die drei Dutzend Oliven und ein Stück hartes Weizenbrot; Wein gab es nicht.
»Hast du das Faß ordentlich gekippt?« fragten ihn die Kameraden.
»Ich habe es nach allen Seiten gekippt und gewendet. Kein Tropfen ist darin.«
»Marco, Marco, was tust du uns an? Was sollen wir ohne Wein?«
»Jetzt heißt es wieder – Marco hin, Marco her; was kann ich aber tun, wenn kein Geld im Hause ist?«
»Geld ist da, folglich bekommen wir auch Wein!« rief Jacopo. Er warf ein Goldstück hoch und fing es mit der flachen Hand wieder auf.
»Wo hast du es her, du Teufelsbengel? Wieder gestohlen? Warte nur, ich reiße dir noch die Ohren ab!« drohte Leonardo mit dem Finger.
»Nein, Meister, bei Gott, ich habe es nicht gestohlen. Ich soll gleich in die Erde versinken, meine Zunge soll verdorren, wenn ich es nicht im Würfelspiel gewonnen habe!«
»Sieh dich vor! Wenn du uns mit gestohlenem Geld freihalten willst ...«
Die nahe Schenke Zum Grünen Adler war noch offen, denn dort zechten während der ganzen Nacht schweizerische Landsknechte. Jacopo lief hinüber und brachte zwei Zinnkrüge.
Der Wein erhöhte die fröhliche Stimmung. Der Knabe schenkte ihn ein wie Ganymed: er hielt die Kanne hoch, so daß der Rotwein im Becher rosig, und der Weißwein golden schäumte. Das Bewußtsein, daß er die ganze Gesellschaft freihalte, machte ihn glücklich; er sprang ausgelassen umher, riß Possen und sang mit unnatürlich heiserer Stimme, wie ein alter betrunkener Zecher, das verwegene Lied eines ausgestoßenen Mönches:
Kutte, Rosenkranz, Brevier
Mag der Teufel holen!
Seh ein Mädel ich vor mir,
Mach' ich Kapriolen.
und die feierliche Hymne aus der lateinischen Scherzmesse der fahrenden Scholaren zu Ehren des Bacchus:
Wer den Wein mit Wasser trinkt,
Der wird naß wie´n Pudel;
In der Hölle trocknet ihn
Einst der Teufel Rudel.
Noch nie hatte Giovanni Speise und Trank so gut geschmeckt, wie bei diesem armseligen Mahle mit Leonardo, das aus versteinertem Käse, hartem Brot und dem verdächtigen, vielleicht auch wirklich für gestohlenes Geld erworbenen Weine Jacopos bestand.
Man trank auf das Wohl des Meisters, auf den Ruhm seiner Werkstätte, auf Erlösung aus der Armut und auf gegenseitiges Wohlergehen.
Zum Schluß musterte Leonardo lächelnd den Kreis seiner Schüler und sagte:
»Ich habe gehört, Freunde, daß der heilige Franziscus von Assisi den Trübsinn – das schlimmste aller Laster nannte und behauptete, daß man Gott am besten mit ewiger Fröhlichkeit diene. Trinken wir also auf die Weisheit des Franziscus und auf die ewige Fröhlichkeit in Gott.«
Alle wunderten sich ein wenig. Aber Giovanni begriff, was der Meister sagen wollte.
»Ach Meister,« versetzte Astro und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf: »Ihr redet da von Fröhlichkeit; wie können wir aber fröhlich sein, solange der Mensch wie ein Wurm oder Aaskäfer auf der Erde herumkriechen muß? ... Die anderen mögen trinken, auf was sie wollen, ich trinke aber auf die menschlichen Flügel, auf die Flugmaschine! Erst wenn es geflügelte Menschen geben wird, wird man fröhlich sein können. Der Teufel soll alle Schwere holen und auch die Gesetze der Mechanik ...«
»Nein, mein Lieber, ohne Mechanik wirst du nicht weit fliegen können!« unterbrach ihn der Meister lachend.
Als schließlich alle schlafen gingen, hielt Leonardo Giovanni unten zurück. Er half ihm, sich ein Lager in seinem Schlafzimmer, vor dem Kamin, in dem die Kohlen verglommen, richten. Dann holte er eine kleine Buntstiftzeichnung und reichte sie dem Schüler.
Der Jüngling, den die Zeichnung darstellte, kam Giovanni so bekannt vor, daß er sie anfangs für ein Porträt hielt: er hatte große Ähnlichkeit mit Fra Girolamo Savonarola, wie er wohl in seiner Jugend aussah und erinnerte zugleich an den sechzehnjährigen Sohn des reichen Mailänder Wucherers, des von allen gehaßten alten Juden Barucco; dieser Sohn, ein kränklicher, schwärmerischer Jüngling, der sich viel mit den Geheimnissen der Kabbala beschäftigte, galt bei seinen Lehrern, den Rabbinern, als eine zukünftige Leuchte in Israel.
Als aber Beltraffio diesen jüdischen Jüngling mit dichtem rötlichem Haar, niederer Stirne und dicken Lippen genauer anblickte, erkannte er in ihm Christus; nicht jenen Christus, den er von den Heiligenbildern kannte, sondern einen anderen, den er gleichsam leibhaftig gesehen und dann vergessen hatte.
Im Kopf, der so gesenkt war, wie eine Blüte auf einem zu schwachen Stiel, und im kindlich unschuldigen Blick der niedergeschlagenen Augen lag die Vorahnung jener letzten Trauer auf dem Ölberge, da er verzagend und sich grämend zu seinen Schülern sprach: »Meine Seele ist betrübet bis in den Tod«. Und ging ein wenig fürbaß, fiel auf die Erde und betete: »Abba, mein Vater, es ist dir alles möglich; nimm diesen Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.« Zum andern und zum dritten Male ging er hin, betete und sprach: »Mein Vater, ist's nicht möglich, daß dieser Kelch von mir gehe, ich trinke ihn denn, so geschehe dein Wille.« Und es kam, daß er mit dem Tode rang, und betete heftiger. Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde.
»Um was bat Er in seinem Gebet?« dachte Giovanni. »Wie konnte er bitten, daß das, was notwendig sein mußte und was sein eigener Willen war, an ihm vorbeiginge? Hat er sich denn auch so gequält, wie ich mich quäle, mußte er denn auch bis zum Blutschweiß mit den schrecklichen Zweifeln kämpfen?«
»Nun, was gibt´s?« fragte Leonardo, ins Zimmer zurückkehrend, das er für einen Augenblick verlassen hatte. »Ich glaube, du fängst wieder an ...«
»Nein, nein, Meister! Wenn Ihr nur wüßtet, wie wohl und ruhig es mir ums Herz ist. Jetzt ist ja alles vorbei ...«
»Gott sei Dank, Giovanni! Ich sagte ja, daß alles vorübergehen wird. Sei auf der Hut, daß es nie wiederkehre ...«
»Es kehrt nie wieder! Ihr könnt unbesorgt sein. Jetzt sehe ich,« – er wies auf die Zeichnung hin – »daß Ihr ihn so liebt, wie kein zweiter Mensch.«
»Und wenn Euer Doppelgänger,« fügte er hinzu, »mich wieder besucht, so weiß ich, womit ich ihn vertreiben kann: ich werde ihn nur an diese Zeichnung erinnern.
Giovanni hörte von Cesare, daß Leonardo das Antlitz Christi auf dem heiligen Abendmahl vollende, und wünschte, es zu sehen. Er hatte den Meister schon mehrmals darum gebeten; dieser versprach ihm, seinen Wunsch zu erfüllen, aber schob es immer wieder hinaus.
Eines Morgens führte er ihn endlich ins Refektorium von Maria delle Grazie. Da erblickte Giovanni auf der ihm wohlbekannten Stelle, die sechzehn Jahre lang leer gestanden, zwischen den Köpfen des Johannes und Jakobus, dem Sohne des Zebedäus, im Vierecke des offenen Fensters, auf dem Hintergrunde des stillen Abendhimmels und der Hügel Zions – das Antlitz des Herrn.
Einige Tage später befand sich Giovanni abends auf dem Heimwege vom Alchimisten Galeotto Sacrobosco, von dem er im Auftrage des Meisters ein seltenes mathematisches Werk geholt hatte. Er ging über das leere unbebaute Gelände am Cataranakanal. Nach dem Winde und dem Tauwetter waren Frost und Windstille eingetreten. Die Pfützen auf der schmutzigen Fahrstraße hatten sich mit feinen Eisnadeln überzogen. Die Wolken hingen tief und schienen die kahlen bläulichen Gipfel der Lärchen mit den zerzausten Dohlennestern zu berühren. Es dämmerte. Nur ganz tief unten am Horizonte zog sich ein messinggelber Streifen der trüben Abendröte hin. Der Kanal war nicht zugefroren und sein stilles und wie Gußeisen schweres und schwarzes Wasser schien unendlich tief.
So sehr sich Giovanni auch bemühte, solche Gedanken, die er sich selbst sogar nicht eingestehen wollte, von sich zu weisen, mußte er doch an die beiden Christusköpfe des Leonardo denken. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um sie beide wie lebend nebeneinander stehen zu sehen: das eine, ihm so wohl vertraute, voller menschlicher Ohnmacht, das Antlitz dessen, der auf dem Ölberge so sehr litt, daß sein Schweiß wie Blutstropfen auf die Erde fiel, als er mit kindlichem Glauben ein Wunder erflehte; das andere – unmenschlich ruhig, weise, fremd und schrecklich.
Giovanni meinte, vielleicht könnten beide in ihrem unlösbaren Widerspruch die wahren sein.
Seine Gedanken waren wirr wie im Traume. Sein Kopf glühte. Er setzte sich am Ufer des schmalen schwarzen Kanals auf einen Stein nieder und ließ seinen Kopf erschöpft in die Hände sinken.
»Was treibst du hier? Du siehst aus, wie der Schatten eines Verliebten auf dem Acherontischen Strande,« sprach eine spöttische Stimme. Eine Hand berührte seine Schulter. Er fuhr zusammen, und als er sich umwandte, gewahrte er Cesare.
Der hagere Cesare, mit dem langen aschgrauen kränklichen Gesicht, stand in einen grauen Mantel gehüllt in der staubgrauen winterlichen Dämmerung unter den kahlen bläulichen Lärchen mit den zerzausten Dohlennestern. Er glich einem unheimlichen Gespenst.
Giovanni stand auf und beide setzten schweigend ihren Weg fort; das welke Laub raschelte unter ihren Füßen.
»Weiß er, daß wir neulich seine Papiere durchsucht haben?« fragte schließlich Cesare.
»Er weiß es,« antwortete Giovanni.
»Selbstredend zürnt er uns nicht dafür. Das ist ja klar. Er verzeiht eben alles!« Cesare lachte boshaft und gezwungen.
Dann schwiegen sie wieder. Ein Rabe flog mit heiserem Krächzen über den Kanal.
»Cesare,« sagte Giovanni leise. »Hast du das Antlitz Christi im heiligen Abendmahl gesehen?«
»Ja, ich habe es gesehen.«
»Nun ... was sagst du dazu?«
Cesare wandte sich rasch nach ihm um:
»Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht ... weißt du, mir scheint ...«
»Sag es geradeaus: gefällt es dir nicht?«
»Doch. Aber ich weiß nicht. Mir kommt der Gedanke, daß es vielleicht gar nicht Christus sei ...«
»Nicht Christus? Wer denn?«
Giovanni erwiderte nichts. Er verlangsamte nur seine Schritte und ließ den Kopf sinken.
»Höre einmal,« fuhr er nachdenklich fort, »hast du den anderen Entwurf zum Christuskopf, die Buntstiftzeichnung, gesehen, auf der er beinahe als Kind dargestellt ist?«
»Ich weiß, als ein rothaariger Judenjunge mit niederer Stirne und dicken Lippen; er gleicht da dem Sohn des alten Barucco. Also was ist damit? Gefällt dir der andere besser?«
»Nein ... Ich denke nur, wie verschieden diese beiden Christusköpfe sind!«
»Verschieden?« wunderte sich Cesare. »Aber es ist ja das gleiche Gesicht. Im heiligen Abendmahl ist er nur um etwa fünfzehn Jahre älter ...«
»Übrigens,« fuhr er nach einer Weile fort – »hast du vielleicht auch recht, wenn es aber auch wirklich zwei Christusse sind, so gleichen sie einander wie Doppelgänger.«
»Wie Doppelgänger!« wiederholte Giovanni zusammenfahrend und stehenbleibend, »wie sagtest du, Cesare, Doppelgänger?«
»Ja, gewiß, warum bist du so erschrocken? Hast du denn das nicht selbst bemerkt?«
Sie gingen wieder schweigend weiter.
»Cesare!« rief plötzlich Giovanni leidenschaftlich aus. »Siehst du es denn nicht? Wie konnte denn der Allmächtige und Allwissende, den der Meister im heiligen Abendmahl dargestellt hat, sich auf dem Ölberge im blutigen Schweiße in Gram verzehren und so kindlich wie wir Menschen um ein Wunder beten: »Laß den Zweck meines Erdendaseins nicht in Erfüllung gehen. Abba, mein Vater, überhebe mich dieses Kelchs«? Aber in diesem Gebete ist doch alles – hörst du, Cesare? – alles enthalten. Ohne dies Gebet gibt es keinen Christus und es ist mir lieber als alle Weisheit! Hätte er nicht so gebetet, so wäre er auch kein Mensch, und könnte nicht so leiden und so sterben, wie wir! ...«
»Das meinst du also!« sagte Cesare bedächtig. »Es mag stimmen. Ja, gewiß, ich verstehe dich. Jener Christus auf dem heiligen Abendmahl könnte natürlich nie so beten ...«
Inzwischen war es ganz dunkel geworden. Giovanni konnte nur mit Mühe das Gesicht seines Freundes erkennen: es schien ihm sonderbar verändert.
Plötzlich blieb Cesare stehen. Er hob seine Hand und sprach feierlich:
»Du willst also wissen, wen er auf dem Heiligen Abendmahl dargestellt hat, wenn nicht deinen Christus, der auf dem Ölberge gebetet hat? Höre also: ›Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist. Und das Wort ward Fleisch.‹ Hörst du: das Wort, die Weisheit des Herrn, ward Fleisch, seine Jünger verzehrten sich in Angst und Gram, als sie seine Worte hörten: ›Einer unter euch wird mich verraten‹ aber er selbst blieb dabei ruhig und war allen gleich nahe und fremd: dem Johannes, der an seiner Brust saß und dem Judas, der ihn verriet; denn für ihn gab es weder Gut noch Böse, weder Liebe noch Haß, nichts als den Willen des Vaters – die ewige Notwendigkeit: ›Nicht was ich will, sondern was du willst‹. Diese Worte sprach auch dein Christus, der auf dem Ölberge um ein unmögliches Wunder bat. Daher sage auch ich: sie sind Doppelgänger. ›Die Gefühle gehören der Erde, doch die betrachtende Vernunft steht außerhalb der Gefühle‹ – kennst du noch diese Worte Leonardos? In den Gesichtern und Bewegungen der Apostel, dieser größten Menschen, hat er alle menschlichen Gefühle dargestellt; aber der da die Worte sprach: ›Ich habe die Welt besiegt‹ und ›Ich und der Vater sind eins‹, – der ist die betrachtende Vernunft und steht außerhalb der Gefühle. Kannst du dich auch auf die anderen Worte Leonardos über die mechanischen Gesetze besinnen: ›O deine wunderbare Gerechtigkeit, du Urheber der ersten Bewegung!‹ Christus ist dieser Urheber der ersten Bewegung; er ist Anfang und Mittelpunkt einer jeden Bewegung und dabei selbst unbeweglich; sein Christus ist eben diese ewige Notwendigkeit, die sich im Menschen selbst erfaßt hat, und er liebt in sich die göttliche Notwendigkeit und den Willen des Vaters. ›Gerechter Vater, die Welt kennet dich nicht; Ich aber kenne dich, und diese erkennen, daß du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kund getan, und will ihn kund tun, auf daß die Liebe, damit du mich liebtest, sei in Ihnen‹. Hörst du: die Liebe kommt hier aus der Erkenntnis. ›Die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis‹. Unter allen Menschen hat Leonardo allein dieses Wort des Herrn erfaßt und er hat es in seinem Christus, ›der alles liebt, weil er alles weiß‹, Fleisch werden lassen.«
Cesare verstummte, sie gingen schweigend durch die atemlose Stille der immer dichter werdenden kalten Dämmerung.
»Weißt du noch, Cesare,« sagte endlich Giovanni, »wie wir vor drei Jahren genau so wie heute durch die Vercellina-Vorstadt gingen und über das Heilige Abendmahl stritten? Du hast damals über den Meister gespottet und behauptet, er werde nie das Antlitz Christi vollenden. Ich aber widersprach dir. Und jetzt bist du mit ihm gegen mich, weißt du, ich hätte nie erwartet, von dir, gerade von dir solche Worte über ihn zu hören!«
Giovanni wollte ihm in die Augen blicken, Cesare wandte sich aber ab.
»Ich freue mich,« schloß Beltraffio, »daß du ihn liebst und vielleicht noch mehr liebst als ich. Du willst ihn hassen, und doch liebst du ihn!«
Cesare wandte ihm langsam sein bleiches verzerrtes Gesicht zu.
»Was hast du dir eigentlich gedacht? Natürlich liebe ich ihn! Wie könnte ich anders? Ich will hassen und muß lieben, denn niemand, vielleicht auch er selbst nicht, hat das, was er im Heiligen Abendmahl ausgedrückt hat, so tief erfaßt, wie ich – sein ärgster Feind.«
Er lachte wieder gezwungen.
»Wie sonderbar doch das Menschenherz beschaffen ist! Wenn wir schon so weit sind, so will ich dir die Wahrheit sagen: ich liebe ihn doch nicht, Giovanni; ich liebe ihn noch weniger, als damals ...«
»Weshalb?«
»Und wenn nur aus dem einzigen Grunde, daß ich selbständig bleiben will – hörst du? Lieber der Allerletzte sein, als sein Ohr, oder sein Auge, seine Zehe! Die Schüler Leonardos sind wie Kücken in einem Adlernest! Mit den wissenschaftlichen Regeln, dem Farbenmeßlöffel und den Nasentabellen mag sich Marco trösten! Ich möchte gern wissen, wie das Antlitz des Herrn geraten wäre, wenn Leonardo selbst alle seine Regeln befolgt hätte! Wenn er uns Kücken nach Adlerart fliegen lehrt, so tut er es natürlich aus purer Herzensgüte: denn er hat Mitleid mit uns, wie mit den blinden Jungen seiner Hofhündin, wie mit einer lahmen Mähre, einem Verbrecher, den er zum Schafott geleitet, um das Zucken seiner Gesichtsmuskeln zu studieren, oder wie mit einer erfrorenen Grille, wie die Sonne ergießt er den Überfluß seiner Güte über alle Dinge ... Aber siehst du, mein Freund: ein jeder hat seinen Geschmack: der eine liebt es, jene erfrorene Grille oder jener Wurm zu sein, den der Meister wie ein heiliger Franziscus von der Straße aufliest und auf ein grünes Blatt setzt, damit er nicht zertreten werde. Der andere aber zieht vor ... Weißt du, Giovanni, mir wäre es lieber, wenn er mich einfach, ohne viel zu reden, zerträte ...«
»Cesare,« sagte Giovanni: »wenn dem wirklich so ist, warum verläßt du ihn nicht?«
»Und warum verläßt du ihn nicht? Du hast dir wie ein Falter an einem Licht die Flügel versengt und doch flatterst du noch immer um ihn herum und willst durchaus ins Feuer! Vielleicht will aber auch ich in diesem Feuer verbrennen. Wer kann es übrigens wissen? Ich habe aber noch immer eine Hoffnung ...«
»Worauf hoffst du?«
»Es ist vielleicht ein ganz sinnloser, wahnwitziger Gedanke. Aber ich muß wieder und immer wieder denken: wenn nun ein anderer käme, der ihm gleich und doch von ihm verschieden wäre? - Ich meine weder Perugino, noch Borgognone, noch den großen Mantegna, denn ich kenne den Wert unseres Meisters und weiß, daß keiner von diesen ihm gefährlich werden könnte, wenn aber doch ein anderer, ein Unbekannter käme? Den einen Wunsch hätte ich dann: den Ruhm des Andern zu sehen und Messer Leonardo zu zeigen, daß auch solche Geschöpfe, die wie ich aus Gnade verschont worden sind, einen anderen ihm vorziehen können; dies würde ihn tötlich verletzen, denn trotz seines Schafpelzes, trotz seines Mitleids und seiner Liebe hat er noch immer einen teuflischen Hochmut! ...«
Cesare stockte und kam nicht weiter. Giovanni fühlte, wie er mit seiner zitternden Hand die seinige ergriff.
»Ich weiß,« sagte Cesare mit veränderter Stimme, die nun beinahe schüchtern und flehend klang. »Ich weiß, daß du unmöglich von selbst darauf kommen konntest. Wer hat dir gesagt, daß ich ihn liebe? ...«
»Er selbst,« erwiderte Beltraffio.
»Er selbst? So, so!« sagte Cesare ganz bestürzt. »Er glaubt also ...«
Seine Stimme stockte.
Sie blickten einander an und begriffen, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten und daß jeder zu sehr mit den eigenen Gedanken und Qualen beschäftigt war.
Am nächsten Kreuzwege trennten sie sich schweigend und ohne Abschied zu nehmen.
Giovanni setzte mit unsicheren Schritten seinen Weg fort. Er ging mit gesenktem Kopf, ohne auf den Weg zu achten, über die leeren Gelände am langen geraden Kanal, in dessen schwarzem, gleichsam gußeisernem Wasser sich kein einziger Stern spiegelte. Er blickte stier vor sich hin und wiederholte wie wahnsinnig:
»Doppelgänger ... Doppelgänger ...«
Anfang März 1499 erhielt Leonardo vom herzoglichen Rentamt ganz unerwartet das Gehalt für die letzten zwei Jahre.
Um jene Zeit war das Gerücht verbreitet, daß Moro, der von der Nachricht von dem zwischen Venedig, dem Papste und dem König geschlossenen, gegen ihn gerichteten Dreibund aufs tiefste erschüttert worden war, sich entschlossen habe, beim ersten Auftauchen der französischen Truppen in der Lombardei zum Kaiser nach Deutschland zu fliehen. Um sich nun die Treue der Untertanen für die Zeit seiner Abwesenheit zu sichern, ermäßigte er die Steuern und Zölle, bezahlte seine Schulden und beschenkte die Höflinge.
Etwas später erhielt Leonardo einen neuen Beweis der herzoglichen Huld:
»Ludovicus Maria Sforza, der Herzog von Mediolanum, verleiht dem vortrefflichen Künstler, dem Florentiner Leonardus Quintius, sechzehn Joch Ackerland und einen Weinberg, der vom Kloster des heiligen Viktor, genannt ›Vorstadtkloster‹, in der Nähe des Vercellina-Tores erworben worden ist.« so hieß es in der Schenkungsurkunde.
Der Künstler begab sich ins Schloß, um dem Herzog zu danken. Die Audienz war für den Abend angesetzt. Leonardo aber mußte bis tief in die Nacht warten, denn Moro hatte eine große Menge von Geschäften zu erledigen. Den ganzen Tag hatte er in langweiligen Unterredungen mit den Rentmeistern und Sekretären verbracht, hatte Rechnungen über Kriegsvorräte, Kanonen, Munition und Pulver geprüft; in dem weit ausgedehnten Netz von Betrug und Verrat, in dem er sich wohl fühlte, wie die Spinne in ihrem Netz, solange er darin Herr war, und in dem er sich jetzt wie eine gefangene Fliege vorkam, hatte er alte Knoten entwirrt und neue geknüpft.
Als er endlich mit diesen Arbeiten fertig war, begab er sich in die über einem der Graben des Mailänder Schlosses erbaute Galerie Bramante.
Die Nacht war still. Das Schweigen wurde nur von Trompetensignalen, den gedehnten Rufen der Wachtposten und dem eisernen Klirren der rostigen Ketten der Zugbrücke unterbrochen.
Der Page Ricciardetto steckte in die eisernen Wandarme zwei Fackeln und reichte dem Herzog einen goldenen Teller mit feingeschnittenem Brot. Zwei vom Lichtscheine angelockte weiße Schwäne schwammen über den schwarzen Wasserspiegel langsam gleitend heran. Der Herzog lehnte sich an die Brüstung, warf Brotstückchen ins Wasser und erfreute sich am Anblick der Schwäne, die das Futter auffingen und das Wasser lautlos mit ihren Brüsten durchschnitten.
Die Tiere waren ein Geschenk der Markgräfin Isabella d'Este, der Schwester der verstorbenen Beatrice und stammten aus den flachen stillen Gewässern des Mincio bei Mantua, in denen von altersher viele Schwäne nisteten.
Moro hatte sie immer geliebt, in der letzten Zeit hatte er aber eine ganz besondere Vorliebe für sie. Er fütterte sie eigenhändig, Abend für Abend; dies war seine einzige Erholung von den quälenden Gedanken über geschäftliche Dinge, über Krieg, Politik und eigenen sowie fremden Verrat. Die Schwäne brachten ihm seine Jugend in Erinnerung; auch als Kind pflegte er in den schläfrigen grün überwucherten Teichen Vigevanos Schwäne zu füttern.
Hier in diesem Schloßgraben, zwischen den drohenden Schießscharten, Türmen, Pulverlagern, Kugelpyramiden und Kanonen, von bläulich-silbernem Mondlicht übergossen, erschienen die reinen, weißen stillen Schwäne noch schöner. Das Wasser, das unter ihnen den Himmel spiegelte, war selbst fast ganz unsichtbar und sie glitten schwankend zwischen den Steinen geheimnisvoll wie Gespenster dahin; sie schwebten gleichsam zwischen zwei Himmeln, den beiden gleich nahe und gleich ferne.
Hinter dem Herzog ging eine kleine Tür auf und der Cameriere Pusterla blickte hinein. Mit ehrfurchtsvoller Verbeugung näherte er sich dem Herzog und reichte ihm ein Schriftstück.
»Was ist es?« fragte der Herzog.
»Der Hauptschatzmeister Messer Borgonzio Botto schickt eine Rechnung über Munition, Pulver und Kugeln. Er läßt sich sehr entschuldigen, daß er Ew. Hoheit um diese Stunde noch belästigen muß. Aber die Vorräte müssen beim Tagesanbruch nach Mortara geschickt werden ...«
Moro ergriff das Papier, ballte es zusammen und warf es fort.
»Wie oft habe ich dir gesagt, daß man mich nach der Abendtafel mit keinerlei Geschäften belästigen soll! Mein Gott, mir scheint, sie werden mir bald auch nachts im Bette keine Ruhe gönnen! ...«
Der Cameriere zog sich, nach rückwärts schreitend, zur Türe zurück und sagte so leise, daß es der Herzog, wenn er wollte, auch überhören könnte:
»Messer Leonardo.«
»Ach ja, Leonardo! Warum hast du mich nicht schon früher daran erinnert. Er soll eintreten.«
Er wandte sich wieder den Schwänen zu und dachte:
»Leonardo stört mich nicht.«
Auf dem gelben, gedunsenen Gesicht Moros mit den feinen, listigen und gierigen Lippen erschien plötzlich ein gutmütiges Lächeln.
Der Herzog fuhr fort, Brotstücke ins Wasser zu werfen, und als der Künstler die Galerie betrat, richtete er auf ihn die Augen mit dem gleichen Lächeln, mit dem er eben den Schwänen zugeschaut hatte.
Leonardo wollte vor ihm ein Knie beugen; doch Moro hielt ihn davon ab und drückte ihm einen Kuß auf die Stirne.
»Guten Abend! Wir haben uns lange nicht gesehen, wie geht es, Freund?«
»Ich muß mich bei Ew. Durchlaucht bedanken ...«
»Laß doch! Bist du denn solcher Geschenke würdig? Laß mir nur Zeit: ich werde dich schon in ganz anderer Weise zu belohnen wissen.«
Er sprach mit dem Künstler von seinen letzten Arbeiten, Erfindungen und Plänen und gerade von solchen, die dem Herzog ganz unmöglich und phantastisch erschienen: so von der Taucherglocke, den Wasserschuhen und den menschlichen Flügeln. So oft aber Leonardo die Rede auf die laufenden Arbeiten brachte und von der Befestigung des Schlosses, dem Martesanakanal und dem Guß des Sforzamonuments sprach, winkte er wie angeekelt und gelangweilt ab.
Plötzlich wurde er nachdenklich, verstummte und ließ den Kopf sinken; solche Zustände hatte er in der letzten Zeit öfters. Sein Gesicht nahm einen so weltfremden und gespannten Ausdruck an, als ob er den Gast ganz vergessen hätte.
Leonardo nahm Abschied.
»Lebe wohl! Lebe wohl!« nickte ihm der Herzog zerstreut zu. Als aber der Künstler schon bei der Türe war, rief er ihn zurück, näherte sich ihm und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Er blickte ihn lange mit traurigen Augen an und sagte mit bebender Stimme:
»Lebe wohl, lebe wohl, mein Leonardo! Wer weiß, ob wir uns unter vier Augen je wiedersehen werden? ...«
»Hoheit wollen uns verlassen?«
Moro holte tief Atem und sagte nichts.
»So stehen die Sachen, mein Freund,« sagte er nach einer längeren Pause. »Sechzehn Jahre haben wir zusammen gelebt, ich habe von dir nur Gutes erfahren und ich glaube, daß auch du mir nichts vorwerfen kannst. Die Leute mögen sagen, was sie wollen, wenn aber in späteren Jahrhunderten jemand Leonardo nennen wird, so wird er auch des Herzogs Moro gedenken müssen.«
Der Künstler war kein Freund von Zärtlichkeiten; er sprach daher auch jetzt den einzigen Satz, den er bei allen Gelegenheiten, die höfliche Redensarten erheischten, anzuwenden pflegte:
»Signore, ich wünschte, ich hätte mehrere Leben, um sie dem Dienste Ew. Durchlaucht zu weihen.«
»Ich glaube es dir,« sagte Moro. – »Einmal wirst du auch meiner mit Mitleid gedenken ...«
Er kam nicht weiter, schluchzte auf und umarmte und küßte den Künstler.
»Nun, helfe dir Gott, helfe dir Gott! ...«
Als Leonardo fort war, saß Moro noch lange in der Galerie Bramante und beobachtete die Schwäne. Sein Herz war von einem Gefühl erfüllt, das er in keine Worte kleiden konnte. Er dachte daran, wie ihm Leonardo in seinem finsteren, vielleicht verbrecherischen Leben wie ein weißer Schwan erschienen sei, einer von denen, die jetzt vor ihm über das schwarze Wasser des Festungsgrabens, zwischen den drohenden Schießscharten, Türmen, Pulverlagern, Kugelpyramiden und Kanonen vorüberglitten, – wie diese nutzlos und schön, rein und keusch.
In der Stille der Nacht vernahm man nur, wie von den heruntergebrannten Fackeln die Tropfen fielen. In dem rötlichen Fackelschein, der mit dem blauen Mondlicht zusammenfloß, schaukelten die Schwäne, geheimnisvoll wie Gespenster; von Sternen umgeben, zwischen den beiden Himmeln, beiden gleich nahe und gleich ferne – schlummerten sie, wie ihre Doppelgänger im schwarzen Wasserspiegel.
Trotz der späten Nachtstunde begab sich Leonardo direkt vom Herzog ins Kloster San Franzesco, wo sich sein kranker Schüler Giovanni Beltraffio befand. Vor vier Monaten, gleich nach seinem Gespräch mit Cesare über die beiden Christusköpfe, war er an einem hitzigen Fieber erkrankt.
Es war Ende Dezember 1498, als Giovanni einmal seinen früheren Lehrer Fra Benedetto besuchte und bei ihm den aus Florenz zugereisten Dominikanermönch Fra Pagolo kennen lernte. Auf Bitten Benedettos und Giovannis erzählte er ihnen über Savonarolas Tod.
Die Hinrichtung war für den 23. Mai 1498 um neun Uhr morgens festgesetzt. Sie fand auf dem gleichen Signoria-Platze vor dem Palazzo Vecchio statt, wo sich auch die Verbrennung der Eitelkeiten und die Feuerprobe abgespielt hatten.
Am Ende eines langen Brettersteges war ein Scheiterhaufen errichtet und über ihm erhob sich der Galgen – ein in die Erde eingerammter Pfosten mit einem Querbalken, an dem drei Schlingen und Eisenketten befestigt waren. Die Arbeiter mühten sich vergeblich mit dem Querbalken ab: bald verkürzten sie, bald verlängerten sie ihn, – aber der Galgen blieb immer einem Kreuze ähnlich.
Der Platz, die Loggien, Fenster und Dächer waren wie am Tage der Feuerprobe von unzähligen Menschenmassen gefüllt.
Aus dem Tore des Palazzo traten die Delinquenten – Girolamo Savonarola, Dominica Buonvincini und Silvestro Maruffi.
Sie gingen über den Steg und blieben vor der Tribüne des von Papst Alexander VI. gesandten Bischofs stehen. Der Bischof erhob sich, ergriff die Hand des Fra Girolamo und sprach mit unsicherer Stimme den Text der Exkommunikation. Er wagte nicht, seine Augen auf Savonarola zu heben, aber dieser sah ihm gerade ins Gesicht. Die letzten Worte sprach er falsch:
» Separo te Ecclesia militante atque triumphante – Ich stoße dich aus der streitenden und sieghaften Kirche aus.«
»Militante, non triumphante, hoc enim tuum non est« verbesserte ihn Savonarola: »Aus der streitenden, aber nicht sieghaften, denn dieses ist nicht in deiner Macht.«
Den Exkommunizierten wurden die Kleider vom Leibe gerissen und sie setzten halbnackt, nur mit dem Hemd bekleidet, ihren Weg fort, sie mußten noch zweimal stehen bleiben: einmal vor der Tribüne der apostolischen Kommissäre, die ihnen den Beschluß des geistlichen Gerichts vorlasen und dann noch vor der der Acht Männer der Florentinischen Republik, die ihnen im Namen des Volkes das Todesurteil verkündeten.
Auf der letzten Strecke stolperte Fra Silvestro und fiel beinahe hin; auch Dominico und Savonarola stolperten an der gleichen Stelle: später stellte sich heraus, daß einige Gassenjungen, frühere Soldaten des heiligen Heeres der Kinderinquisition, sich unter den Steg geschlichen und durch die Ritzen zwischen den Brettern spitze Stöcke gesteckt hatten, um den zum Tode verurteilten Mönchen die Füße zu verwunden.
Der geisteskranke Fra Silvestro Maruffi mußte als erster den Galgen besteigen. Als er die Leiter emporkletterte, bewahrte er seinen blöden Gesichtsausdruck und schien gar nicht zu verstehen, was mit ihm vorging. Als aber der Henker ihm die Schlinge um den Hals gelegt hatte, hob er seine Augen gen Himmel und rief:
»Herr, in deine Hände befehle ich meinen Geist!«
Und dann sprang er selbst ohne Hilfe des Henkers verständig und furchtlos von der Leiter.
Fra Dominico trat, von freudiger Ungeduld erfüllt, von einem Fuß auf den andern; als ihm der Henker heranwinkte, stürzte er so ungestüm und mit solch einem glücklichen Lächeln zum Galgen, als gelte es ins Paradies einzutreten.
Silvestro hing an einem Ende des Querbalkens, Dominico am andern. Der Platz in der Mitte war für Savonarola bestimmt.
Er kletterte die Leiter hinauf, blieb oben stehen und senkte seinen Blick auf das Volk.
Es trat ebensolche Stille ein, wie einst im Dome Maria del Fiori vor seiner Predigt. Als er aber seinen Kopf in die Schlinge steckte, rief ihm jemand zu:
»Prophet, zeige uns ein Wunder!«
Es war niemandem klar, ob es Hohn oder ein Schrei wahnsinnigen Glaubens gewesen war.
Der Henker stieß ihn von der Leiter.
Ein alter Handwerker mit einem gutmütigen, frommen Gesicht, der seit einigen Stunden am Scheiterhaufen darauf gelauert hatte, bekreuzigte sich beim Anblick des hängenden Fra Girolamo und steckte eine brennende Fackel in den Scheiterhaufen. Er tat es mit den gleichen Worten, mit denen Savonarola einst den Scheiterhaufen mit den Eitelkeiten und Anathemas in Brand gesteckt hatte:
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes!«
Die Flammen loderten auf. Doch der Wind trieb sie zur Seite. Durch die Menge ging eine Bewegung. Die Leute drängten einander und flohen von Schrecken erfaßt? Man hörte schreien:
»Ein Wunder! Ein Wunder! Ein Wunder! Sie brennen nicht!«
Aber der Wind legte sich. Die Flammen schlugen wieder hoch und ergriffen die Leichen. Der Strick, mit dem die Hände des Fra Girolamo gefesselt waren, verkohlte, die Hände lösten sich, fielen herab und regten sich im Feuer; und vielen schien es, daß Savonarola zum letzten Male das Volk segne.
Als der Scheiterhaufen abbrannte und an den eisernen Ketten nur noch verkohlte Knochen und Fleischstücke hingen, drängten sich Savonarolas Schüler zum Galgen, um die sterblichen Reste der Märtyrer aufzulesen. Die Wachen trieben sie zurück und brachten die Asche auf einem Wagen zum Ponte Vecchio, um sie in den Fluß zu werfen. Doch gelang es den »Greinern«, einige Prisen Asche und Teile des Herzens Savonarolas, das angeblich unversehrt geblieben, zu erhaschen.
Schließlich zeigte Fra Pagolo seinen Zuhörern einen kleinen Beutel mit jener Asche. Fra Benedetto küßte lange die Reliquie und benetzte sie mit seinen Tränen.
Die beiden Mönche gingen zur Vesper. Giovanni blieb allein zurück.
Als sie zurückkehrten, fanden sie Giovanni bewußtlos auf dem Fußboden vor dem Kruzifix liegen; in seinen starren Fingern hielt er die Reliquie.
Drei Monate lang schwebte Giovanni zwischen Leben und Tod. Fra Benedetto verließ ihn keinen Augenblick.
Oft durchwachte er ganze Nächte am Bette des Kranken. Er lauschte seinen Fieberphantasien und ein Grauen überkam ihn zuweilen.
Giovanni phantasierte über Savonarola, Leonardo da Vinci und die heilige Jungfrau, die mit ihrem Finger im Wüstensande geometrische Figuren zeichnete und so das Jesuskind in den Gesetzen der ewigen Notwendigkeit unterrichtete.
»Warum betest du?« wiederholte immer wieder der Kranke, sich unsagbar quälend. »Weißt du denn nicht, daß es keine Wunder gibt und daß dich dein Kelch ebenso gewiß erreichen wird, wie die Gerade der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist?«
Auch ein anderes Gesicht schien ihn zu quälen: er sah zwei entgegengesetzte und doch einander wie Doppelgänger gleichende Christusantlitze vor sich: das eine voller menschlicher Leiden und Ohnmacht, das Antlitz dessen, der auf dem Ölberge um ein Wunder gebetet hatte; das andere – erschreckend und fremd, das Antlitz des Allwissenden und Allmächtigen, des Wortes, das Fleisch ward, – das Antlitz des Urhebers der ersten Bewegung. Beide standen einander gegenüber wie zwei Gegner in ewigem Zweikampfe. Und als Giovanni genauer hinsah, verdunkelte und verzerrte sich das Antlitz des Leidenden und Demütigen, es glich immer mehr dem Antlitze jenes Dämons, den Leonardo einst in seiner Karrikatur auf Savonarola dargestellt hatte; und er erhob Klage gegen seinen Doppelgänger und nannte ihn den Antichristen ...
Fra Benedetto rettete das Leben Beltraffios. Als dieser sich Anfang Juni 1499 so weit erholt hatte, daß er wieder gehen konnte, kehrte er, trotz aller Ermahnungen und Bitten des Mönches, in die Werkstatt Leonardos zurück.
Ende Juli des gleichen Jahres überschritt das Heer des Königs Ludwig XII. von Frankreich unter dem Oberbefehl der Herren Aubigny, Louis Luxembourg und Gian-Jacopo Trivulzio die Alpen und kam in die Lombardei.