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Der Hexensabbat
In der einsamen Vorstadt Porta Vercellina von Mailand, in der Nähe des Dammes und des Zollhauses am Kanal Catarana, stand ein einsames altes Häuschen, aus dessen verrußtem windschiefem Schornstein Tag und Nacht Rauchwolken aufstiegen.
Das Häuschen gehörte der Hebamme Monna Sidonia. Das obere Stockwert vermietete sie an den Alchimisten Messer Galeotto Sacrobosco; im Erdgeschoß hauste sie selbst mit Kassandra, der Tochter von Galeottos Bruder Luigi, der Kaufmann und berühmter Reisender gewesen war und in fortwährender Suche nach Altertümern, ganz Griechenland, die Inseln des Archipels, Syrien, Kleinasien und Ägypten bereist hatte.
Alles, was ihm in die Hände fiel, verleibte er seinen Sammlungen ein: herrliche Statuen und ein Stück Bernstein mit einer darin erstarrten Fliege, eine gefälschte Inschrift von Homers Grab, echte Tragödien des Euripides und ein angebliches Schlüsselbein des Demosthenes.
Die einen hielten ihn für verrückt, andere für einen Aufschneider und Schwindler, andere dagegen für einen großen Mann. Seine Phantasie war so sehr von heidnischen Dingen erfüllt, daß er, der immer ein guter Christ blieb, ganz ernsthaft zu dem »heiligen Genius Merkur« betete, und den Mittwoch, der dem geflügelten Götterboten heilig war, als einen für geschäftliche Angelegenheiten besonders günstigen Tag achtete. Bei seinen Reisen scheute er keinerlei Mühe und Entbehrungen. So erfuhr er einmal, als er sich bereits irgendwo eingeschifft hatte und an die zehn Meilen weit gefahren war, von einer interessanten Inschrift, die zu lesen er versäumt hatte; da kehrte er sofort um, um sich diese Inschrift abzuschreiben. Als ihm bei einem Schiffbruch eine wertvolle Sammlung alter Manuskripte verloren ging, wurde er über Nacht grau vor Gram. Wenn man ihn fragte, warum er sich zugrunde richte und sich sein ganzes Leben lang so großen Gefahren und Entbehrungen aussetze, so erwiderte er stets die gleichen Worte:
»Ich will die Toten auferwecken!«
Im Peloponnesus, bei den traurigen Ruinen Spartas, in der Nähe des Städtchens Mistra traf er einmal ein Mädchen, das der Statue der alten Göttin Diana ähnlich sah. Sie war die Tochter eines armen, versoffenen Dorfgeistlichen. Er heiratete sie und nahm sie zugleich mit einer neuen Ilias-Handschrift, Fragmenten einer Marmorhekate und einigen Amphora-Scherben nach Italien mit. Die Tochter, welche ihm diese Griechin gebar, nannte er Kassandra, zu Ehren der Heldin des Äschylos, der Gefangenen des Agamemnon, für die er sich zu jener Zeit begeisterte.
Seine Frau starb bald darauf. Als er wieder einmal eine Reise unternahm, ließ er seine kleine mutterlose Tochter unter der Obhut seines alten Freundes, des gelehrten Griechen Demetrius Chalkondilas aus Konstantinopel zurück. Dieser Philosoph war von den Sforzas nach Mailand berufen worden.
Der siebzigjährige Greis war falsch, verschlossen und heuchlerisch. Er spielte einen eifrigen Vorkämpfer der christlichen Kirche, war aber in der Tat, wie viele gelehrte Griechen in Italien mit dem Kardinal Byssario an der Spitze, Anhänger des letzten Lehrers der alten Philosophie, des Neoplatonikers Gemistos Plethon, der vor etwa vierzig Jahren im Peloponnesos, bei den Ruinen Spartas, in jenem Städtchen Mistra, aus dem Kassandras Mutter stammte, gelebt hatte. Seine Jünger glaubten, die Seele des großen Plato sei vom Olymp herabgestiegen, um in der Gestalt des Plethon Weisheit zu verkünden. Die christlichen Gelehrten behaupteten dagegen, daß dieser Philosoph die ketzerische Lehre des Antichrist – des Kaisers Julian Apostata erneuern und die Anbetung der alten olympischen Götter einführen wollte, und daß man ihn nicht mit wissenschaftlichen Argumenten und Disputationen, sondern mit der heiligen Inquisition und mit den Flammen der Scheiterhaufen bekämpfen müsse. Es wurde auch folgender Ausspruch Plethons zitiert, den er drei Jahre vor seinem Tode zu seinen Schülern getan haben sollte: »Wenige Jahre nach meinem Tode wird die einzige Wahrheit über allen Völkern der Erde aufleuchten und alle Menschen werden sich in einem Geiste zum einigen Glauben bekennen – unam eandemque religionem universum orbem esse suscepturum.« Als man ihn fragte, welchen Glauben er meine, ob den christlichen oder den mohammedanischen, so erwiderte er: »Keinen von beiden, sondern einen Glauben, der dem alten Heidentum nicht ungleich ist – neutram, sed a gentilitate non differentem.«
Die kleine Kassandra wurde im Hause des Demetrius Chalkondilas streng kirchlich erzogen, doch war diese Gottesfurcht nur Heuchelei. Das Kind fing manches Wort von den philosophischen Gesprächen, die im Hause geführt wurden, auf und bildete sich aus mißverstandenen Bruchstücken platonischer Weisheiten ein Zaubermärchen von der Auferstehung der toten olympischen Götter.
Das Mädchen trug am Halse als Talisman gegen Fieber – eine Kamee mit der Darstellung des Gottes Dionysos, ein Geschenk ihres Vaters. Manchmal nahm Kassandra, wenn sie allein war, den alten Stein in die Hand und hielt ihn gegen das Licht, da erschien ihr im violetten Schimmer des Amethystes der nackte Jüngling Bacchus mit dem Thyrsus in der einen Hand und einer Weintraube in der anderen; zu seiner Seite sprang ein Panther, der die Traube mit der Zunge zu erhaschen suchte. Und das Herz des Kindes erglühte in Liebe zu dem schönen Gotte.
Messer Luigi starb bettelarm am Sumpffieber in der Hütte eines Hirten unter den Ruinen eines von ihm entdeckten Phönizischen Tempels. Zu jener Zeit kehrte Kassandras Onkel, der Alchimist Sacrobosco, von seinen langjährigen Fahrten auf der Jagd nach dem Geheimnisse des Steines der Weisen nach Mailand zurück. Er bezog das Häuschen bei der Porta Vercellina und nahm seine Nichte zu sich.
Giovanni Beltraffio dachte immer an die von ihm belauschte Unterredung der Monna Kassandra mit dem Mechaniker Zoroastro von dem vergifteten Baum. Später traf er Kassandra im Hause des Demetrius Chalkondilas, für den er auf Empfehlung Merulas Schreibarbeiten verrichtete. Es wurde ihm von vielen Leuten gesagt, sie sei eine Hexe. Doch fühlte er sich von ihrer rätselhaften Schönheit angezogen. Fast jeden Abend suchte Giovanni nach Beendigung seiner Arbeiten in Leonardos Werkstatt das kleine Haus bei der Porta Vercellina auf, um mit Kassandra zu plaudern. Sie saßen dann auf einem Hügel am Ufer des stillen dunklen Kanals, in der Nähe des Dammes und des verfallenen Redegonda-Klosters und sprachen stundenlang miteinander Ein verlorener Weg führte zwischen Holundergebüsch, Nesseln und Kletten zu diesem Hügel. Kein Mensch kam je hinauf.
Der Abend war schwül, vereinzelte Windstöße ließen den weißen Staub von der Straße auffliegen und das Laub rauschen; dann wurde es noch stiller. Man hörte nur das ferne Grollen des Donners, das aus der Erde zu kommen schien. Und dazwischen hörte man noch die schneidenden Töne einer verstimmten Laute und die trunkenen Lieder der Zollwächter, die sich in einem nahen Wirtshaus vergnügten; denn es war Sonntag.
Zuweilen flammte ein blasses Wetterleuchten auf, und man sah für einen Augenblick das baufällige Häuschen auf dem anderen Ufer mit den Rauchwolken, die aus dem Schmelzofen des Alchimisten aufstiegen, die hagere Gestalt des Küsters, der auf dem mit Moos bewachsenen Damme angelte, den langen sich in der Ferne verlierenden von zwei Reihen Lärchen und Weiden flankierten Kanal, die flachen Boote vom Lago Maggiore, mit Blöcken weißen Marmors für den Dombau beladen und von elenden Mähren gezogen und den das Wasser streifenden langen Schlepptau. Dann verschwand alles wieder im Finstern wie ein Gespenst. Nur das rötliche Feuer des Alchimisten spiegelte sich im dunklen Wasser des Kanals. Es roch nach stehendem Wasser, welkem Farnkraut, Teer und faulem Holz.
Giovanni und Kassandra saßen auf ihrem gewohnten Platz am Kanal.
»Es ist so langweilig!« sagte das Mädchen. Sie reckte sich und faltete ihre feinen weißen Hände hinter dem Kopfe ineinander. »Jeden lieben Tag das gleiche, heute wie gestern und morgen wie heute. Der dumme Küster angelt alle Tage so und fischt doch nie etwas heraus, der Rauch steigt immer in der gleichen Weise aus dem Kamin des Laboratoriums, wo Onkel Galeotto Gold sucht und es doch nie findet. Die gleichen Kähne werden von den gleichen Mähren geschleppt und im Wirtshause tönt immer die gleiche Laute. Daß sich doch etwas Neues ereignete! Wenn doch die Franzosen kämen und Mailand verwüsteten, oder der Küster etwas herausfischte, oder der Onkel das Gold fände ... Gott, wie langweilig!«
»Ja, ich kenne es,« erwiderte Giovanni. »Auch ich habe früher schon oft diese Langeweile empfunden. Aber von Fra Benedetto habe ich ein herrliches Gebet gelernt, das den Teufel des Schwermuts vertreibt, wollt Ihr, daß ich es Euch aufsage?«
Das Mädchen antwortete kopfschüttelnd:
»Nein, Giovanni. Mich überkommt zwar oft das Verlangen, zu eurem Gott zu beten, doch kann ich es längst nicht mehr.«
»Zu unserm Gott? Gibt es denn noch einen andern Gott neben unserem einzigen Gott? ...«
Ein Wetterleuchten erhellte für einen Augenblick ihr Gesicht: es erschien ihm so unergründlich, so traurig und so schön, wie noch nie.
Sie strich mit der Hand über ihr schwarzes weiches Haar und sagte nach einer Pause:
»Höre, mein Freund. Es war vor vielen Jahren in meiner Heimat. Ich war damals noch ein Kind. Mein Vater nahm mich auf eine seiner Reisen mit. Wir besuchten einen zerfallenen alten Tempel. Er stand auf einer Landzunge und war vom Meere umspült. Möwen schrien rings umher und die Wellen zerschellten tosend an den schwarzen Steinen, die von Salzwasser zernagt und zu spitzen Nadeln geschliffen waren. Der Schaum flog auf und lief zischend an den Nadeln herunter. Mein Vater war mit dem Entziffern einer halbverwischten Inschrift auf einem Stück Marmor beschäftigt. Ich saß lange auf den Marmorstufen vor dem Tempel, lauschte den Wellen und atmete frische Luft, in die sich der bittere Geruch von Wermut mischte. Dann trat ich in den verlassenen Tempel. Die Säulen aus gelblichem Marmor standen noch ganz unberührt da und der blaue Himmel lugte zwischen ihnen ganz schwarz hervor. Hoch oben blühten in den Spalten rote Mohnblumen. Es war ganz still und nur das gedämpfte Brausen der Flut erfüllte den Tempel gleichsam mit Gebeten. Ich lauschte diesem Gesang, und plötzlich zuckte etwas in meinem Herzen. Ich fiel in die Knie und betete zu dem unbekannten Gott, der hier einst wohnte und der nun gestürzt war. Ich küßte die Marmorstufen und weinte; und ich liebte ihn, weil niemand auf Erden ihn mehr liebte und zu ihm betete und weil er tot war. Seit jener Stunde habe ich nie wieder mit solcher Inbrunst gebetet. Es war ein Tempel des Dionysos.«
»Was sagt Ihr da, Kassandra?« sprach Giovanni: »Es ist ja Sünde und Gotteslästerung! Es gibt keinen Gott Dionysos und es hat nie einen gegeben! ...«
»So, es hat keinen gegeben?« wiederholte das Mädchen mit verächtlichem Lächeln. »Wieso lehren dann die heiligen Kirchenväter, an die du glaubst, daß die gestürzten Götter sich nach dem Siege Christi in mächtige Dämonen verwandelt hätten? Warum steht im Buche des berühmten Astrologen Giorgio di Novara die auf genauer Beobachtung der Gestirne begründete Weissagung: Die Konjunktur des Jupiters mit dem Saturn hatte die Religion Mosis gezeitigt, seine Konjunktur mit dem Mars die chaldäische, mit der Sonne die ägyptische, mit der Venus die muhammedanische, mit dem Merkur die christliche; seine Konjunktur mit dem Monde wird einst die Religion des Antichrist hervorbringen und dann werden die toten Götter auferstehen!«
Da ertönte ein Donnerschlag des sich nähernden Gewitters; das blendende Wetterleuchten ließ eine große schwere Wolke erkennen, die langsam heranschlich. In der schwülen drohenden Stille ließen sich noch immer die aufdringlichen Lautenklänge vernehmen.
»O, Kassandra!« rief Beltraffio aus, seine Hände mit qualvoller und flehender Gebärde faltend. »Seht Ihr denn nicht, daß es nur die Versuchung des Teufels ist, der Euch in ewige Verderbnis stürzen will? Fluch über ihn, den Verdammten!«
Das Mädchen wandte sich rasch um, legte ihm beide Hände auf die Schultern und flüsterte:
»Hat er denn nicht auch dich versucht? Wenn du wirklich so fromm bist, Giovanni, warum hast du dann deinen Fra Benedetto verlassen, warum bist du in die Werkstatt des gottlosen Leonardo da Vinci eingetreten? Warum kommst du dann her und zu mir? Weißt du denn nicht, daß ich eine Hexe bin? Und daß die Hexen schlecht sind, viel schlimmer als der Teufel? Warum fürchtest du denn nicht, bei mir dein Seelenheil zu verlieren? ...«
»Gott sei mit uns! ...« flüsterte er, am ganzen Leibe zitternd.
Sie näherte sich ihm und bohrte in ihn ihre bernsteingelben durchscheinenden Augen. Jetzt war es ein Blitz und kein Wetterleuchten mehr, was plötzlich ihr blasses Gesicht beleuchtete. Es war so weiß, wie das Gesicht jener Marmorgöttin, die einst auf dem Mühlenhügel vor Giovannis Augen aus ihrem tausendjährigen Grabe auferstand. Ein unsagbarer Schreck überfiel ihn:
»Sie ist es! Die weiße Teufelin!«
Er wollte aufspringen und fliehen, doch konnte er sich nicht vom Platze rühren. Er fühlte auf seiner Wange ihren heißen Atem und hörte ihr Flüstern:
»Willst du, Giovanni, daß ich dir alles, bis ans Ende erzähle? Willst du, mein Lieb, wir fliegen beide zu ihm hin? Dort ist gut sein, dort gibt es keine Langeweile. Und man kennt dort keine Scham! Wie in einem Traume ist es, wie im Paradiese, denn dort ist alles erlaubt! Willst du mitkommen? ...«
Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirne, doch die Neugier bezwang seine Angst und er fragte:
»Wohin? ...«
Jetzt berührte sie beinahe seine Wange mit ihren Lippen und sagte so leise, daß es mehr wie ein Seufzer von Leidenschaft und Wollust klang:
»Zum Sabbat!«
Ein Donnerschlag ließ Himmel und Erde erzittern. Er rollte in wilder Lust, wie das Lachen unterirdischer Titanen, dahin und verhallte in der atemlosen Stille.
In den Baumkronen rührte sich kein Blatt. Die Lautentöne brachen ab.
Im gleichen Augenblick erklang das eherne Dröhnen der Klosterglocke des abendlichen Angelus.
Giovanni bekreuzigte sich. Das Mädchen erhob sich und sagte:
»Es ist Zeit, aufzubrechen. Siehst du die Fackeln? Herzog Moro reitet jetzt zu Messer Galeotto. Ich hatte es ganz vergessen: der Onkel will heute dem Herzog die Verwandlung von Blei zu Gold vorführen.«
Man hörte Pferdegetrabe. Von der Porta Vercellina her sprengten längs des Kanals Reiter heran. Der Alchimist machte in Erwartung des Herzogs die letzten Vorbereitungen zu dem bevorstehenden Versuch.
Messer Galeotto verbrachte sein ganzes Leben auf der Suche nach dem Stein der Weisen.
Nachdem er zu Bologna die medizinische Fakultät absolviert hatte, trat er als Famulus zu dem damals berühmten Adepten der Geheimwissenschaften – dem Grafen Bernardo Trevisano ein. Dann suchte er fünfzehn Jahre lang den die Elemente umwandelnden Merkur in allen möglichen Stoffen: in Kochsalz und Salmiak, in verschiedenen Metallen, in gediegenem Bismut und Arsen, in Menschenblut, Galle und Haar, in Tieren und Pflanzen. Die vom Vater geerbten sechstausend Dukaten flogen bald durch den Kamin seines Schmelzofens. Als er mit dem eigenen Geld fertig war, machte er sich an fremdes heran. Die Gläubiger sperrten ihn ins Gefängnis. Es gelang ihm, zu entkommen; in den nächsten acht Jahren experimentierte er mit Hühnereiern, von denen er 20000 Stück verbrauchte. Dann arbeitete er gemeinsam mit dem päpstlichen Protonotar Maestro Henrico an der Erforschung der verschiedenen Vitriole; bei diesen Versuchen mußte er viel giftige Dämpfe einatmen, er wurde krank und kämpfte vierzehn Monate lang, von allen verlassen, mit dem Tode. Er litt Armut, Erniedrigungen und Verfolgungen und besuchte als reisender Laborant Spanien, Frankreich, Österreich, Holland, Nordafrika, Griechenland, Palästina und Persien. Der König von Ungarn ließ ihn foltern, um von ihm das Geheimnis des Goldmachens zu erpressen. Endlich kam er gealtert, müde, doch immer noch auf einen Erfolg hoffend, auf Einladung des Herzogs Moro nach Italien und ließ sich als herzoglicher Hofalchimist in Mailand nieder.
Die Mitte des Laboratoriums nahm ein unförmlicher Ofen aus feuerfestem Ton ein, der mit einer Menge Abteilungen, Türen, Tiegel und Blasebälge ausgestattet war. In einer Ecke waren unter einer Staubschicht die verrußten Schlacken aufgehäuft. Sie glichen erstarrter Lava.
Der Arbeitstisch war ganz von komplizierten Apparaten eingenommen. Da standen Destilliergefäße und Helme, chemische Rezipienten, Retorten, Trichter, Mörser, Phiolen, langhalsige Glasflaschen, Rohrschlangen, große Gläser und kleine Büchsen. Es roch nach scharfen Säuren, Alkalien und giftigen Salzen. Die Metalle enthielten eine ganze geheimnisvolle Welt; sie entsprachen den sieben olympischen Göttern und den sieben Planeten: das Gold der Sonne, das Silber dem Mond, das Kupfer der Venus, das Eisen dem Mars, das Blei dem Saturn, das Zinn dem Jupiter und das lebendige, gleißende Quecksilber dem ewig beweglichen Merkur. Einzelne Stoffe hatten barbarische Namen, die dem Laien Schrecken einflößten: so gab es hier Mondzinnober, Wolfsmilch, Achilleskupfer, Asterit, Androdama, Anagallis, Rapontikum und Aristolochia. Ein kostbarer Tropfen des nach langjähriger Arbeit gewonnenen Löwenblutes, das alle Krankheiten heilt und ewige Jugend verleiht, leuchtete wie ein Rubin.
Der Alchimist saß vor seinem Arbeitstisch. Messer Galeotto war hager, klein und zusammengeschrumpft wie ein alter Pilz, aber immer noch lebhaft und beweglich. Er hatte seinen Kopf auf die Hände gestützt und beobachtete eine Flüssigkeit, die über einer bläulichen Spiritusflamme kochte und zischte. Es war das durchsichtige smaragdgrüne Venusöl – Oleum Veneris. Eine brennende Kerze warf durch die kochende Flüssigkeit einen grünen Schein auf den aufgeschlagenen uralten Pergamentfolianten – ein Werk des arabischen Alchimisten Djabir Abdallah.
Als auf der Treppe Stimmen und Schritte ertönten, stand Galeotto auf. sah sich noch einmal um, ob alles fertig und in Ordnung sei, befahl dem schweigsamen Famulus, in den Schmelzofen Kohle nachzulegen und ging seinen Gästen entgegen.
Die Gäste waren gut aufgelegt, denn sie kamen von einem Nachtmahl, bei dem viel Malvasier getrunken worden war. Im Gefolge des Herzogs befanden sich auch sein Leibarzt Maliani, der große Kenntnisse in der Alchemie besaß, und Leonardo da Vinci.
Die Damen erfüllten die stille Klause des Gelehrten mit Wohlgerüchen, mit dem Geknister ihrer Seidenkleider, mit leichten Worten und mit Lachen, das wie Vogelgezwitscher klang.
Eine Dame streifte mit ihrem Ärmel eine Glasretorte. Diese fiel um und zerbrach.
»Es tut nichts, Signora!« sagte Galeotto galant. »Ich will gleich die Scherben auflesen, damit Ihr Euer Füßchen nicht verletzt.«
Ein anderes Dämchen ergriff ein verrußtes Stück Eisenschlacke und verschmierte sich dabei ihren hellen mit Veilchen parfümierten Handschuh. Ein geschickter Kavalier machte sich daran, mit einem Spitzentaschentuch den Fleck wegzuwischen, wobei er das Händchen heimlich drückte.
Die stets zu Streichen aufgelegte blonde Donsella Diana berührte eine mit Quecksilber gefüllte Schale; es amüsierte sie und doch war ihr dabei etwas ängstlich zumute. Einige Quecksilbertropfen rollten, glänzenden Kugeln gleich, über den Tisch.
»Seht doch, seht, Signori!« schrie sie auf: »Wie wunderbar! Lebendes flüssiges Silber! Es läuft ganz von selbst!«
Sie hüpfte vor Freude und klatschte in die Hände.
»Ist es wahr, daß wir während der Verwandlung des Bleies zu Silber im alchimistischen Feuer den Teufel sehen werden?« fragte die schöne, schelmische Philiberta, die Gattin des Salzamtverwesers.
»Glaubt Ihr nicht, Messere, daß es sündhaft ist, solchen Versuchen beizuwohnen?«
Philiberta war sehr gottesfürchtig, und man erzählte von ihr, daß sie ihrem Liebhaber alles gestatte, nur nicht den Kuß auf die Lippen, denn die Keuschheit bleibe gewahrt, so lange ihre Lippen, mit denen sie vor dem Altare das Gelübde der ehelichen Treue abgelegt hatte, keusch blieben.
Der Alchimist ging auf Leonardo zu und flüsterte ihm ins Ohr:
»Messere, seid davon überzeugt, daß ich den Besuch eines Mannes wie Ihr wohl zu schätzen weiß ...«
Er drückte ihm kräftig die Hand. Leonardo wollte etwas erwidern, doch der Alte unterbrach ihn nickend:
»Ja, gewiß, gewiß! ... Für die andern bleibt es ein Geheimnis! Aber wir verstehen doch einander? ...«
Dann sagte er mit gewinnendem Lächeln zu seinen Gästen:
»Mit Erlaubnis meines Gönners, des durchlauchtigsten Herzogs, wie auch der Damen, meiner schönen Gebieterinnen, will ich jetzt den Versuch der göttlichen Metamorphose vornehmen. Ich bitte um Aufmerksamkeit!«
Um jedem Zweifel an der Richtigkeit des Versuches vorzubeugen, zeigte er den Tiegel – ein dickwandiges Gefäß aus feuerfestem Ton von regelmäßiger Form – und forderte die Zuschauer auf, ihn genau zu untersuchen, zu betasten und zu beklopfen und so festzustellen, daß jeder Betrug ausgeschlossen sei; er erzählte, daß manche Alchimisten Tiegel mit doppeltem Boden gebrauchen, in dem sie Gold verstecken; der obere Boden springe in der Hitze, und so käme das Gold in die Mischung. Ebenso wurden auch die Zinnklumpen, die Kohle, die Blasebälge, die Stöcke zum Umrühren und alle sonstigen Behelfe, in denen Gold verborgen, und auch solche, in denen es unmöglich verborgen sein konnte, einer eingehenden Untersuchung unterzogen.
Dann schnitt er den Zinnklumpen in kleine Stücke, warf sie in den Tiegel und stellte diesen in die Mündung des Ofens auf glühende Kohlen. Der schweigsame schielende Famulus, der ein so blasses und leichenhaftes Gesicht hatte, daß ihn eine Dame für den Teufel hielt und beinahe ohnmächtig wurde, begann die riesengroßen Blasebälge zu treten. Die Kohle erglühte unter dem sausenden Luftstrom.
Galeotto unterhielt indessen seine Gäste mit interessanten Erzählungen. Er nannte u. a. die Alchimie »eine keusche Dirne« – casta meretrix –, denn sie betrüge alle, erscheine einem jeden zugänglich und hätte sich doch bisher noch niemand völlig hingegeben – in nullos unquam pervenit amplexus. Dieser Vergleich erregte allgemeine Heiterkeit.
Der Leibarzt Marliani, ein dicker, plumper Mann mit aufgedunsenem, aber klugem und ernstem Gesicht, hörte mit Widerwillen dem Geschwätz des Alchimisten zu und rieb sich fortwährend die Stirne. Endlich hielt er es nicht mehr aus und fragte:
»Messere, wollt Ihr noch nicht ans Werk gehen? Das Zinn kocht ja schon.«
Galeotto holte ein blaues Papiersäckchen hervor und entfaltete es mit großer Vorsicht. Es enthielt ein fettiges gelbes Pulver von der Farbe einer Zitrone, das wie grob gestoßenes Glas aussah und nach gebranntem Seesalz roch: es war die geheimnisvolle Tinktur, der kostbare Schatz der Alchimie, der wundertätige Stein der Weisen – lapis philosophorum.
Mit einer Messerspitze nahm er ein winziges Körnchen davon, nicht größer als ein Rübsamen, knetete es in ein Stückchen weißes Bienenwachs und rollte dieses zu einer Kugel, die er dann in das siedende Zinn warf.
»Welche Kraft soll Eure Tinktur haben?« fragte Marliani.
»Auf einen Teil kommen 2,820 Teile des zu verwandelnden Metalles,« erwiderte Galeotto. »Die Tinktur ist natürlich noch unvollkommen, ich hoffe aber bald die Wirkungskraft von eins zu einer Million zu erreichen. Dann wird man nur ein Körnchen vom Gewicht eines Hirsenkorns nehmen müssen, es in einem Fasse auflösen und eine Nußschale voll dieser Lösung auf einen Weinberg spritzen, um schon im Mai reife Trauben zu erhalten! Mare tingerem, si Mercurius esset! – Ich könnte das Meer zu Gold verwandeln, wenn ich nur genügend Quecksilber hätte!«
Marliani zuckte mit den Achseln: die Prahlerei Messer Galeottos machte ihn rasend. Er begann die Unmöglichkeit der Umwandlung mit Argumenten der Scholastik und mit den Syllogismen des Aristoteles zu beweisen. Der Alchimist lächelte.
»Wartet nur, Domine Magister, ich werde Euch gleich einen Syllogismus zeigen, der nicht so leicht zu widerlegen ist.«
Er schüttete in die Glut eine Handvoll weißen Pulvers. Eine Flamme, so bunt wie der Regenbogen, zischte hervor; sie war bald blau, bald grün, bald rot.
In die Zuschauermenge kam Bewegung. Madonna Philiberta pflegte später zu erzählen, sie hätte in diesem Augenblick in der roten Flamme eine Teufelsfratze gesehen. Der Alchimist hob mit einem langen gußeisernen Haken den weißglühenden Deckel des Tiegels ab: das Zinn kochte, schäumte und siedete. Der Tiegel wurde wieder geschlossen. Wieder pfiff und stöhnte der Blasebalg, und als man nach zehn Minuten in den Tiegel einen Eisendraht versenkte und dann wieder herausnahm, da erblickten alle an seinem Ende einen gelben Tropfen.
»Fertig!« sagte der Alchimist.
Der Tiegel wurde aus dem Ofen geholt, abgekühlt und zerschlagen. Wirrend und gleißend fiel der erstaunten Zuschauermenge ein Goldklumpen vor die Füße.
Nun wandte sich der Alchimist triumphierend zu Marliani:
» Solve mihi hunc syllogismum! – Löse mir diesen Syllogismus!«
»Es ist unerhört! ... ganz unwahrscheinlich ... gegen alle Gesetze der Natur und der Logik!« flüsterte Marliani ganz verlegen und verwirrt.
Messer Galeotto war bleich, seine Augen leuchteten. Er hob sie zum Himmel und rief aus:
» Laudetur Deus in aeternum, qui partem suae infinitae potentiae, nobis, suis abjectissimis creaturis communicavit. Amen.«
»Gelobet sei Gott der Allmächtige, der uns, seinen unwürdigsten Geschöpfen, einen Teil seiner unendlichen Macht verleiht. Amen.«
Das Gold wurde nun auf einem mit Salpetersäure befeuchteten Probierstein versucht. Es ließ darauf einen glänzenden gelben Streifen zurück; das Gold war reiner, als das beste ungarische und arabische Feingold.
Alle umringten nun den Alten, gratulierten und drückten ihm die Hand.
Herzog Moro nahm ihn beiseite und fragte: »Willst du mir treu und ehrlich dienen?«
»Ich wollte, ich hätte mehr als ein Leben, um sie alle dem Dienste Ew. Durchlaucht zu widmen!« erwiderte der Alchimist.
»Also, paß auf, Galeotto, daß kein anderer Fürst ...«
»Ew. Hoheit, wenn jemand etwas erfährt, so laßt mich wie einen Hund erhängen!«
Nach einer kurzen Pause fügte er mit unterwürfiger Verbeugung hinzu:
»Wenn ich noch um etwas ...«
»Schon wieder?«
»Ich schwöre, es ist zum letztenmal!«
»Wieviel?«
»Fünftausend Dukaten.«
Der Herzog überlegte sich die Sache, handelte tausend Dukaten ab und versprach viertausend.
Es war spät geworden. Madonna Beatrice konnte unruhig werden. Man brach auf. Galeotto geleitete die Gäste hinaus und schenkte jedem zum Andenken ein Stückchen vom neuen Golde. Leonardo blieb zurück.
Als alle fort waren, fragte der Alchimist Leonardo:
»Meister, wie gefiel Euch der Versuch?«
»Das Gold war in den Stöcken,« erwiderte Leonardo ruhig.
»In welchen Stöcken? Was wollt Ihr damit sagen, Messere?«
»In den Stöcken, mit denen Ihr das Zinn umrührtet. Ich habe alles gesehen.«
»Ihr hattet sie doch selbst untersucht ...«
»Es waren andere.«
»Wieso? Erlaubt doch ...«
»Ich sagte ja schon, daß ich alles gesehen habe,« wiederholte Leonardo. »Leugnet nicht, Galeotto. Das Gold war in den hohlen Enden der Stöcke; als die Enden abbrannten, fiel es in den Tiegel.«
Der Greis war bestürzt, seine Knie schlotterten. Sein Gesicht nahm den jämmerlichen, beschämten Ausdruck eines ertappten Diebes an.
Leonardo legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:
»Fürchtet nichts. Niemand wird es erfahren. Ich verrate Euch nicht.« Galeotto ergriff seine Hand und brachte mühevoll heraus:
»Werdet Ihr es wirklich niemand sagen? ...«
»Nein. Ich wünsche Euch nichts Böses. Warum habt Ihr es aber getan?«
»O, Messer Leonardo!« rief Galeotto aus, und statt der grenzenlosen Verzweiflung leuchtete nun in seinen Augen grenzenlose Hoffnung. »Ich schwöre bei Gott, daß, wenn ich auch quasi betrüge, so tue ich es nur noch eine ganz kurze Zeit zum Wohle des Herzogs und zum Triumph der Wissenschaft, denn ich habe doch wirklich den Stein der Weisen gefunden! Vorläufig habe ich ihn noch nicht, aber ich kann behaupten, daß ich ihn schon habe; denn ich habe die Methode gefunden, und Ihr wißt doch selbst, daß in der Wissenschaft die Methode die Hauptsache ist. Noch drei oder vier Versuche und dann bin ich fertig! Was blieb mir anderes zu tun, Meister, wiegt denn die Entdeckung des größten Geheimnisses nicht diese kleine Lüge auf? ...«
»Hört doch auf, Messer Galeotto! Wir wollen doch jetzt nicht Blindekuh spielen,« sagte Leonardo, die Achseln zuckend. »Ihr wißt doch ebenso gut wie ich, daß die Umwandlung der Metalle Unsinn ist, und daß es keinen Stein der Weisen gibt und ihn auch nicht geben kann. Alchimie, Nekromantie, Schwarze Magie und alle Wissenschaften, die nicht auf peinlich genauen Versuchen und Mathematik begründet sind, sind Schwindel und Wahnsinn; sie sind die vom Winde aufgeblasene Fahne der Charlatane, der die dumme Menge gläubig folgt.«
Der Alchimist starrte Leonardo mit klaren erstaunten Augen an. Dann neigte er plötzlich seinen Kopf auf die Seite, kniff ein Auge zu und lachte:
»Es ist wirklich nicht schön von Euch, Messere! Bin ich denn ein Laie? Wir wissen doch ganz genau, daß Ihr der größte Alchimist, ein neuer Hermes Trismegistos oder Prometheus seid und die verborgensten Geheimnisse der Natur Euer Eigen nennt!«
»Ich?«
»Ja, Ihr.«
»Ihr seid ein Spaßvogel, Messer Galeotto!«
»Nein, Ihr seid ein Spaßvogel, Messer Leonardo! Und wie gut Ihr Euch verstellen könnt! Ich habe schon manchen Alchimisten gesehen, der auf seine Geheimnisse eifersüchtig war, aber so einer wie Ihr ist mir noch nie vorgekommen!« Leonardo musterte ihn aufmerksam. Er wollte böse werden, doch konnte er es nicht.
»Glaubt Ihr also wirklich daran?« fragte er lächelnd.
»Ob ich daran glaube!« rief Galeotto aus. »wißt Ihr, Messer Leonardo: wenn Gott selbst zu mir käme und mir sagte: Galeotto, es gibt keinen Stein der Weisen, – so würde ich ihm sagen: Herr, ebenso gewiß, wie daß du mich erschaffen hast, gibt es auch den Stein der Weisen, und ich werde ihn finden!«
Leonardo widersprach und empörte sich nicht mehr und hörte gespannt zu.
Als die Rede auf die Beihilfe des Teufels in den Geheimwissenschaften kam, erklärte der Alchimist verächtlich, der Teufel sei das armseligste und schwächlichste Wesen in der ganzen Natur. Der Alte glaubte nur an die Macht der menschlichen Vernunft und behauptete, daß für die Wissenschaft alles möglich sei.
Dann fragte er, als ob ihm plötzlich etwas überaus Amüsantes und Liebes eingefallen wäre, ganz unvermittelt, ob Leonardo die Elementargeister oft sähe. Als dieser gestand, daß er noch nie einen gesehen hätte, wollte es ihm Galeotto nicht glauben und erklärte dann mit sichtbarer Freude und sehr genau, daß der Salamander von länglicher Gestalt, ungefähr anderthalb Finger breit, gefleckt, dünn und rauh sei, die Sylphide dagegen durchsichtig, himmelblau und luftig. Er erzählte ihm noch von Nymphen, Undinen, die im Wasser leben, unterirdischen Gnomen, Pygmäen, von den in Pflanzen hausenden Durdalen und den in Edelsteinen wohnenden seltenen Diameen.
»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie gut sie alle sind!« so schloß er seine Erzählung.
»Warum erscheinen denn diese Elementargeister nur den Auserwählten und nicht allen?«
»Wie könnten sie es tun? Sie fürchten sich vor den rohen Menschen, vor den Wüstlingen, Trunkenbolden und Fressern. Sie lieben kindliche Einfalt und Unschuld. Sie sind nur dort zu finden, wo es keine Bosheit und List gibt. Sonst werden sie scheu, wie die Tiere des Waldes, und dann flüchten sie vor den menschlichen Blicken in ihr heimatliches Element.«
Ein verträumtes zartes Lächeln glitt über die Züge des Greises.
»Welch ein sonderbarer, armer und lieber Mensch!« dachte sich Leonardo. Das alchimistische Geschwätz empörte ihn nicht mehr und er sprach mit ihm so vorsichtig, wie mit einem Kinde, und war bereit, den Besitz beliebiger Geheimnisse einzugestehen, um ihn nur nicht zu verletzen.
Sie schieden als Freunde.
Als Leonardo gegangen war, vertiefte sich der Alchimist in einen neuen Versuch mit dem Venusöl.
Während dieser Unterhaltung saßen vor dem großen Herd im Erdgeschoß des Hauses Monna Sidonia und Kassandra.
Über brennendem Reisig kochte in einem eisernen Kessel ihr Nachtmahl – eine Suppe mit Rüben und Knoblauch. Die Alte zog mit einer gleichförmigen Bewegung ihrer eingeschrumpften Finger den Faden aus dem Spinnrocken, wobei sie die sich rasch drehende Spindel bald hob, bald senkte. Kassandra sah auf die spinnende Alte und dachte: nun ist es wieder und immer wieder das Gleiche, heute wie gestern und morgen wie heute; wieder zirpt die Grille, wieder pfeift die Maus, summt die Spindel, knistert der trockene Reisig, und wieder dieser Geruch von Knoblauch und Rüben. Die Alte machte ihr wieder die gleichen Vorwürfe, folterte sie gleichsam mit einer stumpfen Säge: sie, Monna Sidonia, sei eine arme Frau, wenn auch die Leute behaupten, sie hätte einen Topf mit Geld auf dem Weinberge vergraben. Dies sei natürlich Unsinn. Denn Galeotto richtete sie zugrunde. Und sie beide, der Onkel und die Nichte, säßen ihr auf dem Halse; sie erhalte und ernähre sie nur aus purer Herzensgüte. Kassandra sei aber kein Kind mehr und solle doch an die Zukunft denken. Nach dem Tode des Onkels könne sie betteln gehen, warum wollte sie nicht den reichen Pferdehändler aus Abbiategrasso heiraten, der sich schon längst um sie bewerbe? Er sei zwar nicht mehr jung, dafür aber klug und gottesfürchtig; er besäße einen Laden, eine Mühle und einen Olivengarten mit einer neuen Ölpresse. Der Herr selbst wolle ihr Glück, warum zögere sie denn? Was wolle sie denn noch?
Monna Kassandra hörte gelangweilt zu, und ein schweres Unlustgefühl würgte sie an der Kehle und preßte ihre Schläfen zusammen, sie wollte weinen und schreien, denn sie empfand diese Langeweile wie einen heftigen Schmerz.
Die Alte holte aus dem Kessel eine dampfende Rübe, die sie dann auf ein spitzes Holzstäbchen steckte, mit dem Messer schälte, mit dickem rotem Weinmost begoß und schließlich mit ihrem zahnlosen Munde laut schmatzend, zu verzehren begann.
Das junge Mädchen reckte sich mit der mechanischen Gebärde stummer Verzweiflung und faltete ihre feinen weißen Finger hinter dem Kopf ineinander.
Die Alte wurde nach dem Nachtmahl schläfrig, sie saß vor ihrem Spinnrocken wie eine trübe Parze, ihre Augen fielen langsam zu und ihr Geschwätz über den Pferdehändler wurde verworren und sinnlos. Da holte Kassandra aus ihrem Busen das Geschenk ihres Vaters, des Messer Luigi hervor. Der Talisman hing an einer feinen Schnur und war von ihrem Körper erwärmt. Sie hielt den Edelstein gegen das Feuer des Herdes und im violetten Scheine des Amethystes erschien ihr der nackte junge Bacchus mit dem Thyrsus in der einen Hand und einer Weintraube in der anderen; ein Panther sprang an seiner Seite und suchte die Traube mit der Zunge zu erhaschen. Und das Herz Kassandras erglühte in Liebe zu dem schönen Gotte.
Sie seufzte tief auf, versteckte den Talisman und sagte schüchtern:
»Monna Sidonia, heute nacht versammelt man sich in Barco di Ferrara und in Beneventum ... Liebe, gute Tante! Fliegen wir hin! Wir wollen da gar nicht tanzen: nur hineinblicken und dann wieder umkehren. Ich will alles tun, was Ihr verlangt, ich will vom Pferdehändler ein Geschenk herausbetteln, dafür wollen wir aber heute gleich hinfliegen! ...«
In ihren Augen brannte wildes Verlangen. Die Alte sah sie an, ihre bläulichen runzligen Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, und sie zeigte ihren einzigen gelben Zahn, der dem Hauer eines Ebers ähnlich sah. Ihr Gesicht nahm einen schrecklichen und lüsternen Ausdruck an.
»So, du hast große Lust? He? Hast Appetit bekommen? So ein Teufelsmädel! Ich glaube, die könnte jede Nacht fliegen! Also gut, aber die Sünde liegt heute auf dir! Denn ich hatte gar nicht die Absicht. Ich will es nur um deinetwillen mitmachen ...«
Sie ging langsam durch die Stube, schloß sorgfältig die Fensterläden, verstopfte alle Fugen mit Lumpenfetzen, verriegelte die Türe, löschte die Glut auf dem Herde mit Wasser aus, zündete eine Kerze aus schwarzem Zaubertalg an und entnahm einer eisernen Truhe einen Topf mit einer scharf riechenden Salbe. Sie wollte die Zögernde und Vernünftige spielen. Aber ihre Hände zitterten, als ob sie betrunken wäre, und ihre kleinen Augen waren bald trübe, bald leuchtend und lüstern. Kassandra stellte in der Mitte der Stube zwei große Backtröge auf.
Als Monna Sidonia mit den Vorbereitungen fertig war, zog sie sich ganz nackt aus, stellte den Topf zwischen die Tröge, setzte sich über einen Trog rittlings auf einen Besen und begann ihren ganzen Körper mit der fetten grünlichen Salbe einzureiben. Der scharfe Geruch erfüllte die ganze Stube. Diese Hexensalbe bestand aus giftigem Lattich, Sumpfsellerie, geflecktem Schierling, schwarzem Nachtschatten, Mandragorawurzeln, schlafbringendem Mohn, Bilsenkraut, Schlangenblut und dem Fett ungetaufter, von Hexen totgemarterter Kinder.
Kassandra wandte sich ab, um nicht den häßlichen nackten Leib der Alten zu sehen. Im letzten Augenblick, als die Verwirklichung ihres heißen Wunsches schon so nahe war, spürte sie in der Tiefe ihrer Seele doch Ekel.
»Nun, wird's bald?« brummte die alte Hexe, über den Trog kauernd. »Erst eben hattest du solche Eile und jetzt machst du Geschichten. Allein will ich nicht fliegen. Zieh' dich aus!«
»Sofort. Löscht das Licht aus, Monna Sidonia ... Ich kann nicht bei Licht ...«
»Wie die verschämt tut! Auf dem Berge schämt sie sich aber nicht! ...«
Sie blies die Kerze aus und bekreuzigte sich zu Ehren des Teufels, wie es bei den Hexen üblich ist, mit der linken Hand. Das junge Mädchen kleidete sich aus, doch behielt sie ihr Hemd an; dann kauerte sie über dem Trog und begann sich eilig einzureiben.
Im Dunkeln war das Gemurmel der Alten hörbar, es waren sinnlose, abgerissene Worte der Zauberformel:
»Emen Hetan, Emen Hetan. Paludius, Baalberites, Astarot – helft! Agora, Agora, Patrica – helft!«
Kassandra atmete gierig den starken Duft der Zaubersalbe ein. Ihre Haut brannte, ihr Kopf schwindelte. Ein wollüstiges Frösteln überlief ihr den Rücken, vor ihren Augen schwebten rote und grüne Kreise, und wie aus weiter Ferne erklang der laute, feierliche Schrei der Monna Sidonia:
»Harr! Harr! Von unten nach oben, ohne anzustoßen!«
Kassandra flog aus dem Schornstein rittlings auf einem schwarzen Ziegenbocke, dessen weiches Fell ihre nackten Beine angenehm kitzelte. Ihr Atem ging schnell, sie jubilierte, zwitscherte und jauchzte, wie eine Schwalbe, die in die Sonne fliegt.
»Harr! Harr! von unten nach oben, ohne anzustoßen! Wir fliegen! Wir fliegen!«
Die häßliche nackte Tante Sidonia flog mit aufgelöstem Haar auf ihrem Besen neben Kassandra.
Sie flogen mit rasender Geschwindigkeit, und die Luft, die sie durchschnitten, pfiff wie ein Sturmwind.
»Nach Norden! Nach Norden!« schrie die Alte, ihren Besen wie ein gefügiges Pferd lenkend.
Kassandra war ganz berauscht.
»Unser armer Mechaniker Leonardo da Vinci plagt sich noch immer mit seinen Flugmaschinen!« kam es ihr plötzlich in den Sinn, und da wurde ihr noch lustiger zumute.
Bald stieg sie in die Höhe und ritt über den schwarzen Wolken dahin, in denen blaue Blitze zuckten. Über ihr war klarer Himmel mit dem blendenden Mond, der so groß wie ein Mühlstein war und ihr so nahe schien, daß sie glaubte, ihn mit der Hand berühren zu können.
Dann lenkte sie ihren Bock an seinen gewundenen Hörnern nach unten und flog abwärts, wie ein Stein in den Abgrund fliegt.
»Wohin? Wohin? Du brichst dir den Hals! Bist du von Sinnen, du Teufelsmädel?« schrie Tante Sidonia, die ihr nur mit Mühe folgen konnte.
Dann flogen sie so nahe über der Erde, daß sie die schläfrigen Riedgräser rauschen hörten; Irrlichter zeigten ihnen den Weg, faulende Holzstücke leuchteten bläulich? Uhus, Rohrdommeln und Nachtschwalben ließen im Waldesdickicht ihr Jammergeschrei vernehmen.
Sie hatten die Alpen überflogen, deren schneebedeckte Gipfel im Monde leuchteten und ließen sich zum Meeresspiegel hinab. Kassandra schöpfte mit der hohlen Hand Wasser, warf es in die Höhe und freute sich über die saphirblauen Tropfen.
Ihr Flug wurde immer schneller; jetzt gesellten sich zu ihnen viele Reisegefährten: ein grauer, zerzauster Hexenmeister in einem Waschzuber, ein lustiger feister Kanonikus mit dem roten Gesicht eines Silens, auf einem Schürhaken, ein blondes etwa zehnjähriges Mädchen mit unschuldigem Gesicht und blauen Augen auf einem kleinen Besen, eine nackte junge rothaarige Menschenfresserin auf einem grunzenden Eber und noch viele andere.
»Woher des Weges, liebe Schwestern?« rief ihnen Tante Sidonia zu.
»Aus Hellas, von der Insel Kandia!«
Andere Stimmen antworteten:
»Aus Valencia! Vom Brocken! Aus Salaguzzi bei Mirandola! Aus Beneventum! Aus Norcia!«
»Wohin des Weges?«
»Nach Biterne! Nach Biterne! Dort feiert der große Bock – el Boch de Biterne – seine Hochzeit. Fliegt, fliegt! Sammelt euch zur Vesper!«
Sie zogen wie ein Schwarm Raben über der traurigen Ebene dahin.
Der Mond schien durch den Nebel blutrot. In der Ferne leuchtete das Kreuz einer Dorfkirche. Die rothaarige Hexe, die das Schwein ritt, flog heulend auf die Kirche zu, riß die große Glocke herab und warf sie mit aller Kraft in den Sumpf. Im Sumpfe klatschte es auf, die Glocke gab noch einen jammervollen Ton, und das Lachen der Hexe klang wie Hundegebell. Das blonde Kind auf dem Besen klatschte, ausgelassen vor Freude, in die Hände.
Der Mond versteckte sich hinter Wolken. Aus grünem Wachs gewundene Fackeln beleuchteten mit ihrem grellen blitzblauen Licht einen schneeweißen Kreideberg, auf dessen Kuppe schwarze Schatten huschten, ineinanderliefen, sich umschlangen und trennten. Es waren die tanzenden Hexen.
»Harr! Harr! Sabbat, Sabbat! Rechts! Links! Links! Rechts!«
Sie flogen zu Tausenden, ohne Anfang, ohne Ende, wie welkes Laub im Herbste, um den nächtlichen Bock – Hyrcus Nocturnus, der auf einem Felsen thronte.
»Harr! Harr! Lobet den Nächtlichen Bock! El Boch de Biterne! Unsere Leiden sind zu Ende! Freut euch!«
Schrill und heiser klangen die Flöten aus hohlen Menschenknochen; die mit der Haut eines Gehenkten überzogene Trommel, welche mit einem Wolfsschwanze geschlagen wurde, klang dumpf und abgemessen: »Tup, tup, tup«. In riesengroßen Kesseln kochte die gräßliche, unsagbar schmackhafte Speise. Sie war ungesalzen, denn der Gastgeber verabscheute Salz.
In versteckten Winkeln lagerten sich die Liebespaare: Töchter mit ihren Vätern, Brüder mit ihren Schwestern, ein Werwolf in Gestalt eines schwarzen grünäugigen gezierten Katers hatte sich ein kleines, hageres, lilienweißes Mädchen erwählt, und der zottige Inkubus, ohne Gesicht und grau wie eine Spinne umschlang eine schamlos grinsende Nonne. Überall wimmelte es von abstoßenden Paaren.
Eine fette Riesenhexe mit weißem Leib und gutmütig-dummem Gesicht stillte mit mütterlicher Zärtlichkeit zwei neugeborene Teufel. Die gefräßigen Säuglinge lagen gierig an ihren hängenden Brüsten und schluckten schmatzend ihre Milch.
Dreijährige Kinder, die am Sabbat noch nicht teilnahmen, weideten abseits eine Herde mit Warzen bedeckter Kröten, die prächtige mit Schellen besetzte Schabracken aus Kardinalspurpur trugen und mit heiligen Hostien gemästet waren.
»Komm', wir wollen tanzen!« lockte Sidonia Kassandra.
»Der Pferdehändler sieht es noch!« erwiderte das Mädchen lachend.
»Der Hund mag ihn fressen, deinen Pferdehändler!« antwortete die Ate.
Beide schlangen sich in den Reigen ein, der wie ein Sturm heulte und pfiff, brüllte und lachte, tobte und kreiste.
»Harr! Harr! Rechts, links! Rechts, links!«
Ein langer feuchter Schnurrbart, der sich wie der eines Seehundes anfühlte, stach Kassandra in den Nacken; ein dünner harter Schweif kitzelte sie von vorne; jemand kniff sie schmerzhaft und schamlos; jemand biß sie und flüsterte ihr ein ungeheuerliches Kosewort ins Ohr. Sie wehrte sich nicht: je schlimmer je besser, je schrecklicher je berauschender.
Plötzlich blieb alles wie versteinert stehen.
Vom schwarzen Thron, auf dem der Unbekannte vom Schrecken umgeben saß, ertönte eine dumpfe Stimme, dem Tosen eines Erdbebens gleich:
»Empfanget meine Gaben! Den Sanften verleihe ich meine Stärke, den Bescheidenen meinen Hochmut, den Armen im Geiste mein Wissen, den Traurigen meine Fröhlichkeit!«
Ein wohlgestalteter Greis mit langem weißem Bart – eines der höchsten Mitglieder der heiligsten Inquisition und zugleich Patriarch der Hexen, der die schwarze Messe zelebrierte, verkündete feierlich:
» Sanctificiter nomen tuum per universum mundum, et libera nos ab omni malo! Kniet hin, kniet hin, ihr Gläubigen!«
Alle sanken in die Knie und stimmten, kirchlichen Gesang nachahmend, den gotteslästerlichen Hymnus an:
» Credo in Deum patrem Luciferum, qui creavit coelum et terram. Et in filium ejus Belzebub.«
Als die letzten Töne verklungen waren und es wieder still wurde, erklang die gleiche, wie ein Erdbeben tosende Stimme:
»Führt mir meine unberührte Braut, meine unschuldige Taube zu!«
Der Oberpriester fragte:
»Wie heißt deine Braut, deine unschuldige Taube?«
»Madonna Kassandra! Madonna Kassandra!« dröhnte es zurück.
Als die junge Hexe ihren Namen hörte, fühlte sie ihr Blut in den Adern zu Eis erstarren und ihr Haar sich sträuben.
»Madonna Kassandra! Madonna Kassandra!« tönte es in der Menge: »Wo ist sie? Wo ist unsere Gebieterin? Ave, archiponsa Cassandra!«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und wollte fliehen, aber viele knochige Finger, Krallen, Rüssel, Fühlhörner und zottige Spinnenfüße streckten sich nach ihr aus, ergriffen sie, rissen ihr das Hemd vom Leibe und führten sie nackt und bebend dem Throne zu.
Es wehte sie wie Bocksgestank und Grabeskälte an. Sie schlug die Augen nieder, um nichts zu sehen.
Da sprach der auf dem Throne Sitzende:
»Nahe!«
Sie ließ ihren Kopf noch tiefer sinken und sah zu ihren Füßen ein flammendes Kreuz in der Finsternis leuchten.
Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen, überwand das Ekelgefühl, machte einen Schritt vorwärts und hob ihre Augen zu dem, der vor ihr stand.
Die Bockshaut fiel von ihm, wie das Schuppenkleid einer sich häutenden Schlange und vor Kassandra stand der alte olympische Gott Dionysos, mit dem Lächeln ewiger Freude auf den Lippen, mit dem Thyrsus in der einen Hand und der Traube in der anderen; ein Panther sprang an seiner Seite und suchte die Traube mit der Zunge zu erhaschen.
Im gleichen Augenblick verwandelte sich der Hexensabbat in ein göttliches Bacchanal: die alten Hexen wurden zu jungen Mänaden, die ungeheuerlichen Dämonen zu bockbeinigen Satyren, wo aber vorher tote Kreidefelsen waren, da standen jetzt von Sonnenlicht übergossen herrliche Marmorsäulen; zwischen ihnen leuchtete das blaue Meer, und Kassandra erblickte in den Wolken die hehre Versammlung der strahlenden Götter Hellas'.
Satyre und Bacchantinnen schlugen Cymbeln, stachen sich mit Messern in die Brüste, preßten aus Trauben roten Saft in goldene Schalen, vermengten ihn mit eigenem Blute, tanzten, kreisten und sangen:
»Heil, Heil dem Dionysos! Die großen Götter sind auferstanden! Heil den auferstandenen Göttern!«
Der nackte Jüngling – Bacchus nahm Kassandra in seine Arme auf und seine Stimme war wie der Donner, der Himmel und Erde erschüttert:
»Komm, komm, meine Braut, meine reine Taube!«
Kassandra fiel dem Gott in die Arme.
Man hörte den ersten Hahn krähen. Plötzlich roch es nach Nebel und qualmiger, scharfer Feuchtigkeit. Irgendwo in unendlicher Ferne läutete eine Kirchenglocke. Der Glockenton machte auf dem Berge große Verwirrung. Die Bacchantinnen verwandelten sich wieder in häßliche Hexen, die bockbeinigen Satyre in abstoßende Dämonen und Gott Dionysos in den stinkenden nächtlichen Bock – Hyrcus Nocturnus.
»Nach Hause! Nach Hause! Flieht! Rettet euch!«
»Meinen Schürhaken hat man mir gestohlen!« jammerte verzweifelt der feiste Kanonikus, der einem Silen ähnlich sah. Er lief wie besessen hin und her.
»Eber, Eber, komm her!« rief die nackte Rothaarige, von der kühlen Feuchtigkeit des Morgens zitternd und hustend.
Der untergehende Mond kam wieder zum Vorschein und übergoß mit seinem blutroten Lichte die erschrockenen Hexen, die schwarzen Fliegen gleich in Schwärmen den Kreideberg verließen.
»Harr! Harr! Von unten nach oben ohne anzustoßen! Rettet euch, flieht!«
Der nächtliche Bock meckerte jämmerlich und versank in die Erde, den Gestank brennenden Schwefels verbreitend.
Die Kirchenglocken dröhnten.
Als Kassandra zur Besinnung kam, sah sie sich auf dem Fußboden der finsteren Stube im Häuschen bei der Porta Vercellina liegen.
Sie fühlte Übelkeit wie nach einem Rausche. Ihr Kopf war schwer wie Blei. Ihr Körper war vor Müdigkeit wie zerschlagen.
Eintönig dröhnte die Glocke von St. Redegonda. Dazwischen hörte man von außen hartnäckig an die Türe klopfen; es wurde wohl schon seit langer Zeit so geklopft. Kassandra lauschte und erkannte die Stimme ihres Freiers, des Pferdehändlers aus Abbiategrasso.
»Macht auf! Macht auf! Monna Sidonia! Monna Kassandra! Seid ihr denn taub? Ich stehe da wie ein Hund im Regen. Soll ich denn in diesem Schmutz nach Hause waten?«
Das Mädchen erhob sich mit großer Mühe, sie trat ans Fenster, dessen Läden fest verschlossen waren, und nahm die Lumpen heraus, mit welchen Sidonia die Fugen verstopft hatte. Durch die Ritzen fiel bläuliches trübes Morgenlicht in die Stube und auf die alte nackte Hexe, die neben dem umgestürzten Backtrog schnarchte. Kassandra blickte durch die Ritze hinaus.
Es war ein trüber, regnerischer Tag. Es goß in Strömen. Durch den grauen Regenschleier sah sie vor der Haustüre den verliebten Pferdehändler stehen, neben ihm einen Wagen, dem ein kleiner Esel mit hängenden Ohren vorgespannt war. Auf dem Wagen lag ein Kalb mit gefesselten Beinen, das sein Maul hervorstreckte und blökte.
Der Pferdehändler bearbeitete unermüdlich die Türe mit den Fäusten. Kassandra wartete, womit es enden würde.
Endlich wurde oben im Laboratorium ein Fensterladen aufgeschlagen. Der alte Alchimist sah mit zerzaustem Haar hinaus. Sein Gesicht hatte jenen bösen, finsteren Ausdruck, den es immer annahm, so oft er von seinen Träumen erwachend einsah, daß man Blei unmöglich in Gold verwandeln könne.
»Wer klopft da?« fragte er hinausblickend. »Was willst du? Bist du von Sinnen, alter Hund? Der Herr möge dir Unglück bescheren. Siehst du denn nicht, daß hier alles schläft? Mach, daß du weiterkommst!«
»Messer Galeotto! Warum schimpft Ihr so? Ich komme in einer wichtigen Sache: es handelt sich um Eure Nichte. Da habe ich auch ein Milchkalb als Geschenk mitgebracht ...«
»Zum Teufel!« schrie Galeotto wütend. »Scher dich, Schurke, mit deinem Kalb zum Teufel unter den Schweif!«
Der Laden wurde zugeschlagen. Der Pferdehändler stutzte und verhielt sich eine Weile ruhig. Bald aber klopfte er wieder mit doppelter Kraft an die Türe, als wolle er sie einschlagen.
Der Esel ließ seinen Kopf noch tiefer hängen. Der Regen lief in Strömen an seinen hoffnungslos-hängenden, nassen Ohren hinunter.
»Gott, wieder diese Langeweile!« flüsterte Monna Kassandra, die Augen schließend.
Sie dachte an die Lust des Sabbats, an die Verwandlung des nächtlichen Bockes in Dionysos, an die Auferstehung der großen Götter und fragte sich:
»War es Traum oder Wirklichkeit? Wohl nur ein Traum. Und das, was ich jetzt sehe, ist Wirklichkeit. Auf den Sonntag kommt Montag!«
»Macht auf! Macht auf!« schrie der Pferdehändler verzweifelt und heiser.
Von der Dachrinne fielen schwere Tropfen in die schmutzige Pfütze. Das Kalb blökte kläglich. Wehmütig dröhnte die Kirchenglocke.