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Die Verbrennung aller Eitelkeit
Beltraffio war schon über ein Jahr lang Novize im Kloster San Marco.
Girolamo Savonarola saß eines Nachmittags in den letzten Karnevalstagen des Jahres 1496 in seiner Zelle an seinem Arbeitstisch und schrieb sich das Gesicht auf, das ihm neulich von Gott gesandt war: Er sah über Rom zwei Kreuze schweben, das eine schwarz in einem todbringenden Sturmwinde mit der Inschrift: »Kreuz des göttlichen Zorns«, das andere leuchtend im Himmelsblau mit der Inschrift »Kreuz der göttlichen Barmherzigkeit«.
Er fühlte sich müde und von Fieberfrost durchschüttelt. Er legte die Feder fort, stützte seinen Kopf in die Hände, schloß die Augen und begann über den Bericht nachzudenken, den ihm an diesem Morgen der von ihm nach Rom gesandte und soeben nach Florenz zurückgekehrte fromme Fra Pagolo über das Leben des Papstes Alexander VI. erstattet hatte.
Ungeheuerliche Bilder, wie Gesichter der Apokalypse, tauchten vor ihm auf. Er sah den roten Stier aus dem Familienwappen der Borgias, ein Ebenbild des altägyptischen Apis; das goldene Kalb, das dem römischen Hohenpriester an Stelle des sanften Lammes Gottes dargebracht wird; die schamlosen nächtlichen Spiele, die nach dem Mahle in den vatikanischen Sälen vor dem heiligen Vater, seiner Tochter und den Kardinälen aufgeführt werden; die schöne blutjunge Maitresse des sechzigjährigen Papstes, Julia Farnese, die auf den Heiligenbildern in Gestalt der heiligen Jungfrau verherrlicht wird; die beiden ältern Söhne Alexanders – Don Cesare, Kardinal von Valencia und Don Juan, den Bannerträger der römischen Kirche, die einander aus sündhafter Lust zu ihrer Schwester Lucrezia nach dem Leben trachten.
Girolamo zitterte, als er wieder daran dachte, was ihm Fra Pagolo kaum ins Ohr zu sagen wagte: an die blutschänderische Leidenschaft des Vaters zur Tochter, des alten Papstes zu Madonna Lucrezia.
»Nein, nein, bei Gott, ich kann es nicht glauben ... Es ist Verleumdung ... Es kann ja nicht sein!« wiederholte er vor sich hin, und zugleich fühlte er, daß in dem schrecklichen Neste der Borgias alles möglich sei.
Auf die Stirne des Mönchs trat kalter Schweiß. Er fiel in die Knie vor dem Kruzifix.
Da wurde ganz leise an die Tür geklopft.
»Wer ist da?«
»Ich bin es, Vater!«
Girolamo erkannte die Stimme seines Gehilfen und treuen Freundes, des Fra Dominico Buonvicini.
»Der ehrenwerte Ricciardo Becchi, der Bevollmächtigte des Papstes, bittet dich, ihm eine Unterredung zu gewähren.«
»Gut. Er soll warten, schick mir jetzt den Bruder Silvestro.«
Silvestro Maruffi war ein geisteskranker Mönch, der an Epilepsie litt. Girolamo hielt ihn für das auserwählte Gefäß der göttlichen Gnade; er liebte und fürchtete ihn und legte seine Gesichte nach allen Regeln der verfeinerten Scholastik des großen Meisters der Schule – Thomas von Aquino – aus. Mit Hilfe spitzfindiger Deduktionen, logischer Sätze, Enthymemen, Apophthegmen und Syllogismen fand er prophetischen Sinn in den Worten, die den andern als sinnloses Lallen eines verrückten erschienen. Maruffi zeigte gar keine Ehrfurcht vor seinem Abte; oft beschimpfte er ihn in Gegenwart der andern Mönche; zuweilen schlug er ihn sogar. Girolamo nahm diese Beleidigungen demütig hin und gehorchte ihm in allen Dingen, wenn das Volk von Florenz in der Gewalt Girolamos war, so war Girolamo seinerseits in der Gewalt des geisteskranken Maruffi.
Fra Silvestro erschien bald in Girolamos Zelle. Er setzte sich in die Ecke auf den Boden und begann, seine nackten roten Füße kratzend, ein eintöniges Lied zu summen. Sein sommersprossenbedecktes Gesicht mit einer nadelspitzen Nase, hängender Unterlippe und tränenden trüben flaschengrünen Augen hatte einen stumpfen und unfreundlichen Ausdruck.
»Bruder,« sagte Girolamo, »es ist aus Rom ein Bote des Papstes gekommen. Sage mir, ob ich ihn empfangen und was ich ihm sagen soll, hast du schon vielleicht darüber ein Gesicht gehabt oder eine Stimme vernommen?«
Maruffi schnitt eine Grimasse, bellte wie ein Hund und grunzte wie ein Schwein. Er hatte die Fähigkeit, alle Tierstimmen nachzuahmen.
»Lieber Bruder,« flehte Savonarola, »sei so gut und sage ein Wort! Meine Seele ist bange wie vor dem Tode. Bete zu Gott, daß er dir prophetischen Geist sende ...«
Der Verrückte streckte die Zunge aus, sein Gesicht verzerrte sich.
»Was willst du von mir, du verdammter Pfeifer, du blödsinnige Wachtel, du Schafskopf?! Daß dir die Ratten die Nase abnagen!« schrie er plötzlich mit unerwarteter Gehässigkeit, »hast es dir selbst eingebrockt, so löffele es auch selbst aus. Ich bin nicht dein Prophet und nicht dein Ratgeber!«
Er blickte Savonarola mürrisch an und fuhr dann mit veränderter Stimme etwas freundlicher und stiller fort:
»Du tust mir leid, Bruder, du tust mir leid mit deiner Dummheit! ... Warum glaubst du auch, daß meine Gesichte von Gott kommen, und nicht vom Teufel?«
Er verstummte und schloß die Augen. Sein Gesicht wurde unbeweglich, es schien beinahe tot. Savonarola hoffte, er würde nun ein Gesicht haben und hielt in andächtiger Erwartung inne. Maruffi öffnete wieder die Augen, wandte seinen Kopf gleichsam lauschend zur Seite, blickte zum Fenster und sagte mit gutmütigem, heiterem, beinahe kindlichem Lächeln:
»Vögel! Hörst du, wie sie singen? Auf den Feldern gibt es jetzt wohl Gras und gelbe Blümchen. Ja, Bruder Girolamo, hast hier schon genug gehetzt, deinen Hochmut hast du gesättigt und auch dem Teufel Freude gemacht! Nun ist es genug. Mußt ja auch an Gott denken, wir wollen beide die verdammte Welt verlassen und in die süße Wüste ziehen!«
Und dann sang er mit leiser angenehmer Stimme, seinen Oberkörper langsam hin und her wiegend, das Lied:
Wir ziehen in den grünen Wald,
Wo unterm Blätterdach
So süß des Pirols Lied erschallt,
So lieblich rauscht der Bach.
Plötzlich sprang er, mit den eisernen Ketten klirrend, die er zur Selbstkasteiung am Körper trug, auf, lief auf Savonarola zu, ergriff seine Hand und flüsterte keuchend vor Wut:
»Ich habe etwas gesehen, gesehen, gesehen! ... Du Teufelssohn, Eselskopf, daß die Ratten dir die Nase abnagen, – ich habe etwas gesehen! ...«
»Was denn? Lieber Bruder, sag es rasch ...«
»Feuer! Feuer!« erwiderte Maruffi.
»Nun, und was weiter?«
»Das Feuer eines Scheiterhaufens,« fuhr Silvestro fort, »und darin einen Menschen! ...«
»Wen?« fragte Girolamo.
Maruffi nickte und zögerte etwas mit der Antwort. Er bohrte seine durchdringenden grünen Augen in die des Savonarola, lachte leise, wie ein Verrückter, in sich hinein, neigte sich dann zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr:
»Dich!«
Girolamo fuhr zusammen und wankte zurück.
Maruffi erhob sich und verließ die Zelle, seine Ketten klirrten und er summte das Liedchen:
Wir ziehen in den grünen Wald,
Wo unterm Blätterdach
So süß des Pirols Lied erschallt,
So lieblich rauscht der Bach.
Als Girolamo seine Fassung wieder erlangt hatte, ließ er den päpstlichen Bevollmächtigten Ricciardo Becchi rufen.
Mit seinem langen sutanenähnlichen seidenen Kleid rauschend, das in der Modefarbe des Märzveilchens leuchtete, lange venetianische Ärmel hatte und mit schwarzbraunem Fuchspelz besetzt war, und den Duft von Moschusambra um sich verbreitend, trat in Savonarolas Zelle der Skriptor der heiligsten apostolischen Kanzlei. In seinen Bewegungen, im klugen majestätisch-verbindlichen Lächeln, in den klaren, fast aufrichtigen Blicken und in den freundlich lächelnden Grübchen seiner frischen glattrasierten Wangen hatte Messer Ricciardo Becchi jene salbungsvolle Sanftmut, die allen Würdenträgern des römischen Hofes eigen ist.
Er bat den Prior von San Marco um seinen Segen, wobei er sich mit einer beinahe höfischen Gewandtheit verbeugte, küßte seine magere Hand und begann im schönsten Latein und in langen, sich elegant entwickelnden ciceronischen Sätzen seine Rede.
Er begann mit einer weitschweifenden Einleitung, die in der Redekunst »Captatio benevolentiae« – »Suchen nach Wohlwollen« heißt, erwähnte den großen Ruhm des Florentiner Predigers und ging dann direkt zur Sache über: der heilige Vater sei durch die hartnäckige Weigerung des Fra Girolamo, nach Rom zu kommen, mit Recht erzürnt; da er aber von brennendem Eifer für das Wohl der Kirche erfüllt sei, und die vollkommene Einigung aller Treuen in Christo anstrebe, so wolle er den Sünder nicht strafen, sondern retten, und so sei er in seiner väterlichen Güte bereit, ihm, Savonarola, falls er Reue zeige, seine Gnade wieder zuzuwenden.
Der Mönch blickte ihn an und sagte mit leiser Stimme:
»Messere, wie denkt Ihr: Glaubt der heiligste Vater an Gott?«
Ricciardo tat so, als hätte er diese unschickliche Frage nicht gehört, oder mit Absicht überhört und fuhr in seiner Rede fort. Er bemerkte nebenbei, daß den Frater Girolamo, falls er sich unterwerfe, die höchste Würde der kirchlichen Hierarchie – der rote Kardinalshut erwarte und fügte mit einschmeichelndem Lächeln, sich rasch zum Mönche neigend und mit dem Finger auf seine Hand tippend, hinzu:
»Nur ein Wörtchen, Vater Girolamo, nur ein Wörtchen – und der rote Hut ist Euer!«
Savonarola sah ihn mit seinem unbeweglichen Blick an und sagte:
»Wenn ich mich aber nicht unterwerfe, Messere, und nicht schweige, was dann? Wenn der dumme Mönch die Ehre des römischen Purpurs zurückweist, wenn er sich nicht mit dem roten Hut ködern läßt, wenn er auch ferner, das Haus seines Herrn bewachend, wie ein treuer unbestechlicher Hund bellen wird? Was dann, Messere?«
Ricciardo blickte ihn überrascht an. Er verzog etwas sein Gesicht, hob die Brauen und vertiefte sich in die Betrachtung seiner glatten, mandelförmigen Fingernägel. Nachdem er auch noch die Ringe an seinen Fingern zurechtgeschoben, holte er mit langsamer ruhiger Bewegung ein Schriftstück aus der Tasche, das er entfaltete und dem Prior reichte. Es war eine bis auf die Unterschrift und das große Fischersiegel fertige Exkommunikation des Bruders Girolamo Savonarola, den der Papst unter anderm einen Sohn der Verderbnis und das verabscheuungswürdigste Insekt – nequissimum omnipedum – nannte.
»Wartet Ihr auf Antwort?« fragte der Mönch, nachdem er die Bulle gelesen.
Der Skriptor nickte stumm mit dem Kopf.
Savonarola richtete sich in seiner ganzen Größe auf und warf die päpstliche Bulle dem Gesandten vor die Füße.
»Hier ist meine Antwort! Geht nach Rom und richtet aus, daß ich die Herausforderung zum Zweikampf mit dem Papst-Antichrist annehme, wir wollen sehen, ob er mich exkommuniziert, oder ich ihn!«
Die Türe der Zelle ging leise auf und Fra Dominico blickte herein. Er hatte die erhobene Stimme des Priors gehört und wollte nun sehen, was los sei. An der Türe drängten sich die andern Mönche.
Ricciardo, der schon einigemal auf die Türe geschielt hatte, bemerkte höflich:
»Ich erlaube mir Euch zu erinnern, Fra Girolamo, daß ich nur zu einer Unterredung unter vier Augen bevollmächtigt bin ...«
Savonarola ging zur Türe und machte sie weit auf.
»Hört!« rief er mit lauter Stimme. »Hört alle, denn nicht nur vor euch allein, meine Brüder, sondern auch vor dem ganzen Volke von Florenz will ich diesen schmählichen Handel aufdecken, und die Wahl zwischen Exkommunikation und Kardinalspurpur, die mir angetragen wird, zeigen!«
Seine tiefliegenden Augen glühten unter der niederen Stirne wie Kohlen. Sein häßlicher Unterkiefer trat bebend hervor.
»Die Zeit ist gekommen! Ich ziehe gegen euch aus, ihr Kardinäle und römischen Prälate, wie gegen Heiden! Ich werde den Schlüssel im Schlosse umdrehen und die teuflische Truhe öffnen, da wird ein Gestank eurem Rom entsteigen, daß die Menschen ersticken werden. Ich werde Worte sprechen, vor denen ihr erbleichen werdet, die Welt wird in ihren Grundfesten erbeben und die von euch gemordete Kirche Gottes wird meine Stimme vernehmen: Lazarus, komm heraus! – und sie wird sich erheben und aus ihrem Grabe herauskommen ... Ich will nicht eure Bischofskronen und Kardinalshüte! Den einen roten Hut des Todes, den blutigen Kranz deiner Märtyrer, begehre ich, o Herr!«
Er fiel in die Knie und streckte seine Hände weinend zum Kruzifixe aus.
Ricciardo benutzte den Augenblick der Verwirrung, schlüpfte geschickt aus der Zelle und machte sich eiligst aus dem Staube.
Unter den Mönchen, die Fra Girolamo zugehört hatten, befand sich auch der Novize Giovanni Beltraffio.
Als die Brüder sich zerstreuten, ging auch er die Treppe zum großen Klosterhof hinunter und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz in einem langen Kreuzgang, wo es um diese Stunde stets still und einsam war.
Zwischen den weißen Klostermauern wuchsen Lorbeerbäume und Cypressen; da war auch ein Busch Damascener Rosen, in dessen Schatten Girolamo mit besonderer Vorliebe zu predigen pflegte. Eine Sage erzählte, daß diese Rosen nachts von Engeln begossen würden.
Der Novize schlug den Brief des Apostel Paulus an die Korinther auf und las die Stelle:
»Ihr könnt nicht zugleich trinken des Herrn Kelch und der Teufel Kelch; ihr könnt nicht zugleich teilhaftig sein des Herrn Tisch und des Teufels Tisch.«
Er stand auf und begann im Kreuzgang auf und abzugehen. Alle Gedanken und Gefühle, die er im letzten Jahre seines Noviziats im Kloster erfahren, gingen ihm jetzt durch den Kopf.
In der ersten Zeit berauschte er sich an der großen geistigen Seligkeit, wie die andern Schüler Savonarolas. Vater Girolamo führte sie zuweilen vor die Stadtmauern. Sie stiegen auf einem schmalen steilen Pfad, der in den Himmel zu führen schien, auf die Höhen von Fiesole, von wo man Florenz zwischen den Hügeln im Arnotale liegen sehen konnte. Der Prior setzte sich auf eine grüne Wiese, wo es viele Veilchen, Maiglöckchen und Schwertlilien gab und wo es nach dem Harze der von der Sonne erwärmten jungen Cypressen roch. Die Mönche ließen sich im Grase zu seinen Füßen nieder, sie wanden Kränze, plauderten, tanzten und sprangen herum wie die Kinder, während andere die Geige, Bratsche und Viola spielten; diese Instrumente glichen denjenigen, mit denen Fra Beato seine Engelschöre darzustellen pflegte.
Savonarola belehrte sie nicht und hielt auch keine Predigten. Er unterhielt sich nur liebevoll mit ihnen, spielte und lachte wie ein Kind. Giovanni sah dieses Lächeln, das auf Girolamos Gesicht leuchtete. Es war ihm, als glichen sie in dem einsamen von Musik und Gesang erfüllten Haine, auf der vom blauen Himmel umgebenen Fiesole-Höhe den Engeln Gottes im Paradiese.
Savonarola blickte vom Rande des Abhanges so liebevoll auf Florenz, das in Morgennebel gehüllt dalag, wie die Mutter auf ihr schlafendes Kind blickt. Das erste Glockengeläute ließ sich hier oben wie das Lallen eines Kindes aus dem Schlafe vernehmen.
Aber in den Sommernächten, wenn die Leuchtkäfer wie stille Kerzenflammen unsichtbarer Engel durch die Luft zogen, stand Girolamo im Hofe von San Marco unter dem duftenden Busche der Damascener Rosen und erzählte den Brüdern von den blutigen Stigmaten, den Wunden himmlischer Liebe auf dem Leibe der heiligen Katharina von Siena, die den Wunden des Herrn glichen und süß wie Rosen dufteten. Die Mönche sangen:
Laß mich süße Schmerzen trinken.
Die vom Marterkreuze winken,
Schmerzen, die der Heiland litt!
Da ersehnte sich Giovanni das Wunder, von dem Girolamo erzählt hatte, und wünschte, daß aus dem Abendmahlkelche Feuerstrahlen kommen und auch in seinem Körper wie mit glühendem Eisen Kreuzeswunden brennen möchten. Er verging vor süßer Sehnsucht und seufzte:
Gesù, Gesù, amore!
Einst schickte ihn Savonarola, wie er es oft auch mit den andern Novizen tat, zur Pflege eines Schwerkranken in die Villa Carreggi, die zwei Stunden von Florenz entfernt war und am südlichen Abhang des Ucelatojo-Hügels lag, in dieselbe Villa, wo sich oft Lorenzo Medici aufhielt und wo ihn auch der Tod ereilte. In einem der leeren und stummen Säle, die von den durch die Fensterspalten dringenden Strahlen schwach wie ein Grabgewölbe erleuchtet waren, sah Giovanni das Bild des Sandro Botticelli »Die Geburt der Göttin Venus«. Sie glitt über die Wellen, in einer Perlenmuschel stehend, ganz nackt und weiß, wie eine Wasserlilie, feucht und gleichsam den salzigen frischen Hauch des Meeres ausströmend. Die schweren goldenen Haarflechten wanden sich wie Schlangen. Sie drückte das Haar mit schamhafter Gebärde an ihre Lenden, ihr schöner Leib atmete Verführung und Sünde, während ihre unschuldigen Lippen und kindlichen Augen von heiliger Wehmut erfüllt waren.
Das Gesicht der Göttin kam Giovanni bekannt vor. Er blickte sie lange an und erinnerte sich plötzlich, die gleichen gleichsam verweinten Kinderaugen, das gleiche Gesicht und die gleichen unschuldigen Lippen mit dem Ausdrucke überirdischer Wehmut auf einem andern Bilde des gleichen Sandro Botticelli, das eine Madonna darstellte, gesehen zu haben. Unsagbare Verwirrung erfüllte seine Seele. Er schlug die Augen nieder und verließ die Villa.
Auf dem Heimwege nach Florenz gewahrte er in einer engen Gasse ein altes Kruzifix, das in einer Mauernische unter Rosen stand; er kniete vor ihm nieder und begann zu beten, um die Versuchung zu vertreiben. Hinter der Mauer, wohl unter dem Schatten der gleichen Rosenbüsche, erklang eine Mandoline; jemand schrie auf und eine Stimme flüsterte ängstlich:
»Nein, nein, laß mich ...«
»Mein Lieb!« erwiderte eine andere Stimme: »Mein liebes, liebes Mädchen! Amore!«
Die Mandoline fiel zu Boden, die Saiten klirrten und man hörte einen Kuß.
Giovanni sprang auf. Er rief: »Gesù! Gesù!« und wagte nicht das Wort »Amore« auszusprechen.
»Auch hier,« dachte er sich, »auch hier finde ich sie! Im Antlitze der Madonna, in den Worten der frommen Hymne, im Dufte der Rosen, die das Kruzifix beschatten!«
Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen und entfernte sich, als ob er vor unsichtbaren Feinden fliehen wollte.
Ins Kloster zurückgekehrt, begab er sich zu Savonarola und erzählte ihm sein Erlebnis. Der Prior gab ihm den gewöhnlichen Rat, den Teufel mit den Waffen des Fastens und des Gebetes zu bekämpfen. Als aber der Novize ihm zu beweisen versuchte, daß es nicht der Teufel der fleischlichen Wollust sei, der ihn versuche, sondern der Dämon des verführerischen heidnischen Geistes, da verstand ihn der Mönch nicht. Anfangs war er überrascht, dann sagte er streng und ernst, daß an den falschen heidnischen Göttern nichts außer Hochmut und unsauberer Wollust sei, welche Eigenschaften stets häßlich seien, denn die Schönheit wohne allein den christlichen Tugenden inne.
Giovanni verließ ihn, ohne Trost gefunden zu haben. An diesem Tage fuhr in ihn der Teufel des Trübsinns und der Empörung.
Einmal hörte er Fra Girolamo über Malerei sprechen; er verlangte von jedem Bild, daß es einen Zweck erfülle, indem es die Menschen belehre und sie auf heilsame Gedanken bringe. Wenn die Florentiner alle verführerischen Bilder durch Henkershand vernichten ließen, so würden sie damit ein gottgefälliges Werk tun.
Ähnlich waren auch seine Ansichten über die Wissenschaft. »Ein Narr ist,« sprach Savonarola, »wer da glaubt, daß man mit Logik und Philosophie die Wahrheiten des Glaubens stützen könne. Bedarf denn ein großes Licht der Unterstützung eines schwachen Lichtes und die göttliche Weisheit der menschlichen? Wußten denn die Apostel und Märtyrer etwas von Philosophie? Ein des Lesens unkundiges altes Weib, das voller Inbrunst vor dem Heiligenbilde betet, ist der Erkenntnis Gottes näher, als alle Weisen und Gelehrten. Denn am Tage des jüngsten Gerichts wird ihnen ihre Logik und Philosophie nicht helfen können! Homer und Virgil, Plato und Aristoteles – sie alle kommen in die Wohnung des Teufels. Sie sind wie die Sirenen, welche
Mit süßen Gesängen bestricken die Ohren,
Doch wer ihnen lauscht, ist für ewig verloren.
Die Wissenschaft gibt den Menschen statt Brot – Steine. Seht euch nur die Menschen an, die den Lehren dieser Welt folgen: sie alle haben Herzen von Stein.«
»Wer wenig weiß, dessen Liebe ist auch gering. Die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis« – erst jetzt erfaßte Giovanni die Tiefe dieser Worte. Während der Mönch die Versuchungen der Wissenschaft und der Kunst verfluchte, dachte Giovanni an die klugen Reden Leonardos, an sein ruhiges Gesicht, an seine Augen, die so kalt wie der Himmel waren, und an sein Lächeln, in dem entzückende Weisheit spielte. Er dachte auch noch an die schrecklichen Früchte des vergifteten Baumes, an die eiserne Spinne, an das Ohr des Dionys, an die Aufzugsmaschine für den Heiligsten Nagel und an das Antlitz des Antichrist unter dem Antlitze Christi. Doch schien ihm jetzt, daß er damals seinen Meister nicht ganz begriffen, das letzte Geheimnis seines Herzens nicht erraten und den Knoten, in dem sich alle Fäden begegnen und alle Widersprüche lösen, nicht entwirrt habe.
Dies alles ging ihm jetzt, als er an das Jahr seines Noviziats in San Marco dachte, durch den Kopf. Während er im tiefen Nachdenken im Kreuzgang auf und abging, war es dunkel geworden, das stille Läuten des abendlichen Ave ließ sich vernehmen, und die Mönche zogen in langen schwarzen Reihen zur Kirche.
Giovanni folgte ihnen nicht. Er setzte sich auf seinen früheren Platz, schlug wieder das Buch des Apostel Paulus auf und begann, in seinem vom Teufel, dem größten aller Logiker, verfinsterten Geiste, den Sinn der Worte der Schrift so zu verdrehen:
»Ihr könnt nicht umhin, zugleich zu trinken des Herrn Kelch und der Teufel Kelch; Ihr könnt nicht umhin, zugleich teilhaftig zu sein des Herrn Tisch und des Teufels Tisch.«
Mit einem bittern Lächeln hob er die Augen zum Himmel und erblickte da den Abendstern, der wie die Leuchte des schönsten der Engel der Finsternis, Luzifers des Lichttragenden, strahlte.
Da kam ihm die Legende in den Sinn, die er von einem gelehrten Mönch gehört hatte; sie war vom großen Origenes aufgenommen und vom Florentiner Matteo Palmieri in seinem Gedicht »Die Stadt des Lebens« wiederholt. Während des Kampfes des Teufels mit Gott, so hieß es in dieser Sage, fanden sich unter den Engeln auch solche, die sich weder den Heerscharen Gottes, noch denen des Teufels anschließen wollten; dem einen und dem andern fremd, blieben sie einsame Zuschauer des Zweikampfes; Dante sagte von ihnen:
Angeli che non furon ribelli,
Ne pur fideli a Dio, ma per sè foro.
Engel, die weder rebellisch,
Noch Gott ergeben, sondern für sich allein waren.
Diese freien und traurigen Geister, die weder dunkel, noch hell, weder böse, noch gut, sondern des Bösen und des Guten, der Finsternis und des Lichts zugleich teilhaftig waren, wurden von der himmlischen Gerechtigkeit in ein irdisches Tal verbannt, das zwischen Himmel und Hölle liegt, in ein Tal der Dämmerung, die ihnen gleicht; und dort wurden sie Menschen.
»Wer weiß?« so spann Giovanni seine sündigen Gedanken weiter aus: »Wer weiß, vielleicht ist nichts Böses daran, vielleicht soll man zu Ehren des Einen aus beiden Kelchen zugleich trinken?«
Da schien es ihm, als hätte nicht er diese Worte gesprochen, sondern ein Anderer, der sich über ihn gebeugt und ihm mit kaltem Atem, aber liebevoll die Worte zuflüsterte: »Zugleich, zugleich!«
Er sprang auf, sah sich um und, zitternd und erblassend, bekreuzte er sich. Obwohl er in dem einsamen, vom Spinngewebe der Dämmerung umwobenen Kreuzgang niemanden gewahrte, floh er durch den Hof in die Kirche, wo Kerzen brannten und Mönche die Vesper sangen; hier blieb er stehen, atmete auf, fiel auf die Steinfliesen in die Knie und betete:
»Herr, hilf mir, errette mich vor diesen Zweifeln! Ich will keine zwei Reiche! Nur nach dem einen Kelch – nach deinem Kelch, nur nach der einen Wahrheit – nach deiner Wahrheit dürstet meine Seele, o Herr!«
Doch keine göttliche Gnade erquickte sein Herz, wie der Tau die staubigen Gräser erquickt.
Er ging in seine Zelle und legte sich schlafen.
Gegen Morgen hatte er einen Traum: er sah sich mit Monna Kassandra auf einem schwarzen Bock durch die Luft reiten. Die Hexe hatte ihr marmorweißes Gesicht mit den blutroten Lippen und bernsteingelben Augen nach ihm umgewandt und flüsterte: »Zum Sabbat! Zum Sabbat!« Da erkannte er in ihr die Göttin der irdischen Liebe mit dem Ausdrucke überirdischer Wehmut in den Augen, die weiße Teufelin! Der Vollmond beschien ihren nackten Leib, der so süß und schrecklich duftete, daß Giovanni vor Erregung mit den Zähnen klapperte: er umarmte sie und schmiegte sich an sie. Sie flüsterte »Amore! Amore!« und lachte. Das schwarze Fell des Bockes wurde unter ihnen zu einem weichen, schwülen Lager. Er glaubte, es sei sein Tod.
Als Giovanni erwachte, sah er Sonnenschein und hörte Glockengeläut und Kinderstimmen. Er trat in den Hof und sah da viele Kinder, alle in weißen Kleidern mit Olivenzweigen und kleinen roten Kreuzen in den Händen. Es war das Heilige Heer der Kinder-Inquisition, das Savonarola zur Überwachung der Sittenreinheit in Florenz organisiert hatte.
Giovanni trat unter die Kinder und lauschte den Gesprächen.
»Hast du eine Anzeige?« fragte mit wichtiger Vorgesetztenmiene der Kapitän, ein blasser vierzehnjähriger Knabe, einen anderen verschmitzten rothaarigen und schielenden Bengel mit abstehenden Ohren.
»Zu Befehl, Messer Federigi, eine Anzeige!« antwortete jener, militärisch Front machend und seinen Kapitän ehrfurchtsvoll anblickend.
»Ich weiß schon. Die Tante hat wieder Würfel gespielt?«
»Zu Befehl nein, Ew. Gnaden, es war nicht die Tante, sondern die Stiefmutter, und die hat nicht Würfel gespielt ...«
»Ach ja!« besann sich Federigi. »Es war Lippos Tante, die Würfel gespielt und Gott gelästert hat. Was bringst denn du?«
»Meine Stiefmutter, Messere ... Gott möge sie strafen ...«
»Mach es schneller, mein Lieber! Ich habe keine Zeit, viel zu tun.«
»Zu Befehl, Messere! Also die Sache ist die: meine Stiefmutter hat mit ihrem Freund, dem Mönch, ein Extrafäßchen Rotwein aus dem Keller meines Vaters ausgetrunken, als dieser nach Maringiole zum Jahrmarkt verreist war. Da riet ihr der Mönch, zur Madonna auf der Rubaconte-Brücke zu gehen, ihr eine Kerze zu weihen und zu beten, daß der Vater jenes Fäßchen vergessen möge. Sie machte es auch so. Der Vater kam heim und merkte nichts. Darum hat sie an der Madonnastatue noch ein Fäßchen aus Wachs, das genau so aussah, wie das, mit welchem sie den Mönch traktierte, aufgehängt, – als Dank, daß ihr die Mutter Gottes half, ihren Mann anzuführen.«
»Es ist eine Sünde, eine große Sünde!« erklärte Federigi mit finsterer Miene, »Wie hast du es erfahren, Pippo?«
»Ich habe den Stallknecht ausgefragt, dieser wußte es von der tatarischen Magd der Stiefmutter und die Magd ...«
»Die Wohnung?« unterbrach ihn der Kapitän streng.
»Bei der heiligen Annunziata, Sattlerladen des Lorenzetto.«
»Gut!« sagte Federigi. »heute noch wollen wir die Sache untersuchen.«
Ein hübscher ganz kleiner Knabe von etwa sechs Jahren stand in einer Hofecke an die Mauer gelehnt und weinte bitterlich.
»Was hast du?« fragte ihn ein anderer, der etwas älter war.
»Sie haben mir das Haar abgeschnitten! Wenn ich gewußt hätte, daß sie es tun werden, wäre ich gar nicht hergekommen! ...«
Er strich sich mit der Hand über sein blondes Haar, das durch die Schere des Klosterbarbiers, der jeden neuen Rekruten des Heiligen Heeres kurz zu scheren hatte, sehr übel zugerichtet war.
»Aber Luca, Luca!« sagte zu ihm der Ältere, mit vorwurfsvollem Kopfschütteln, »was du für sündige Gedanken hast! Denke doch wenigstens an die heiligen Märtyrer: als die Heiden ihnen Arme und Beine abhackten, priesen sie Gott. Und du willst nicht einmal dein Haar opfern!«
Das Beispiel der heiligen Märtyrer machte auf Luca einen solchen Eindruck, daß er zu weinen aufhörte. Plötzlich verzog sich aber sein Gesicht wieder in unsagbarer Angst und er begann noch lauter zu heulen: er dachte sich wohl, daß ihm die Mönche zu Ehren Gottes auch noch seine Arme und Beine abhacken könnten.
»Seid so gut,« wandte sich an Giovanni eine alte, dicke und vor Aufregung rote Bürgerin, »könnt Ihr mir nicht sagen, wo ich hier einen Buben finde, mit schwarzem Haar und blauen Augen?«
»Wie heißt er?«
»Dino, Dino del Garbo ...«
»In welcher Abteilung?«
»Ach Gott, das weiß ich wirklich nicht! ... Den ganzen Tag renne ich herum, suche, frage und bekomme keine Auskunft. Mein Kopf ist schon ganz wirr ...«
»Ist es Euer Sohn?«
»Nein, mein Neffe. Ein stiller, bescheidener Junge, hat vorzüglich gelernt. Da haben ihn plötzlich irgendwelche Gassenjungen in dies gräßliche Heer gelockt. Denkt Euch nur: ein zartes, schwaches Kind, hier sollen sie sich aber mit Steinen bewerfen ...«
Die Tante begann wieder zu stöhnen und zu ächzen.
»Ihr seid selbst Schuld!« sagte ihr ein älterer ehrwürdig aussehender Bürger in altmodischer Tracht. »Wenn Ihr das Kind ordentlich geprügelt hättet, so würde ihm dieser Blödsinn nicht in den Kopf steigen. Hat man denn je so etwas gesehen? Mönche und Kinder wollen plötzlich den Staat regieren. Die Eier wollen die Henne belehren. In der ganzen Welt hat man noch nie solchen Blödsinn erlebt!«
»Ja, ganz richtig, die Eier wollen die Henne belehren!« bestätigte die Tante. »Die Mönche sagen, daß sie jetzt aus der Erde ein Paradies machen wollen. Ich weiß nicht, was einmal sein wird, aber jetzt ist es eine Hölle. In allen Häusern nichts als Tränen, Zank und Geschrei ...«
»Habt Ihr es gehört?« fuhr sie im Flüsterton fort, sich geheimnisvoll zum Ohre des Bürgers neigend: »Neulich sagte Fra Girolamo im Dome vor dem ganzen Volk: Väter und Mütter, Ihr könnt Eure Söhne und Töchter an das Ende der Welt schicken, sie werden immer zu mir zurückkehren, denn sie sind mein ...«
Der alte Bürger stürzte in die Kinderschar und packte einen Knaben am Ohr.
»Da hab ich dich, Teufelsbengel! Ich werde dir zeigen, was es heißt, vom Hause weglaufen, mit solchem Gesindel zu tun haben, dem Vater nicht gehorchen! ...«
»Wir müssen dem himmlischen Vater mehr gehorchen, als dem irdischen!« sagte der Knabe leise, aber bestimmt.
»Nimm dich in Acht, Doffo! Daß mir nicht die Geduld reißt! ... Also komm mit, komm nach Hause, widerstrebe nicht!«
»Laßt mich, Vater. Ich komme nicht mit.«
»Kommst nicht mit?«
»Nein.«
»Da hast du dafür!«
Der Vater schlug ihn ins Gesicht.
Doffo regte sich nicht, selbst seine erblaßten Lippen zitterten nicht. Er hob nur seine Augen gen Himmel.
»Mäßigt Euch, Messere. Es ist verboten, die Kinder zu beleidigen!« riefen ihm die von der Signorie zum Schutze des Heiligen Heeres bestellten Stadtsoldaten zu.
»Fort, ihr Schurken!« schrie der Alte voller Wut.
Die Soldaten wollten ihm den Sohn entreißen. Der Vater fluchte und ließ ihn nicht los.
»Dino! Dino!« quietschte die Tante auf – sie hatte in der Ferne ihren Neffen entdeckt und stürzte nun zu ihm hin. Die Wache hielt sie zurück.
»Laßt mich! Laßt! Gott, was ist denn das!« heulte sie: »Dino, mein Junge! Dino!«
In diesem Augenblick kam in die Reihen des Heiligen Heeres Bewegung. Zahllose kleine Arme schwangen Olivenzweige und rote Kreuze, helle Kinderstimmen begrüßten Savonarola, der eben in den Hof kam:
» Lumen ad revelationem gentium et gloriam plebis Israel!«
»Licht zur Erleuchtung der Völker, zum Ruhme des Volkes Israel.«
Kleine Mädchen umringten den Mönch und bewarfen ihn mit gelben Frühlingsblumen, rosa Schneeglöckchen und dunklen Veilchen; sie knieten vor ihm, umarmten und küßten seine Füße.
Er stand schweigend, von der Sonne hell beleuchtet da und segnete mit mildem Lächeln die Kinder.
»Es lebe Christus, der König von Florenz! Es lebe die heilige Jungfrau, unsere Königin!« riefen die Kinder.
»Richtet euch! Vorwärts marsch!« kommandierten die kleinen Befehlshaber.
Die Musik spielte, die Fahnen rauschten und das Heer rückte aus.
Auf dem Platze der Signorie, vor dem Palazzo Vecchio sollte die »Verbrennung der Eitelkeiten« – Brucciamento delle vanità – stattfinden. Das Heilige Heer zog jetzt aus, um Florenz zum letzten Mal nach »Eitelkeiten und Anathemas« abzusuchen.
Als der Hof sich geleert hatte, bemerkte Giovanni den Konsul der Kunst Kalimalas, Messer Cipriano Buonaccorsi, den Besitzer der Fondacchi bei Or-San-Michele, den Altertumssammler, auf dessen Boden im Mühlenhügel bei San Gervasio die alte Statue der Göttin Venus gefunden worden war.
Giovanni ging auf ihn zu. Sie kamen ins Gespräch. Messer Cipriano erzählte ihm, daß nach Florenz vor einigen Tagen Leonardo da Vinci gekommen sei, um im Auftrage des Herzogs die Kunstwerke aus den Palästen, die vom heiligen Heere verwüstet werden, aufzukaufen. Zum gleichen Zweck sei auch Giorgio Merula hergekommen, der nach zwei Monaten Gefängnishaft vom Herzog begnadigt wurde, was er zum Teil der Fürsprache Leonardos zu verdanken habe.
Der Kaufmann bat Giovanni, ihn zum Prior zu geleiten und sie gingen nun beide zur Zelle Savonarolas.
Beltraffio, der in der Türe stehen geblieben war, konnte die Unterredung zwischen dem Konsul Kalimalas und dem Prior von San Marco hören.
Messer Cipriano bot zweiundzwanzig tausend Florins für alle Bücher, Bilder, Statuen und andere Kunstschätze, die an diesem Tage verbrannt werden sollten.
Der Prior ging darauf nicht ein.
Der Kaufmann dachte nach und schlug achttausend darauf.
Der Mönch erwiderte gar nichts. Sein Gesicht war streng und unbeweglich.
Cipriano bewegte stumm seine zahnlosen eingefallenen Kiefer, schlug die Schöße seines abgewetzten Fuchspelzes über den stets frierenden Knien zusammen, seufzte auf, blinzelte mit seinen schwachen Augen und versetzte mit seiner angenehmen, immer gleichmäßig leisen Stimme:
»Vater Girolamo, ich will mich zugrunde richten und Euch alles, was ich besitze, bieten: vierzig tausend Florins.«
Savonarola sah ihn an und fragte:
»Wenn Ihr euch zugrunde richtet und an der Sache keinen Profit sucht, was wollt Ihr dann eigentlich überhaupt?«
»Ich bin in Florenz geboren und liebe dies Land,« erwiderte der Kaufmann einfach. »Ich will nicht, daß die Ausländer sagen können, daß wir wie Barbaren unschuldige Werke von Weisen und Künstlern vernichten.«
Der Mönch sah ihn erstaunt an und sagte:
»Mein Sohn, wenn du doch dein himmlisches Vaterland ebenso lieben würdest, wie dein irdisches! ... Tröste dich aber: Im Scheiterhaufen wird nur das, was die Vernichtung wirklich verdient, untergehn, denn Böses und Lasterhaftes kann, wie es auch Eure berühmten Weisen bezeugen, unmöglich schön sein.«
»Seid Ihr auch davon überzeugt, Vater,« sagte Cipriano, »daß die Kinder in Werken der Kunst und Wissenschaft immer unfehlbar das Gute von dem Schlechten zu unterscheiden vermögen?«
»Aus dem Munde der Kinder kommt Wahrheit,« erwiderte der Mönch, »wenn ihr euch nicht bekehrt und nicht wie die Kinder werdet, so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ich will die Weisheit der Weisen vernichten und den Verstand der Verständigen verwerfen, so spricht der Herr. Tag und Nacht bete ich für diese Kleinen: wenn sie in den Eitelkeiten der Kunst und Wissenschaft etwas nicht mit dem Verstande erfassen, so möge es ihnen vom Himmel durch den heiligen Geist eröffnet werden.«
»Ich beschwöre Euch, bedenkt doch,« sagte der Konsul sich erhebend: »vielleicht ist doch ein Teil ...«
»Verliert keine Worte, Messere!« unterbrach ihn Fra Girolamo. »Mein Entschluß ist unwiderruflich.«
Cipriano bewegte wieder seine blutleeren Lippen, die denen eines alten Weibes glichen, und murmelte einige Worte. Savonarola verstand davon nur das letzte:
»Wahnsinn ...«
»Wahnsinn!« Er fing Ciprianos Wort auf. »Ist denn das goldene Kalb der Borgias, das dem Papste bei gotteslästerlichen Festen dargebracht wird, kein Wahnsinn? Ist denn die Erhöhung des Heiligsten Nagels durch den Thronräuber und Mörder Moro mittels einer teuflischen Maschine kein Wahnsinn? Ihr tanzt um das goldene Kalb und treibt Wahnsinn zu Ehren eures Gottes Mammon. Laßt auch uns, die wir einfältig sind, zu Ehren unseres Gottes, des gekreuzigten Christus Wahnsinn treiben! Ihr habt die Mönche ausgelacht, als sie auf dem Platze vor dem Kreuze tanzten. Wartet nur, es wird noch ganz anders kommen, was werdet ihr Klugen sagen, wenn ich nicht nur die Mönche, sondern auch das ganze Volk von Florenz, klein und groß, Greise und Frauen, zwingen werde, in gottgefälligem Wahnsinn um das geheimnisvolle Holz der Erlösung zu tanzen, wie einst David vor der Bundeslade in der alten Stiftshütte des höchsten Gottes tanzte!«
Nachdem Giovanni die Zelle Savonarolas verlassen, begab er sich zum Platz der Signorie.
In der Via Larga begegnete er dem heiligen Heer. Die Kinder hatten zwei schwarze Sklaven angehalten, die in einer Sänfte ein prunkvoll gekleidetes Frauenzimmer trugen. Zu den Füßen der Dame schlief ein weißes Hündchen. Auf einer Stange saßen ein Äffchen und ein grüner Papagei. Diener und Leibwache folgten der Sänfte.
Es war die soeben aus Venedig eingetroffene Kurtisane Lena Griffa, eine von jenen, die von den Würdenträgern der Durchlauchtigsten Republik ehrfurchtsvoll » putana, onesta«, » meretrix onesta« – »edle, ehrenwerte Buhlerin«, – oder freundlich scherzend auch » mammola« – »Seelchen« genannt wurden. Im berühmten zur Bequemlichkeit der Reisenden herausgegebenen » Catalogo di tutte puttane dell bordello con il loro prezzo« – »Katalog aller Huren in den öffentlichen Häusern mit ihren Preisen« war der Name der Lena Griffa an erster Stelle und mit fetter Schrift gedruckt und ihm gegenüber stand der Preis – vier Dukaten; in den heiligen Nächten, den Vorabenden der Feiertage galten doppelte Preise: »aus Ehrfurcht vor der Mutter Gottes.«
Monna Lena lag in ihren Kissen wie eine Kleopatra oder eine Königin von Saba und las den Brief eines verliebten jungen Bischofs, dem ein Sonett beigelegt war. Die Schlußzeilen lauteten:
Wenn ich, o Lena, deiner Rede lausche, –
Die Erde mit dem Himmel ich vertausche;
Dann schwingt mein Geist sich auf zu Himmelshöhen,
Zu göttlichen platonischen Ideen.
Die Kurtisane überlegte ein Antwortsonett. Sie beherrschte die Reimkunst mit großer Vollkommenheit und pflegte oft mit Recht zu sagen, wenn es von ihr abhinge, würde sie ihre ganze Zeit in den »Akademien berühmter Männer« zubringen.
Das heilige Heer umdrängte die Sänfte. Einer der Befehlshaber, Doffo, trat hervor, hob sein rotes Kreuz über dem Kopfe und rief feierlich aus:
»Im Namen Jesu, des Königs von Florenz, und der heiligen Jungfrau, unserer Königin, befehlen wir dir, diesen sündigen Schmuck, deine Eitelkeiten und Anathemas von dir zu tun. Tust du es nicht, so möge dich Krankheit treffen.«
Das Hündchen erwachte und begann zu bellen. Der Affe zischte, der Papagei schlug die Flügel und schrie den Vers, den ihm seine Herrin beigebracht hatte:
Amore a nullo amato amar perdonna.
Lena wollte schon ihrer Leibwache befehlen, die Menge auseinanderzutreiben. Da fiel ihr Blick auf Doffo. Sie winkte ihn zu sich heran.
Der Knabe näherte sich ihr mit niedergeschlagenen Blicken.
»Herunter mit dem Schmuck!« schrien die Kinder, »herunter mit den Eitelkeiten und Anathemas!«
»Ein hübscher Knabe!« bemerkte Lena, ohne auf das Geschrei zu achten. »Mein kleiner Adonis, wie gerne hätte ich alle diese Fetzen von mir geworfen, um Euch damit Freude zu machen. Die Sache ist aber die: sie gehören nicht mir, ich habe sie von einem Juden auf Pump genommen. Das Eigentum eines solchen ungläubigen Hundes kann doch kaum eine dem Heiland und der heiligen Jungfrau wohlgefällige Gabe sein.«
Doffo blickte sie an. Da nickte sie mit dem Kopf, als ob sie seine geheimen Gedanken errate, und sagte mit veränderter Stimme, mit der singenden und weichen Sprache einer Venetianerin:
»In der Schäfflergasse bei Santa Trinità. Frage nach der Kurtisane Lena aus Venedig. Ich werde dich erwarten.«
Doffo sah sich um und gewahrte, daß seine Kameraden in einen Streit mit einer an der Straßenecke aufgetauchten Bande von Gegnern Savonarolas, den sogenannten »Tollen« – »arrabbiati« geraten waren; sie warfen Steine, schimpften und achteten nicht mehr auf die Kurtisane. Er wollte ihnen zurufen, daß sie die Kurtisane überfallen sollten, da wurde er aber verwirrt und errötete.
Lena lachte und zeigte ihre spitzen weißen Zähne zwischen den roten Lippen. Die Kleopatra und die Königin von Saba wichen jetzt dem ausgelassenen venetianischen Straßenmädel »mammola«.
Die Neger ergriffen die Sänfte und die Kurtisane setzte unbeirrt ihren Weg fort. Das Hündchen schlief in ihrem Schoße wieder ein, der Papagei setzte sich ruhig auf seiner Stange zurecht und nur der unermüdliche Affe schnitt Grimassen und haschte nach dem Bleistift, mit dem die edle und ehrenwerte Buhlerin den ersten Vers ihrer Antwort an den Bischof schrieb:
Mein Lieben ist so rein, wie der Seraphim Atem.
Doffo, der nicht mehr die frühere Courage hatte, stieg an der Spitze seiner Abteilung die Treppe zum Palaste der Medici empor.
In den finsteren Gemächern, wo alles noch die Größe der vergangenen Zeiten atmete, fühlten sich die Kinder befangen.
Die Fensterläden aber wurden aufgemacht; Trompeten und Trommelwirbel machten ihnen Mut. Mit Freudengeschrei, Lachen und Psalmengesang zerstreuten sich die kleinen Inquisitoren in den Sälen, Gottes Gericht über die Verführungen der Kunst und Wissenschaft haltend und nach Eingebung des heiligen Geistes die »Eitelkeiten und Anathemas« suchend und ergreifend.
Giovanni überwachte ihre Arbeit.
Mit gerunzelten Stirnen, die Hände auf dem Rücken, mit wichtigen Richtermienen schritten die Kinder zwischen den Statuen der großen Männer, Philosophen und Heroen des heidnischen Altertums.
»Pythagoras, Anaximenes, Herakleitos, Plato, Marcus Aurelius, Epiktet,« buchstabierte ein Knabe die lateinischen Inschriften auf den Sockeln der Marmor- und Bronzebildwerke.
»Epiktet!« rief Federigi mit dem Ausdrucke eines Kenners. »Dies ist ja jener Ketzer, der behauptet hat, daß alle Genüsse erlaubt seien und daß es keinen Gott gebe. Diesen sollte man verbrennen. Schade, daß er aus Marmor ist ...«
»Das macht nichts!« sagte der fixe schielende Pippo. »Der soll doch seine Portion bekommen!«
»Es ist nicht der richtige!« rief Giovanni. »Ihr verwechselt den Epiktet mit dem Epikur! ...«
Es war zu spät: Pippo holte mit seinem Hammer aus und schlug dem Weisen die Nase so geschickt ab, daß die Knaben in Gelächter ausbrachen.
»Das ist alles gleich – ob Epiktet oder Epikur! Mitgefangen, mitgehangen! Sie alle kommen in die Wohnung des Teufels!« wiederholte er den Lieblingsausdruck Savonarolas.
Vor einem Bilde Botticellis entstand ein Streit: Doffo behauptete, es sei verführerisch, denn es stelle den nackten jungen Bacchus, von Pfeilen des Liebesgottes durchbohrt, dar. Federigi, der mit dem Doffo in der Kunst, die »Eitelkeiten und Anathemas« zu unterscheiden, gerne wetteiferte, betrachtete das Bild und erklärte, es sei gar nicht Bacchus:
»Wer, glaubst du, ist es denn?« fragte Doffo.
»Wer! Du fragst noch! Wie, seht ihr es denn nicht selbst, Brüder? Das ist ja der heilige Märtyrer Sebastian!«
Vor diesem unverständlichen Bilde stutzten die Kinder: wenn es wirklich ein Heiliger ist, warum atmet dann sein nackter Leib heidnischen Zauber aus? Warum gleicht der schmerzliche Ausdruck seines Gesichts eher der Wonne der Wollust?
»Glaubt ihm nicht, Brüder!« schrie Doffo: »Es ist der verruchte Bacchus!«
»Du lügst, Gottloser!« rief Federigi aus, sein Kreuz wie eine Waffe erhebend.
Die beiden Knaben stürzten aufeinander los. Die Kameraden konnten sie nur mit Mühe auseinanderreißen. Das Bild blieb zweifelhaft.
Der stets bewegliche Pippo und Luca, der sich längst getröstet hatte und seine Locken nicht mehr beweinte – denn er hatte noch nie an so lustigen Streichen teilnehmen dürfen – gelangten indessen in ein kleines finsteres Zimmer, hier stand vor dem Fenster auf einem hohen Ständer eine jener Vasen, die von den venetianischen Glasfabriken in Murano hergestellt werden. Ein Sonnenstrahl, der durch eine Ritze im Fensterladen drang, streifte das Glas und die Vase funkelte im Finstern wie ein farbiger Edelstein. Sie glich einer riesengroßen Märchenblume.
Pippo kletterte auf den Tisch, schlich ganz leise auf den Zehen heran – als ob die Vase lebendig wäre und fortlaufen könnte, steckte schelmisch seine Zungenspitze heraus, hob die Brauen über seinen schielenden Augen und stieß die Vase mit dem Finger an. Sie schwankte wie eine zarte Blüte, fiel herunter, funkelte, erklirrte wie klagend, zersprang und erlosch. Pippo sprang wie ein Besessener, warf sein rotes Kreuz in die Höhe und fing es wieder auf. Luca, in dessen weit geöffneten Augen die Freude am Zerstören leuchtete, tanzte, jauchzte und klatschte in die Hände.
Da hörten sie die freudigen Schreie der Kameraden und kehrten in den großen Saal zurück.
Hier hatte Federigi in einer Kammer viele Kisten entdeckt, in denen solche »Eitelkeiten« enthalten waren, wie sie die Kinder noch nie gesehen hatten. Es waren Masken und Kostüme zu jenen Karnevalsaufzügen und allegorischen Triumphen, die Lorenzo Medici der Prächtige so liebte. Die Kinder drängten sich vor der Kammer. Beim Schein eines Talglichtes entdeckten sie da ungeheuerliche Faunsköpfe aus Pappe, gläserne Weintrauben des Bacchusgefolges, Köcher und Flügel Amors, den Schlangenstab Merkurs und den Dreizack Neptuns. Allgemeines Gelächter erschallte, als schließlich der aus vergoldetem Holz verfertigte mit Spinnengewebe überzogene Blitz des donnerschleudernden Zeus und der klägliche mottenzerfressene Balg des olympischen Adlers mit ausgerupftem Schwanz und durchlöchertem Bauch, aus dem Filzfetzen hervorguckten, zum Vorschein kamen.
Aus einer blonden Perrücke, die wohl der Venus diente, sprang plötzlich eine Ratte heraus. Die Mädchen kreischten. Das kleinste Mädel sprang auf einen Stuhl und hob ängstlich ihr Kleid bis über die Knie.
Mit kaltem Grauen wehte es die Kinder an und sie spürten Ekel vor diesem heidnischen Gerümpel, vor dem Grabesstaub der toten Götter. Die Schatten der Fledermäuse, die vom Lärm und Licht aufgescheucht an der Decke herumflatterten, kamen ihnen wie unreine Geister vor.
Da kam Doffo herbei und erzählte, er hätte oben noch ein versperrtes Zimmer entdeckt; an der Türe halte ein kleiner böser rotnasiger und kahlköpfiger Greis Wache und lasse niemanden herein.
Sie gingen hinauf, um zu rekognoszieren. In dem Alten, der die Türe des geheimnisvollen Zimmers bewachte, erkannte Giovanni seinen Freund, den großen Bibliophilen Messer Giorgio Merula.
»Gib den Schlüssel her!« schrie ihn Doffo an.
»Wer hat euch gesagt, daß ich den Schlüssel habe?«
»Der Aufseher hat es uns gesagt!«
»Macht, daß ihr weiter kommt!«
»Nimm dich in Acht, Alter! Wir rupfen dir noch die letzten Haare aus!«
Doffo gab ein Zeichen. Messer Giorgio pflanzte sich vor der Türe auf, um sie mit seiner Brust zu decken. Die Kinder stürzten über ihn her, verprügelten ihn mit ihren Kreuzen, durchsuchten seine Taschen, fanden den Schlüssel und öffneten die Türe. Es war ein kleines Arbeitszimmer mit einer wertvollen Büchersammlung.
»Hier, hier in dieser Ecke ist alles, was ihr sucht!« zeigte Merula. »Ihr braucht nicht auf die oberen Fächer zu klettern, denn dort findet ihr nichts!«
Die Inquisitoren hörten nicht auf ihn. Alles, was ihnen in die Hände fiel, besonders aber Bücher in Prachteinbänden, warfen sie auf einen Haufen. Dann rissen sie die Fenster auf, um die dicken Folianten direkt auf die Straße zu werfen, wo ein mit »Eitelkeiten und Anathemas« beladener Wagen stand. Tibull, Horaz, Ovid, Apulejus, Aristophanes, seltene Manuskripte und Unica flogen vor Merulas Augen zum Fenster hinaus.
Giovanni bemerkte, daß der Alte aus dem Haufen ein kleines Bändchen herausfischte und es geschickt im Busen versteckte: es war das Werk des Marcellinus mit der Lebensbeschreibung des Kaisers Julianus Apostata.
Als er auf dem Boden eine Handschrift der Tragödien des Sophokles auf seidenweichem Pergament mit feinsten Initialen geschmückt gewahrte, fiel er gierig über sie her, ergriff sie und flehte:
»Meine lieben Kinder! Schont Sophokles! Er ist der unschuldigste von allen Dichtern! Rührt ihn nicht an! Rührt ihn nicht an!«
Verzweifelt drückte er das Buch an die Brust. Als er aber fühlte, wie die zarten, gleichsam lebenden Blätter zerrissen wurden, stöhnte und weinte er vor Schmerz und ließ die Handschrift fallen.
»Wißt ihr denn, ihr gemeinen Hunde, daß jeder Vers dieses Dichters ein größeres Heiligtum vor Gott ist, als alle Prophezeiungen eures blödsinnigen Savonarola?! ...«
»Schweig, Alter, sonst werfen wir auch dich zusammen mit deinen Dichtern zum Fenster hinaus!«
Sie fielen wieder über den Alten her und jagten ihn aus der Bibliothek hinaus.
Merula fiel in die Arme Giovannis.
»Komm, komm schnell! Ich kann diesen Frevel nicht mit ansehen!«
Sie verließen den Palast und begaben sich an Maria delle Fiori vorbei zum Platze der Signorie. ›leer›
Vor dem dunkeln schlanken Turm des Palazzo Vecchio neben der Loggia Orcagni stand der Scheiterhaufen bereit. Er war dreißig Ellen hoch und hundertzwanzig breit und stellte eine achtseitige Bretterpyramide mit fünfzehn Stufen dar.
Auf der ersten unteren Stufe waren Larven, Maskenkostüme, Perrücken, falsche Bärte und andere Fastnachtsgegenstände aufgestapelt. Auf den folgenden drei Stufen lagen die freigeistigen Bücher, von Anakreon und Ovid bis zum Dekamerone des Boccaccio und Morgante Pulci. Nach den Büchern kamen weibliche Toilettegegenstände: Salben, Wohlgerüche, Spiegel, Puderquasten, Nagelfeilen, Brennscheeren, Pincetten zum Ausreißen der Haare; noch weiter – Musiknoten, Lauten, Mandolinen, Spielkarten, Schachbretter, Kegel, Bälle und andere Spiele, mit denen die Menschen den Teufel erfreuen; auf der nächsten Stufe – verführerische Bilder, Zeichnungen und Bildnisse schöner Frauen; schließlich, auf der Spitze der Pyramide – Darstellungen heidnischer Götter, Heroen und Philosophen aus bemaltem Wachs und Holz. Über allen diesen Gegenständen ragte eine riesengroße Puppe, die den Teufel, den Urheber der »Eitelkeiten und Anathemas«, darstellte und mit Pulver und Schwefel gefüllt war; er war gräßlich bemalt, bockbeinig, struppig und glich so dem alten Gott Pan.
Es dämmerte. Die Luft war kühl, klar und rein. Am Himmel funkelten die ersten Sterne. Die Volksmenge, die den Platz bedeckte, rauschte und bewegte sich mit andächtigem Geflüster, wie in einer Kirche. Hie und da erklangen geistliche Gesänge – laudi spirituali der Schüler Savonarolas, der sogenannten »Greiner«. Reime, Weise und Versmaß waren die alten karnevalistischen, doch der Text war geändert. Giovanni hörte eine Weile zu und der Widerspruch zwischen dem trübsinnigen Text und der lustigen Weise erschien ihm ganz ungeheuerlich:
To tre once almen di speme
Tre di fede, sei d'amore ...
Mische dir: drei Unzen Hoffnung,
Drei des Glaubens, sechs der Liebe,
Zwei der Reue; stell sie dann
Auf die Flamme des Gebetes;
Lasse sie drei Stunden kochen.
Tu hinzu je eine Prise
Demut, Trauer und Zerknirschung,
Daß draus Gottes Weisheit werde ...
Im Vorhofe der Pisaner stand ein Mann mit eiserner Brille, Lederschurz, einem Riemen in den dünnen, öltriefenden Haaren und mit schwieligen Händen und predigte einer Versammlung von Handwerkern, die wohl gleich ihm »Greiner« waren:
»Ich, Ruberto, bin weder Ser, noch Messer, sondern einfach ein Florentiner Schneider,« sagte er, sich mit der Faust vor die Brust schlagend. »Und ich erkläre euch, meine Brüder, daß mir Jesus, der König von Florenz, in zahlreichen Offenbarungen die neue gottgefällige Staatsordnung und Gesetzgebung eröffnet hat. Wollt ihr, daß es weder Arme, noch Reiche, weder Große, noch Geringe gibt und daß alle gleich sind?«
»Wir wollen es! Wir wollen! Sag, Ruberto, was soll man dazu tun?«
»Wenn ihr den Glauben habt, so ist es sehr leicht zu machen. Eins, zwei und fertig! Erstens,« er bog den Daumen der linken Hand mit dem Zeigefinger der Rechten ein, »eine Einkommensteuer, die »der staffelförmige Zehente« heißt; zweitens –« er bog noch einen Finger ein – »ein vom ganzen Volk gewähltes und von Gott erleuchtetes Parlamento ...«
Er machte eine Pause, nahm die Brille von der Nase, putzte sie, setzte sie wieder auf, räusperte sich und begann ohne Übereilung mit eintöniger lispelnder Stimme und mit dem Ausdrucke eigensinniger, demütiger Selbstzufriedenheit auf seinem stupiden Gesicht zu erläutern, was eigentlich ein staffelförmiger Zehente und ein von Gott erleuchtetes Parlamento sei.
Nachdem Giovanni eine Weile zugehört hatte, spürte er tödliche Langeweile und ging ans andere Ende des Platzes.
Hier huschten die Mönche, mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt, wie Schatten durch die Dämmerung. Zum Fra Dominico Buonvicini, welcher die Oberaufsicht hatte, trat ein Mann auf Krücken, noch nicht alt, aber wie es schien, gelähmt, mit zitternden Armen und Beinen und gesenkten Augenlidern: über sein Gesicht ging ein Zucken, wie das eines angeschossenen Vogels. Er reichte dem Mönch eine große Rolle.
»Was ist es?« fragte Dominico: »Wieder Zeichnungen?«
»Anatomie. Ich hatte sie ganz vergessen. Aber gestern im Traume hörte ich eine Stimme: Sandro, du hast auf dem Dachboden über deiner Werkstatt in einem Koffer noch einige Eitelkeiten. Ich stand auf, ging hinauf und fand diese Darstellungen nackter Körper.«
Der Mönch nahm ihm die Rolle ab und sagte mit heiterer, beinahe scherzender Miene:
»Ein schönes Feuerlein werden wir machen, Messer Filipepi!«
Der Lahme musterte die Pyramide der Eitelkeiten und seufzte:
»Herr, sei uns Sündern gnädig! Wenn wir nicht Fra Girolamo hätten, so würden wir sterben, ohne Buße getan und ohne uns von unseren Sünden gereinigt zu haben. Es ist auch jetzt noch ungewiß, ob wir gerettet werden, ob wir noch Zeit haben, alles wieder gut zu machen ...«
Er bekreuzte sich und begann, den Rosenkranz in der Hand, Gebete zu murmeln.
»Wer ist es?« fragte Giovanni einen Mönch, der neben ihm stand.
»Es ist Sandro Botticelli, ein Sohn des Gerbers Filipepi,« erwiderte jener.
Als es ganz finster geworden war, ging durch die Massen ein Flüstern:
»Sie kommen! Sie kommen!«
Die Kinder-Inquisitoren kamen schweigend, ohne Hymnen, ohne Fackeln durch die Dämmerung. Sie hatten alle lange weiße Kleider an und trugen über ihren Köpfen eine Statue des Jesuskindes, das mit einer Hand auf seine Dornenkrone wies und mit der anderen das Volk segnete. Ihnen folgten die Mönche, die Geistlichkeit, die Gonfalonieri, der Rat der Achtzig, Kanoniker, Doktoren und Magister der Theologie, die Ritter des Kapitäns von Bargello, Trompeter und Stabträger.
Auf dem Platze wurde es still, wie vor einer Hinrichtung.
Auf die Ringhiera, eine gemauerte Erhöhung vor dem Palazzo Vecchio, trat Savonarola. Er hob ein Kruzifix empor und verkündete laut und feierlich:
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes – zündet an!«
Vier Mönche näherten sich mit brennenden Fackeln der Pyramide und steckten sie an vier Ecken in Brand.
Die Flamme knisterte, Rauch stieg empor; anfangs war er grau, dann wurde er schwarz. Fanfaren erklangen. Die Mönche stimmten ihr » Te Deum laudamus!« an und helle Kinderstimmen sangen:
» Lumen ad revelationem gentium et gloriam plebis Israel!«
Die Glocke auf dem Turme des Palazzo Vecchio begann zu läuten und alle Kirchenglocken von Florenz fielen in ihr mächtiges ehernes Dröhnen ein.
Die Flammen schlugen immer heller empor. Zarte, gleichsam lebendige Blätter der alten Pergamentbücher warfen sich und verkohlten. Von der untersten Stufe, auf der die Karnevalslarven lagen, flog plötzlich ein brennender falscher Bart in die Luft. Die Menge jauchzte auf.
Die einen beteten, die andern weinten; andere lachten, hüpften und winkten mit Armen und Hüten; wieder andere weissagten.
»Singet, singet dem Herrn ein neues Lied!« schrie ein lahmer Schuhmacher mit verdrehten Augen. »Alles wird zusammenstürzen, meine Brüder, alles wird untergehen, wie hier diese Eitelkeiten in der reinigenden Flamme verbrennen; alles, alles, alles wird untergehen: Kirche und Gesetz, Regierung und Obrigkeit, Kunst und Wissenschaft, es wird kein Stein auf dem andern bleiben, und dann kommt ein neuer Himmel und eine neue Erde! Und der Herr wird jede Träne aus unsern Augen wischen, es wird weder Tod geben, noch Tränen, Leiden und Krankheiten! Komm, o Herr Jesu!«
Ein junges schwangeres Weib mit hagerem, leidendem Gesicht, wohl die Frau eines armen Handwerkers, fiel in die Knie, streckte ihre Arme nach dem Scheiterhaufen aus, als ob sie in der Flamme den Heiland selbst sähe, und schrie mit den letzten Kräften wie eine besessene:
»Komm, Herr Jesu! Amen! Amen! Komme, Herr!«
Giovanni sah im Scheiterhaufen ein von der Flamme grell beleuchtetes, aber noch unversehrtes Bild; es war ein Werk Leonardo da Vincis.
Über den abendlichen Wassern eines Bergsees stand die nackte weiße Leda. Ein gigantischer Schwan hatte ihren Leib mit seinem Flügel umschlungen und reckte den schlanken Hals, die Erde und den leeren Himmel mit dem Schrei sieghafter Liebe erfüllend. Zu ihren Füßen, zwischen Pflanzen, Tieren und Insekten des Wassers, zwischen keimenden Samen, Larven und Knospen regten sich in der warmen Dämmerung, in der feuchten Schwüle die neugeborenen Halbgötter und Halbtiere – die Zwillinge Kastor und Pollux, die soeben aus der Schale eines riesengroßen Eies gekrochen waren. Leda, nackt bis zu den verborgensten Falten ihres Leibes, sah liebevoll auf ihre Söhne herab und umarmte den Hals des Schwanes mit keuschem und zugleich wollüstigem Lächeln.
Giovanni verfolgte mit den Blicken die Flamme, die sich ihr immer mehr und mehr näherte, und sein Herz stand still vor Grauen.
Indessen hatten die Mönche auf der Mitte des Platzes ein schwarzes Kreuz aufgepflanzt. Dann reichten sie sich die Hände und bildeten drei Kreise zu Ehren der Dreifaltigkeit. Um die Freude der Gläubigen über die Verbrennung der Eitelkeiten und Anathemas zu zeigen, tanzten sie einen Reigen, zuerst langsam, dann immer schneller und schneller; schließlich kreisten sie wie ein Wirbelwind und sangen:
Ognun gridi, com'io grido,
Sempre pazzo, pazzo, pazzo!
Um Demut vor dem Herrn zu zeigen,
Wir tanzen, drehen uns im Reigen.
Wie König David heben
Die Kutten wir und schweben
Und tanzen toll vor Glück
Und keiner bleibt zurück.
Laßt uns tanzen viele Runden,
Trunken von dem Blut der Wunden
Unsres Heilands, unsres Herrn,
Laßt uns jauchzen, laßt uns singen,
Laßt uns springen, springen, springen,
Voller Wahnsinn vor dem Herrn!
Den Zuschauern drehte sich der Kopf, und Beine und Arme begannen ganz von selbst zu zucken; Kinder, Greise und Frauen wurden von dem Taumel mitgerissen und stürzten sich in den rasenden Reigen. Ein kahlköpfiger, dicker Mönch mit finnenbedecktem Gesicht, der einem alten Faun glich, glitt aus und schlug sich den Kopf blutig; wenn man ihn nicht sofort aus der Menge herausgezogen hätte, wäre er totgetreten worden.
Der blutrote flackernde Feuerschein beleuchtete verzerrte Gesichter. Das schwarze Kruzifix – der Mittelpunkt des kreisenden Reigens – warf einen schwarzen Schatten.
Die Kreuze hebet, schwinget
Und springet, springet, springet,
Wie König David sprang.
Wir drehen uns im Kreise
Zur lust'gen Fastnachtsweise
Mit Jauchzen und Gesang.
Wollen nicht auf Weisheit hören,
Die die ird'schen Weisen lehren!
Alle Weisheit wir bespei'n!
Denn die Weisheit ist für Sünder,
Laßt uns Narren sein und Kinder,
Laßt uns toll in Christo sein!
Die Flammen hatten inzwischen Leonardos Bild erreicht und beleckten jetzt mit roten Zungen den nackten weißen Leib, der nun rosig angehaucht, wie lebendig und noch geheimnisvoller und schöner erschien.
Giovanni blickte bebend und erblassend zu ihr hinauf.
Leda schenkte ihm ihr letztes Lächeln, dann loderte sie auf, schmolz im Feuer, wie Nebel in der Morgensonne schmilzt und verschwand für alle Zeiten.
Der ausgestopfte Teufel auf dem Gipfel der Pyramide hatte Feuer gefangen. Sein mit Pulver gefüllter Bauch explodierte, mit betäubendem Knall. Eine Feuersäule stieg augenblicklich zum Himmel. Das Ungeheuer schwankte auf seinem flammenden Thron, stürzte zusammen und zerfiel in einen Haufen Kohlenglut.
Wieder erklangen Fanfaren und Pauken. Alle Glocken von Florenz stimmten ein. Das Volk erhob ein Siegesgeheul, als ob der Teufel in Person mit allem Leid, Unrecht und Bösen der Welt im Feuer des heiligen Scheiterhaufens umgekommen wäre.
Giovanni griff sich an den Kopf und wollte fliehen. Da legte sich eine Hand auf seine Schulter, er wandte sich rasch um und erblickte den Meister.
Leonardo nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus der Volksmenge.
Sie verließen den von stinkenden Rauchwolken umlagerten und von dem erlöschenden Scheiterhaufen beleuchteten Platz und gelangten durch eine finstere Gasse zum Arnoufer.
Hier war es still und einsam, man hörte nur die Wellen des Flusses rauschen. Die Sichel des Mondes beleuchtete die friedlichen, mit silbernem Reif bedeckten Hügel. Die Sterne flimmerten in strengen und in milden Strahlen.
»Warum hast du mich verlassen, Giovanni?« fragte Leonardo. Der Schüler hob die Augen, wollte etwas erwidern, doch seine Stimme versagte, seine Lippen erbebten und er begann zu weinen.
»Meister, verzeiht! ...«
»Du hast vor mir nichts verbrochen,« versetzte der Künstler.
»Ich wußte selbst nicht, was ich tat,« fuhr Beltraffio fort, »wie konnte ich, o Gott, wie konnte ich Euch nur verlassen? ...«
Er wollte von seinem Wahnsinn, von seinen Qualen, von seinen Zweifeln über den Kelch des Herrn und den Kelch des Teufels, über Christus und Antichrist, erzählen, aber er fühlte wieder, wie einst vor dem Sforzamonument, daß Leonardo ihn nicht verstehen würde; er schwieg und blickte mit hoffnungslosem Flehen in seine klaren Augen, die so still und fremd wie die Sterne waren.
Der Meister fragte ihn nicht aus, als habe er alles erraten; er lächelte ihm mit dem Ausdrucke unendlichen Mitleides zu, legte ihm die Hand auf den Kopf und sagte:
»Gott helfe dir, mein armer Junge! Du weißt, daß ich dich stets wie einen Sohn liebte, wenn du wieder mein Schüler werden willst, so nehme ich dich mit Freuden auf.«
Und dann fügte er noch halb für sich, mit jener rätselvollen und verschämten Kürze, mit der er gewöhnlich seine geheimen Gedanken ausdrückte, hinzu:
»Je mehr Gefühl, um so mehr Leid. Ein großes Martyrium!«
Das Glockengeläute, der Gesang der Mönche und die Schreie der wahnsinnigen Menge klangen noch ganz schwach aus der Ferne, doch sie störten nicht mehr das Schweigen, das Meister und Schüler umgab.