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Zweites Buch

Ecce Deus – Ecce Homo

I.

»Wenn der schwere Adler sich auf seinen Flügeln in der dünnen Luft zu halten vermag, wenn große Schiffe sich mittels ihrer Segel auf dem Meere fortbewegen können, warum sollte nicht der Mensch die Luft mit Flügeln durchschneiden, der Winde Herr werden und sich sieghaft in die Lüfte erheben können?«

Leonardo las diese Worte in einem seiner alten Tagebücher; er hatte sie vor fünf Jahren niedergeschrieben. Daneben war eine Skizze: an einer Deichsel war eine runde eiserne Stange und an dieser waren Flügel befestigt, die mittels Stricken in Bewegung gesetzt werden konnten.

Jetzt erschien ihm diese Maschine unförmlich und plump.

Der neue Apparat hatte die Gestalt einer Fledermaus. Das Gerippe der Flügel bestand aus fünf Fingern, die in vielen Gelenken biegsam waren. Die Finger waren durch eine Sehne aus gegerbten Lederriemen und rohseidenen Schnüren mit Hebel und Scheibe, wie Muskeln konstruiert, verbunden. Die Flügel wurden durch Hebel und Zugstangen gehoben. Sie waren aus gestärktem luftdichtem Taffet gefertigt und konnten sich wie die Schwimmhäute einer Gans falten und spreizen. Die Flügel bewegten sich über Kreuz, wie die Leine eines Pferdes. Sie waren vierzig Ellen lang und ihr Hub betrug acht Ellen. Wenn sie nach rückwärts schlugen, so trieben sie die Maschine vorwärts, wenn sie sich senkten, trieben sie sie in die Höhe. Ein Mensch nahm in dieser Maschine stehend Platz, indem er seine Füße in Steigbügel setzte, welche mit Schnüren, Blöcken und Hebeln die Flügel antrieben. Das große gefiederte Steuer, das den Schwanz des Vogels bildete, wurde mit dem Kopf betätigt.

Wenn ein Vogel auffliegt, so muß er sich vor dem ersten Flügelschlag auf seinen Beinen emporrecken. Der Kernbeißer hat sehr kurze Beine; daher zappelt er, ohne auffliegen zu können, wenn man ihn auf die Erde legt.

Den Vogelbeinen entsprachen in diesem Apparat zwei kleine Leitern aus Rohrstäben.

Leonardo wußte aus Erfahrung, daß die Vollkommenheit einer Maschine mit der Schönheit aller ihrer Teile und ihrer Verhältnisse Hand in Hand geht; der unschöne Anblick der Leitern, die aber unumgänglich waren, machte ihm daher Schmerzen.

Er verlegte sich wieder auf mathematische Berechnungen und suchte nach einem Fehler; es gelang ihm aber nicht, ihn zu finden. Dann strich er plötzlich seine engen Zahlenkolonnen mitten durch, schrieb auf den Rand der Seite »Falsch!« und setzte dann in großen wütenden Lettern hinzu: »Zum Teufel!«

Die Berechnungen wurden immer verworrener; der unauffindbare Fehler zog immer größere Kreise um sich.

Die Kerzenflamme flackerte und tat den Augen weh. Der Kater, der bereits ausgeschlafen hatte, sprang auf den Arbeitstisch, reckte sich, machte einen Buckel und begann nun mit einem von Motten zerfressenen Vogelbalg zu spielen, der von einem Querbalken an einem Bindfaden herunterhing und zum Studium der Lage des Schwerpunktes beim Fluge diente. Leonardo stieß den Kater fort, so daß dieser jammervoll aufschrie und beinahe vom Tische fiel. »Nun, in Gottes Namen! Liege wo du willst, aber störe mich nicht.«

Er streichelte den Kater und im schwarzen Fell knisterten Funken. Der Kater zog seine Sammetpfoten ein, legte sich gravitätisch nieder, schnurrte und richtete seine unbeweglich-grünen, geheimnisvoll-wollüstigen Pupillen auf seinen Herrn.

Und dann kamen wieder Zahlen, Klammern, Brüche, Gleichungen, Kubik- und Quadratwurzeln.

Die zweite schlaflose Nacht ging dahin.

Nach seiner Rückkehr aus Florenz verbrachte Leonardo einen ganzen Monat mit der Arbeit an seinem Flugapparat. Er hatte in dieser Zeit sein Haus fast kein einziges Mal verlassen.

Die Zweige einer Akazie blickten zum offenen Fenster herein;ab und zu ließen sie ihre zarten süßduftenden Blüten auf den Tisch fallen. Rötliche Wolken mit Perlmutterschimmer dämpften das Mondlicht; es fiel ins Zimmer und mischte sich da mit dem roten Schein der tief heruntergebrannten Kerze.

Das Zimmer war mit Maschinen und astronomischen, physikalischen, chemischen, mechanischen und anatomischen Apparaten und Präparaten angefüllt. Räder, Hebel, Federn, Schrauben, Röhren, Stangen, Bogen, Kolben und andere Maschinenteile aus Kupfer, Stahl, Eisen und Glas ragten wie Glieder von Rieseninsekten aus den finsteren Ecken in wüstem Durcheinander. Man sah darunter eine Taucherglocke, den schimmernden Glaskörper in einem optischen Modell des menschlichen Auges, ein Pferdeskelett, ein ausgestopftes Krokodil, ein Glas mit einem menschlichen Embryo in Spiritus; es glich einer großen bleichen Larve; spitze bootartige Gebilde, eine Art Wasserschuhe, und daneben einen Mädchen- oder Engelskopf aus Ton, der traurig und falsch lächelte und wohl zufällig aus der Malerwerkstatt hergeraten war.

Im Hintergrunde, im schwarzen Rachen des Schmelzofens, der mit einem riesigen Blasebalg versehen war, glimmten unter Asche Kohlen.

Über alle diese Dinge breiteten sich vom Boden bis zur Decke die Flügel der Flugmaschine, der eine noch nackt, der andere bereits mit Haut versehen. Auf dem Boden zwischen den Flügeln lag ein Mann, der wohl während der Arbeit eingeschlafen war. In der Rechten hielt er noch den Griff eines verrußten kupfernen Gießlöffels, aus dem etwas Zinn auf den Boden geflossen war. Das untere Ende des einen leichten Flügelgerippes berührte die Brust des Schlafenden und der Flügel zitterte bei jedem Atemzug, wobei das spitze obere Ende mit leisem Geräusch die Decke streifte. Im trüben Schein des Mondes und der Kerze sah die Maschine mit dem zwischen den Flügeln liegenden Mann wie eine riesengroße flugbereite Fledermaus aus.

II.

Der Mond ging unter. Von den Gärten, die Leonardos Haus in einer Vorstadt von Mailand zwischen der Festung und dem Kloster Maria delle Grazie umgaben, kam ein Duft von Gemüse und Kräutern – Melisse, Minze und Dill. Im Nest, das über dem Fenster klebte, zwitscherten die Schwalben. Im Teiche plätscherten und schrien die Enten.

Das Kerzenlicht wurde blaß. In der Werkstatt nebenan hörte man die Schüler.

Es waren ihrer zwei: Giovanni Beltraffio und Andrea Salaino. Giovanni zeichnete ein anatomisches Modell, das hinter einem zum Studium der Perspektive dienenden Apparat aufgestellt war. Dieser bestand aus einem Holzrahmen, in dem ein Fadennetz aufgespannt war, dem ein gleiches Liniennetz auf dem Papier entsprach.

Salaino grundierte ein Lindenbrett mit Alabaster. Er war ein schöner Knabe mit unschuldigen Augen und blonden Locken, ein Liebling Leonardos, der ihn als Modell für seine Engel gebrauchte.

»Was glaubt Ihr, Andrea,« fragte Beltraffio: »wird der Meister seine Maschine bald vollenden?«

»Das weiß Gott allein,« erwiderte Salaino. Er pfiff ein Liedchen und nestelte an den silbergestickten Atlasaufschlägen seiner neuen Schuhe. – »Im vergangenen Jahr hat er zwei volle Monate an der Maschine gearbeitet, es kam aber nichts Gescheites heraus. Dieser plumpe Bär Zoroastro wollte durchaus fliegen. Der Meister redete es ihm aus, er setzte aber seinen Willen durch. Der Narr kletterte auch aufs Dach, wickelte sich ganz in Stricke, an welchen Ochsen- und Schweinsblasen wie Perlen in einem Rosenkranz hingen, – um sich nicht zu verletzen, wenn er herunterfiele, rührte die Flügel und flog im ersten Augenblick auch wirklich auf – ein Windstoß hatte ihn wohl mitgenommen, dann fiel er aber kopfüber herunter und gerade in einen Misthaufen hinein. Er fiel weich, aber alle Blasen platzten sofort; das gab einen Knall wie bei einem Kanonenschuß; die Dohlen auf dem Kirchturm erschraken und flogen davon. Unser neuer Ikarus aber zappelte mit beiden Beinen in der Luft und konnte nicht aus dem Misthaufen heraus!«

In die Werkstatt kam der dritte Schüler – Cesare da Sesto. Er war nicht mehr jung und hatte ein kränkliches gelbes Gesicht und kluge boshafte Augen. In der einen Hand hatte er ein Stück Brot mit einer Scheibe Schinken, in der andern ein Glas Wein.

»Pfui! Ist der sauer!« er spuckte aus und verzog das Gesicht. »Und der Schinken ist wie Schuhleder. Ich verstehe es einfach nicht, wie er uns mit seinen zweitausend Dukaten Jahresgehalt eine derartig elende Kost vorsetzen kann!«

»Hättet Ihr doch vom anderen Fäßchen, das in der Speisekammer unter der Stiege steht, genommen,« meinte Salaino.

»Hab' schon versucht. Ist noch viel schlimmer. – Hast du wieder etwas Neues?« Cesare musterte Salainos schmuckes rotes Samtbarett. »Eine nette Wirtschaft haben wir hier, das muß ich schon sagen! Ein Hundeleben! Seit zwei Monaten können sie keinen frischen Schinken kaufen. Marko schwört, der Meister habe keinen Heller, alles werde von dem verfluchten Flugapparat verschlungen, daher diese Behandlung. Das Geld steckt aber hier! Seine Lieblinge beschenkt er! Samtne Hütchen! Schämst du dich denn gar nicht, Andrea, von fremden Menschen Geschenke anzunehmen? Messer Leonardo ist ja nicht dein Vater, auch nicht dein Bruder, und du bist kein Kind mehr ...«

»Cesare,« sagte Giovanni, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben: »Ihr habt mir neulich versprochen, mir ein gewisses Gesetz der Perspektive zu erklären, wißt Ihr es noch? Der Meister wird wohl nicht kommen, er ist so sehr mit der Maschine beschäftigt ...«

»Ja, Brüder, wartet nur, diese Maschine wird uns noch alle zugrunde richten, daß sie der Teufel! Und tut es nicht die Maschine, so kommt etwas anderes. Ich weiß noch, wie sich der Meister bei der Arbeit am heiligen Abendmahl plötzlich für die Idee einer neuen Maschine zur Herstellung der Mailänder Cervellata begeisterte; das ist so eine weiße Wurst aus Hirn. Darüber blieb der Kopf des ältern Jakobus so lange unvollendet, bis er mit seiner Wurstmaschine fertig war. Seine beste Madonna warf er in die Ecke, weil er einen selbsttätigen Bratspieß konstruieren mußte, auf dem Kapaune und Spanferkel ganz gleichmäßig durchgebraten werden sollten. Und dann die große Erfindung der Herstellung von Waschlauge aus Hühnermist! Glaubt mir – es gibt keine Dummheit, für die sich Messer Leonardo nicht begeistert hätte, nur um einen Vorwand zu haben, nicht mehr malen zu müssen!«

Cesares Gesicht zuckte wie in einem Krampfe; seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem boshaften Lächeln.

»Warum verleiht Gott solchen Menschen ein solches Talent!« fügte er in stiller Wut hinzu.

III.

Leonardo saß derweil noch immer an seinem Arbeitstisch.

Durch das offene Fenster flog eine Schwalbe ins Zimmer. Sie flatterte umher, schlug mit ihren Flügeln an die Wände und die Decke an, geriet schließlich in einen Flügel der Flugmaschine, und blieb mit ihren kleinen lebenden Flügeln im Netzwerk hängen.

Leonardo befreite sie aus den Stricken, nahm sie ganz vorsichtig, um ihr ja nicht weh zu tun, in die Hand, küßte ihr seidenweiches schwarzes Köpfchen und ließ sie zum Fenster hinaus.

Die Schwalbe flog auf und verschwand mit freudigem Zwitschern im Blau.

»Wie leicht! Wie einfach!« sagte Leonardo vor sich hin, während er sie mit neidischen, traurigen Blicken begleitete. Dann blickte er angeekelt auf seine Maschine – auf das riesengroße Fledermausgerippe.

Der Mann auf dem Fußboden erwachte.

Es war Leonardos Gehilfe, ein geschickter Mechaniker und Schmied aus Florenz, namens Zoroastro oder Astro de Peretola.

Er sprang auf und rieb sich sein einziges Auge; das andere hatte er verloren, als ihm einmal während der Arbeit ein Funke aus dem Schmiedeofen ins Gesicht flog. Der ungeschlachte Riese mit dem kindlichen Ausdruck in seinem rußbeschmutzten Gesicht glich einem einäugigen Zyklopen.

»Verschlafen!« schrie der Schmied auf und griff sich verzweifelt an den Kopf. »Daß mich der Teufel! Ach, Meister, warum habt Ihr mich nicht geweckt? Ich wollte ja noch bis zum Abend den linken Flügel fertig machen, um morgen früh fliegen zu können ...«

»Es ist gut, daß du ausgeschlafen hast,« versetzte Leonardo. »Die Flügel taugen sowieso nichts.«

»Wie!? Taugen sie wieder nichts? Nein, Messere, da muß ich schon bitten: diese Maschine arbeite ich nicht wieder um! So viel Mühe, so viel Geld hat sie gekostet! Und das soll wieder alles umsonst sein? Was wollt Ihr denn noch? Solche Flügel werden auch einen Elefanten tragen können! Ihr werdet es schon sehen, Meister! Erlaubt mir nur, daß ich sie versuche. Ich kann es ja auch über einem Wasser machen; wenn ich hineinfalle, so nehme ich nur ein Bad. Ich schwimme wie ein Fisch und kann unmöglich ertrinken!«

Er faltete flehend die Hände.

Leonardo schüttelte den Kopf.

»Warte, Freund. Alles kommt mit der Zeit. Später ...«

Der Schmied war dem Weinen nahe. Er stöhnte auf: »Später! Warum nicht jetzt? Ich schwöre beim heiligen Gotte, Messere, ich werde fliegen!«

»Du wirst nicht fliegen, Astro. Da ist Mathematik im Spiel.«

»Das habe ich mir gedacht! Der Teufel soll Eure Mathematik holen! Sie ist ja immer im Wege. So viele Jahre schwitzen wir hier! Die Seele vergeht vor Warten! Jede dumme Mücke, Motte, jede, Gott, verzeih' mir, Mistfliege kann fliegen, und wir Menschen kriechen wie Würmer. Ist das nicht ein Hohn? Worauf sollen wir noch warten? Da sind sie ja, die Flügel! Alles ist fertig, man braucht sie nur anzuschnallen, ein kurzes Gebet zu sprechen, sie zu schwingen, um dann wie der Blitz davonzufliegen!«

Plötzlich fiel ihm etwas ein und sein Gesicht heiterte sich auf.

»Meister, was ich dir sagen wollte: ich hatte einen ganz merkwürdigen Traum!«

»Wieder vom Fliegen?«

»Ja. Aber wie! Höre nur. Ich stehe mit vielen Leuten in einer fremden Stube. Alle schauen mich an, man zeigt auf mich mit den Fingern und lacht. Da denke ich mir: wenn ich jetzt nicht fliege, wird es zu dumm. Ich springe auf, schwinge kräftig die Arme und fliege allmählich auf. Anfangs war es schwer, als ob ich einen Berg auf dem Buckel hätte. Dann wurde es leichter, ich stieg empor, hätte mir beinahe den Kopf an der Decke eingeschlagen. Da schrien alle: Schaut, schaut! Der fliegt wirklich! Da flog ich zum Fenster hinaus und stieg immer höher und höher in den Himmel hinein. Der Wind pfiff mir um die Ohren, es war mir so lustig zumute, ich lachte und fragte mich, warum ich nicht schon früher fliegen konnte. Habe ich es vielleicht verlernt? Es ist ja so einfach und man braucht gar keine Maschine dazu!«

IV.

Plötzlich hörte man draußen Jammergeschrei, Schimpfworte und ein Getrampel. Die Türe wurde aufgerissen und ein Bursche mit struppigem feuerrotem Haar und rotem Gesicht voller Sommersprossen stürzte herein. Es war Leonardos Schüler Marco d'Oggione.

Er zerrte am Ohre einen schwächlichen etwa zehnjährigen Knaben herein, den er ununterbrochen schlug und beschimpfte.

»Gott möge dir schlimme Ostern bescheren, du Taugenichts! Ich werde dir deine Fersen in die Kehle stopfen, Halunke!«

»Was ist denn los, Marco?« fragte Leonardo.

»Aber ich bitte, Messere! Zwei silberne Spangen hat er gestohlen, eine jede zu zehn Florins. Die eine hat er bereits versetzt und das Geld beim Würfelspiel verloren, die andere nähte er sich unter das Futter und da fand ich sie. Ich wollte ihn, wie es sich gehört, das Fell gerben, da biß mir der kleine Teufel die Hand blutig!«

Er packte den Knaben mit neuer Wut an den Haaren.

Leonardo trat für den Knaben ein und entriß ihn dem Marco. Da zog dieser einen Schlüsselbund aus der Tasche – er versah bei Leonardo die Dienste eines Haushälters – und sagte:

»Hier sind die Schlüssel, Messere! Ich habe genug! Ich will nicht unter einem Dache mit Taugenichtsen und Dieben wohnen. Er oder ich!«

»Beruhige dich, Marco ...Ich will ihn ordentlich bestrafen.«

Aus der Werkstatt sahen die Gehilfen herein. Zwischen ihnen drängte sich die dicke Köchin Maturina vor. Sie kam eben vom Markte und hatte einen Korb mit Zwiebeln, Fischen, fetten roten Tomaten und flockigen Finocchi. Als sie den kleinen Verbrecher sah, begann sie heftig zu gestikulieren und zu schimpfen, wobei sie eine verblüffende Zungenfertigkeit zeigte.

Auch Cesare redete drein; er sprach seine Verwunderung darüber aus, daß Leonardo diesen »Heiden« in seinem Hause dulde; denn es gäbe keinen noch so unnützen und grausamen Streich, zu dem Jacopo nicht fähig wäre. Er hätte neulich dem alten kranken Hofhund Fagiano mit einem Steinwurf das Bein blutig geschlagen und das Schwalbennest über dem Stall zerstört; alle wüßten ja, daß er mit Vorliebe Schmetterlingen die Flügel ausreiße und sich an ihren Qualen weide.

Jacopo wich nicht von der Seite des Meisters; er blickte seine Feinde scheu an, wie ein in die Enge getriebener Wolf. Sein schönes blasses Gesicht blieb unbeweglich. Er weinte nicht, aber so oft ihn Leonardos Blick streifte, leuchtete in seinen Augen ein schüchternes Flehen auf.

Maturina schrie wie besessen und forderte, daß man diesen Teufel endlich ordentlich durchhaue: sonst würde er noch alle im Hause unterkriegen und dann könne es da der Teufel aushalten.

»Ruhe, Ruhe! Schweigt um Gottes willen!« sagte Leonardo, sein Gesicht drückte jetzt große Schwäche und Hilflosigkeit dieser Palastrevolution gegenüber aus.

Cesare lachte und flüsterte schadenfroh:

»Es wird mir übel, wenn ich ihn ansehe! Diese Memme! Nicht einmal mit dem Buben kann er fertig werden ...«

Als alle sich müde geschrien hatten und gingen, rief Leonardo Beltraffio heran und sagte ihm freundlich:

»Giovanni, du hast das Heilige Abendmahl noch nicht gesehen. Ich gehe jetzt hin. Kommst du mit?«

Der Schüler wurde vor Freude rot.

V.

Sie traten in den kleinen Hof, in dessen Mitte ein Brunnen stand. Leonardo wusch sich. Trotz der zwei schlaflosen Nächte fühlte er sich frisch und munter.

Der Tag war neblig und windstill, das Licht war blaß, wie unter Wasser, solche Tage bevorzugte der Künstler für seine Arbeit.

Als sie noch am Brunnen standen, kam Jacopo herbei. Er hatte in der Hand ein selbstverfertigtes Schächtelchen aus Baumrinde.

»Messer Leonardo,« sagte der Knabe schüchtern: »da habe ich etwas für Euch ...«

Er hob vorsichtig den Deckel: auf dem Boden der Schachtel saß eine große Spinne. »Die war schwer zu fangen,« erklärte Jacopo. – »Sie verkroch sich in ein Loch zwischen Steinen. Drei Tage saß sie da. Sie ist giftig!«

Das Gesicht des Knaben wurde lebhaft.

»Und wie sie die Fliegen frißt!«

Er fing eine Fliege und tat sie in die Schachtel. Die Spinne stürzte sich auf die Beute und umfaßte sie mit ihren behaarten Beinen; die Fliege schlug um sich und summte immer leiser und schwächer.

»Sie saugt, sie saugt! Schaut nur her,« flüsterte der Knabe ganz aufgeregt vor Wonne. Grausame Neugier brannte in seinen Augen, und ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen.

Leonardo beugte sich zur Schachtel und betrachtete das grausame Insekt.

Da entdeckte Giovanni in den beiden Gesichtern den gleichen Ausdruck, als ob der Künstler und das Kind, trotz der großen Kluft, die sie trennte, sich in diesem Hange zum Ungeheuerlichen und Grausamen begegneten.

Als die Fliege gefressen war, schloß Jacopo die Schachtel und sagte:

»Ich bringe sie Euch auf den Tisch, Messer Leonardo; vielleicht schaut Ihr sie noch einmal an. Es ist auch drollig anzusehen, wenn sie mit anderen Spinnen kämpft ...«

Der Knabe wollte fortgehen, blieb aber doch noch stehen und hob seine Augen flehend zu Leonardo, seine Mundwinkel senkten sich und bebten. Er sagte leise und ernst:

»Messere, Ihr seid mir doch nicht böse! Ich kann auch fortgehen, ich habe es schon längst vor; aber ich tue es nicht den andern zuliebe, sondern Euch allein. Mir ist es ja ganz gleich, was sie über mich reden, aber ich weiß, daß Ihr meiner überdrüssig seid. Ihr allein seid gut, die andern sind ebenso böse wie ich; sie verstellen sich nur, und ich kann mich nicht verstellen ... Ich gehe fort und bleibe allein ... So ist es besser. Aber verzeiht mir!«

In den langen Wimpern des Knaben glänzten Tränen. Ganz leise und schüchtern wiederholte er:

»Verzeiht mir, Messer Leonardo! ... Die Schachtel trage ich hinüber. Behaltet sie zum Andenken. Die Spinne wird noch lange leben. Ich werde Astro bitten, daß er sie füttert ...« Leonardo legte seine Hände auf den Kopf des Knaben.

»Wohin willst du denn gehen, Kind? Bleibe. Marco wird dir verzeihen und ich zürne dir nicht. Geh' und bestrebe dich in Zukunft, niemandem Böses zu tun.«

Jacopo sah ihn schweigend mit einem langen verständnislosen Blick an, und in seinen Augen leuchtete nicht Dank, sondern Erstaunen, beinahe Angst.

Leonardo erwiderte diesen Blick mit einem stillen sanften Lächeln. Er streichelte ihm zärtlich den Kopf; es war ihm, als errate er das ewige Geheimnis dieses Herzens, das von der Natur böse veranlagt und in seiner Bosheit doch unschuldig war.

»Es ist Zeit,« sagte der Meister, »gehen wir, Giovanni.«

Sie verließen den Hof durch eine kleine Pforte und gingen die einsame Straße zwischen Obst- und Gemüsegärten und Weinbergen zum Kloster Maria delle Grazie hinauf.

VI.

In der letzten Zeit war Beltraffio sehr betrübt, weil er dem Meister das ausbedungene monatliche Lehrgeld von sechs Florins nicht bezahlen konnte. Der Onkel war ihm böse und gab ihm keinen Heller. Fra Benedetto lieh ihm das Geld für zwei Monate, mehr aber hatte der Mönch auch nicht; er hatte ihm sein letztes gegeben.

Giovanni wollte sich vor dem Meister rechtfertigen. Er begann stotternd, errötend und ganz verlegen:

»Messere, heute ist der Vierzehnte, und ich mußte am Zehnten mein Lehrgeld zahlen, wie ausbedungen ... Es ist mir sehr peinlich ... Hier habe ich aber nur drei Florins. Vielleicht wollt Ihr noch etwas warten. Ich werde mir bald Geld verschaffen. Merula versprach mir Schreibarbeit ...«

Leonardo sah ihn erstaunt an:

»Was ist mit dir, Giovanni? Gott behüte! Schämst du dich denn gar nicht, darüber zu sprechen?«

Er sah das verlegene Gesicht seines Schülers, die ungeschickten, elenden und verschämten Flicken auf seinen alten Schuhen mit den durchgewetzten groben Nähten, seine schäbige Kleidung und begriff, daß er in großer Not war. Leonardos Gesicht verfinsterte sich, und er brachte das Gespräch auf andere Dinge.

Nach einer Weile aber suchte er nachlässig und zerstreut in seiner Tasche und holte ein Goldstück heraus. Er gab es Giovanni und sagte:

»Bitte, Giovanni, geh' später zum Kaufmann und kaufe mir etwa zwanzig Bogen blaues Zeichenpapier, ein Paket Rötelstifte und einige Hamsterpinsel. Hier ist das Geld.«

»Es ist ein Dukaten. Alles zusammen macht etwa zehn Soldi. Ich werde Euch den Rest bringen ...«

»Nichts wirst du mir bringen, wirst noch Zeit haben, mir es zurückzugeben. Aber wage mir ja nicht wieder von Geldsachen zu sprechen! Hörst du?«

Er wandte sich ab und machte Giovanni auf die Lärchen aufmerksam, die sich an den beiden Ufern des schnurgeraden Kanales Naviglio Grande hinzogen und deren Umrisse im Morgennebel auseinanderflossen.

»Hast du bemerkt, Giovanni, daß das Laub im leichten Nebel luftig-blau erscheint und im dichten Nebel – blaß-grau?«

Er machte noch einige Bemerkungen über die verschiedenen Schatten, welche die Wolken im Sommer auf belaubte und im Winter auf kahle Berge werfen.

Dann wandte er sich wieder zu seinem Schüler und sagte:

»Ich weiß ja, warum du glaubst, ich sei ein Geizhals. Ich möchte wetten, daß ich es richtig erraten habe. Als du bei mir eintreten wolltest und wir wegen des Lehrgeldes unterhandelten, da hast du wohl bemerkt, daß ich alles mit allen Einzelheiten in mein Notizbuch eintrug. Du mußt aber wissen, mein Freund, daß ich diese Gewohnheit von meinem Vater, dem Notar Pietro da Vinci, dem vernünftigsten und genauesten Menschen der Welt geerbt habe. Aus dieser Genauigkeit ziehe ich eigentlich keinerlei Nutzen. Oft lache ich selbst darüber, was für einen Unsinn ich mir notiere! Ich kann dir z. B. ganz genau sagen, wieviel Denare die Feder und der Samt zum neuen Barett des Andrea Salaino kosteten, weiß aber nicht, wo Tausende von Dukaten hingeraten. Ich bitte dich, Giovanni, achte in Zukunft nicht auf diese dumme Gewohnheit. Wenn du Geld brauchst, so nimm es bei mir und glaube mir, daß ich es dir so gebe, wie ein Vater seinem Sohne Geld gibt.« Leonardo sah ihn mit einem so guten Lächeln an, daß es Giovanni ganz leicht und freudig zumute wurde.

Er zeigte seinem Schüler einen sonderbar geformten niedrigen Maulbeerbaum in einem Garten, an dem sie gerade vorbeigingen, und erklärte ihm, daß nicht nur jeder Baum, sondern auch jedes Blatt seine besondere, einzige und sich nie wiederholende Form habe, wie jeder Mensch sein besonderes Gesicht.

Giovanni bemerkte, daß er von den Bäumen mit der gleichen Liebe sprach, wie vorhin von seiner Notlage, und er bemerkte, daß dieses Interesse für alles Lebende in der Natur dem Meister den Scharfblick eines Hellsehers verleihe.

In der tiefen fruchtbaren Ebene wurde hinter den dunkelgrünen Maulbeerbäumen die rötliche Backsteinkirche des Dominikanerklosters Maria delle Grazie sichtbar. Mit ihrer breiten lombardischen zeltförmigen Kuppel und ihren Ornamenten aus gebranntem Ton, gewährte die Kirche, ein Werk des jungen Bramante, gegen den weißen Hintergrund des bewölkten Himmels einen lustigen Anblick.

Sie traten ins Refektorium.

VII.

Es war ein einfacher langgedehnter Saal mit schmucklosen, weiß getünchten Wänden und dunklen Deckenbalken. Es roch nach warmer Feuchtigkeit, Weihrauch und dem Dunst von Fastenspeisen. An der Schmalseite beim Eingang stand der kleine Tisch des Priors. Rechts und links waren die langen schmalen Tische der Mönche aufgestellt.

So still war es, daß man das Summen einer Fliege an den verstaubten gelben Fensterscheiben hören konnte. Aus der Klosterküche drangen Stimmen und das Geklirr von eisernen Pfannen und Töpfen herein.

In der Tiefe des Refektoriums an der Schmalseite, dem Tische des Priors gegenüber, stand ein hölzernes Gerüst, und die Wand war da mit rauher grauer Leinwand verhängt.

Giovanni erriet, daß diese Leinwand das Heilige Abendmahl, an dem der Meister seit mehr als zwölf Jahren arbeitete, verdeckte.

Leonardo bestieg das Gerüst, öffnete eine Lade, in der er seine Skizzen, Kartons, Farben und Pinsel verwahrte, und holte ein kleines, halb zerfetztes lateinisches Buch hervor, dessen Blätter eine Menge Randbemerkungen enthielten. Er reichte es dem Schüler und sagte:

»Lies das dreizehnte Kapitel Johannis.«

Und dann schlug er den Vorhang zurück.

Als Giovanni aufblickte, hatte er den Eindruck, als sei es keine Wandmalerei, sondern wirkliche Luft, eine Fortsetzung des Refektoriums in die Tiefe, als sei hinter dem Vorhang ein anderer Raum erschienen: die Deckenbalken fanden in der Wand ihre Fortsetzung, sie liefen in der Ferne perspektivisch zusammen, und das Tageslicht verschmolz mit dem stillen Abendlicht über den blauen Gipfeln Zions, die aus den drei Fenstern dieses neuen Refektoriums sichtbar waren; dieses war aber ebenso einfach wie das der Mönche, nur war es mit einigen Teppichen ausgeschlagen und schien gemütlicher und geheimnisvoller. Der lange Tisch auf dem Bilde glich denen der Mönche; da war auch das gleiche Tischtuch mit schmalen eingewebten Streifen verziert, mit zu Knoten zusammengebundenen Ecken und viereckigen Falten, die so aussahen, als ob das Tischtuch erst eben noch etwas feucht aus der Klosterwäsche käme; auch die Gläser, Teller, Messer und Weinkannen waren die gleichen.

Und er las im Evangelium:

»Vor dem Fest aber der Ostern, da Jesus erkannte, daß seine Zeit kommen war, daß er aus dieser Welt ginge zum Vater, wie er hatte geliebt die Seinen, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende.

»Und bei dem Abendessen, da schon der Teufel hatte dem Judas, Simons Sohn, dem Ischarioth, ins Herz gegeben, daß er ihn verriete, »Ward Jesus betrübt im Geist, und zeugete und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.

»Da sahen sich die Jünger untereinander an, und ward ihnen bange, von welchem er redete.

»Es war aber einer unter seinen Jüngern, der zu Tische saß an der Brust Jesu, welchen Jesus lieb hatte.

»Dem winkte Simon Petrus, daß er forschen sollte, wer es wäre, von dem er sagte.

»Denn derselbige lag an der Brust Jesu, und er sprach zu ihm: Herr, wer ist's?

»Jesus antwortete: Der ist's, dem ich den Bissen eintauche und gebe. Und er tauchte den Bissen ein, und gab ihn Judas, Simons Sohn, dem Ischarioth.

»Und nach dem Bissen fuhr der Satan in ihn.«

Giovanni hob seine Blicke zum Bilde.

Die Gesichter der Apostel atmeten solches Leben, daß er ihre Stimme zu vernehmen glaubte; er sah in die Tiefen ihrer Herzen, die vor dem Unverständlichsten und Schrecklichsten von allem, was je auf Erden geschah, erschauerten: vor der Geburt des Bösen, das den Gott töten sollte.

Besonders erschütterte ihn die Darstellung der Apostel Judas, Johannes und Petrus. Judas Gesicht war noch unvollendet, sein zurückgebogener Körper nur angedeutet: er hielt in seinen gekrümmten Fingern den Beutel mit den Silberlingen und stieß dabei in seiner Erregung ein Salzfaß um und verschüttete dessen Inhalt.

Petrus war in seinem Zorn aufgesprungen; in der Rechten hielt er ein Messer, die Linke legte er auf Johannis Schulter, als wolle er den liebsten Jünger Jesu befragen: »Wer ist der Verräter?« und sein greiser silbergrauer zorniger Kopf erstrahlte in jenem flammenden Eifer, mit dem er später, als er die Unvermeidlichkeit der Leiden und des Todes seines Herrn einsah, die Worte sprach: »Herr, warum kann ich dir diesmal nicht folgen? Ich will mein Leben für dich lassen.«

Johannes saß Christus am nächsten; sein seidenweiches, oben glattes und unten gelocktes Haar, seine gesenkten, etwas schlaftrunkenen Wimpern, seine demütig gefalteten Hände und seine ovale Gesichtsform – dies alles atmete himmlische Ruhe und Klarheit. Er war der einzige unter den Jüngern, der nicht litt, noch fürchtete, noch zürnte. In ihm erfüllte sich das Wort des Heilands: »Auf daß sie alle eins seien, gleichwie Du, Vater, in mir und ich in Dir.«

Giovanni betrachtete das Bild und dachte:

»Also so ist Leonardo! Und ich hatte an ihm gezweifelt und den Verleumdungen Glauben geschenkt. Ein Mensch, der dies da geschaffen hat, soll gottlos sein? Wer steht denn unter den Menschen Christo näher als er! ...«

Der Meister machte mit einigen zarten Pinselstrichen das Gesicht des Johannes fertig und versuchte nun mit einem Kohlenstift, den er aus seiner Lade holte, das Gesicht Christi zu entwerfen.

Es wollte ihm aber nicht gelingen. Er war im Geiste seit zehn Jahren mit diesem Kopf beschäftigt und doch gelang es ihm nicht, ihn auch nur flüchtig zu skizzieren.

Der Künstler stand nun wieder vor dem weißen Fleck auf der Leinwand, in dem das Antlitz des Herrn erscheinen sollte und doch nicht konnte, und wieder fühlte er seine Ohnmacht und seine Zweifel.

Er warf die Kohle fort und beseitigte mit einem Schwamm die leichten Striche, die er eben gemacht hatte. Dann versank er vor dem Bilde in Nachdenken. So stand er oft stundenlang da.

Giovanni bestieg das Gerüst und näherte sich dem Meister. Da sah er in dem finstern, mürrischen, gleichsam gealterten Gesicht Leonardos den Ausdruck einer hartnäckigen, verzweifelten Anspannung aller Gedanken. Leonardo erwiderte Giovannis Blick mit den freundlichen Worten:

»Was sagst du nun, Freund?«

»Meister, was kann ich denn sagen? Es ist schön, herrlicher als alles in der Welt. Niemand hat es so begriffen, wie Ihr. Ich will lieber gar nichts sagen. Ich kann es nicht ...«

In seiner Stimme bebte tiefe Rührung. Dann sagte er noch ganz leise, beinahe ängstlich:

»Ich denke nach und begreife nicht, wie das Gesicht des Judas unter diesen Gesichtern erscheinen soll?«

Der Meister nahm aus der Lade die Skizze und zeigte sie ihm.

Das Gesicht war schrecklich, aber gar nicht abstoßend, nicht einmal boshaft; nur erfüllt von unendlichem Leid und von der Bitternis der Erkenntnis.

Giovanni verglich es mit dem Gesichte Johannis.

»Ja!« flüsterte er, »er ist es! Jener, von dem geschrieben steht: ›Der Satan fuhr in ihn.‹ Vielleicht wußte er mehr als alle, aber auf das Wort: ›Auf daß sie alle eins seien‹ wollte er nicht hören. Er wollte allein und für sich sein ...«

Ins Refektorium kam Cesare de Sesto in Begleitung eines Mannes, der die Kleidung eines Hof-Ofenheizers trug.

»Endlich finden wir Euch!« rief Cesare. – »Wir haben schon überall gesucht. Der Mann kommt von der Herzogin in einer wichtigen Angelegenheit.«

»Wollen Ew. Gnaden mir ins Schloß folgen,« sagte der Heizer ehrerbietig.

»Was ist denn geschehen?« »Ein Unglück, Messer Leonardo! Die Rohrleitungen im Bade haben versagt. Als die Herzogin heute früh in die Wanne zu steigen geruhte und die Zofe ins Nebenzimmer ging, um Wäsche zu holen, da brach der Hahn für heißes Wasser ab, so daß Ihre Durchlaucht das Wasser nicht abstellen konnte. Zum Glück gelang es ihr, rechtzeitig aus der Wanne zu springen. Sonst hätte sie sich verbrüht. Nun geruht sie zu zürnen: der Schloßverwalter Messer Ambrogio da Ferrari ist sehr aufgebracht und sagt, er hätte schon oft Ew. Gnaden auf den bedenklichen Zustand der Rohrleitungen aufmerksam gemacht.«

»Unsinn!« sagte Leonardo. – »Du siehst doch, daß ich beschäftigt bin. Sage es Zoroastro. Er setzt es in einer halben Stunde instand.«

»Es geht nicht, Messere! Ich muß unbedingt Euch holen ...«

Leonardo wandte sich von ihm weg und wollte weiter arbeiten. Als er aber den leeren Fleck, auf den das Antlitz Jesu kommen sollte, vor sich sah, verzog er geärgert sein Gesicht, denn er sah ein, daß es ihm auch diesmal nicht gelinge. Dann sperrte er seine Lade zu und stieg vom Gerüst.

»Also gut, gehen wir! Erwarte mich im großen Schloßhof, Giovanni. Cesare wird dich hinführen, wir treffen uns beim Pferd.«

Dieses Pferd war ein Denkmal des verstorbenen Herzogs Francesco Sforza.

Giovanni bemerkte mit Erstaunen, daß sein Meister sich gar nicht nach dem Heiligen Abendmahl umwandte, und daß er willig dem Heizer folgte, um die Abflußrohre für schmutziges Wasser im herzoglichen Bade zu reparieren; er schien sogar froh zu sein, daß er nun einen Vorwand habe, sein Werk zu verlassen.

»Was? Kannst dich gar nicht satt sehen?« fragte Cesare Beltraffio. – »Es mag wirklich merkwürdig erscheinen, so lange man es nicht ganz erfaßt hat ...«

»Was willst du damit sagen?«

»Gar nichts ... Ich will dich nicht enttäuschen, vielleicht kommst du noch selbst dahinter, vorläufig kannst du dich ja noch daran ergötzen.«

»Ich bitte dich, Cesare, sage mir alles, was du darüber denkst.«

»Gut. Aber, bitte, mache mir hinterdrein keine Vorwürfe, weil ich dir die Wahrheit gesagt habe. Ich weiß übrigens schon jetzt alles, was du einwenden wirst, und ich will dir nicht widersprechen. Gewiß ist es ein gewaltiges Werk. Kein Meister beherrschte so die Anatomie, die Perspektive und die Gesetze von Licht und Schatten wie er. Wie könnte es auch anders sein?! Alles ist ja der Natur abgeguckt: jede Furche in den Gesichtern, jede Falte im Tischtuch, was aber fehlt, – ist der Geist des Lebens. Gott fehlt in dem Bilde, und er kommt auch nie hinein! Alles ist darin tot, das Herz ist tot! Sieh nur hin, Giovanni: diese geometrische Symmetrie! Siehst du die Dreiecke? Zwei Dreiecke der Beschaulichkeit und zwei der Tätigkeit, und in der Mitte steht Christus. So siehst du rechts das Dreieck der Beschaulichkeit: das Vollkommen-Gute in Johannes, das Vollkommen-Böse in Judas und die Scheidung von gut und böse – das Gerechte in Petrus. Daneben siehst du das Dreieck der Tätigkeit: Andreas, Jakobus der Jüngere und Bartholomäus. Links hast du wieder ein Dreieck der Beschaulichkeit: die Liebe in Philippus, der Glaube in Jakobus dem Älteren und die Vernunft in Thomas. Und daneben ist wieder ein Dreieck der Tätigkeit. Hier ist Geometrie statt Begeisterung, Mathematik statt Schönheit! Alles ist durchdacht, berechnet, bis zum Überdruß durchgekaut, gewogen und abgemessen. Unter dem Deckmantel des Heiligsten – ist hier nur Blasphemie!«

»O, Cesare!« sagte Giovanni leise und vorwurfsvoll: »wie schlecht kennst du den Meister! Und warum haßt du ihn so?«

»Und du glaubst, daß du ihn kennst und liebst?« fragte Cesare mit giftigem Lächeln, ihm einen schnellen Blick zuwerfend.

In seinen Augen flammte so unerwarteter Haß auf, daß Giovanni unwillkürlich stutzte.

»Du bist ungerecht, Cesare,« sagte er nach einer Pause. »Das Bild ist ja noch nicht vollendet. Der Heiland fehlt ja noch drauf.«

»Der Heiland fehlt. Bist du aber überzeugt, daß er je kommt? Wir wollen sehen. Aber merke dir, was ich sage: Messer Leonardo wird sein Heiliges Abendmahl nie vollenden, weder Christus, noch Judas wird er je malen. Begreife doch, mein Freund: mit Mathematik, Erfahrung und Wissen kann man vieles erreichen, aber doch nicht alles. Hier ist etwas anderes not. Hier ist die Schwelle, die er mit seiner ganzen Gelehrtheit nie überschreiten kann!«

Sie verließen das Kloster und gingen zum Schlosse Castello di Porta Giovia.

»In einem hast du doch unrecht, Cesare,« sagte Beltraffio: »der Judas ist schon fertig.«

»So? Wo denn?«

»Ich habe ihn selbst gesehen.«

»Wann?«

»Soeben. Er zeigte mir die Skizze.«

»Dir? So!«

Cesare blickte ihn an und fragte langsam, wie mit Selbstüberwindung:

»Nun, ist sie gut?«

Giovanni nickte stumm. Cesare erwiderte nichts und sprach nachher auf dem ganzen Wege kein Wort. Er war ganz in seine Gedanken versunken.

VIII.

Sie erreichten das Schloßtor und gelangten über die Zugbrücke Battiponte in den Turm der Südmauer – Torre di Filarete, der von allen Zeiten von tiefen Wassergräben umgeben war. Hier war es dumpf und finster, es roch noch nach Brot und Pferdemist, wie in einer Kaserne. Im schallenden Gewölbe hallten die vielsprachigen Rufe und Schimpfworte der Söldner und ihr Lachen wider.

Cesare hatte einen Passierschein. Giovanni war aber den Wächtern unbekannt; sie musterten ihn argwöhnisch und trugen seinen Namen in das Wachtjournal ein.

Sie passierten eine zweite Zugbrücke, wo sie wieder von der Wache angehalten wurden, und gelangten auf den großen leeren Schloßplatz – Piazza d'Armi, das Marsfeld.

Nun standen sie vor der schwarzen Silhouette des gezackten Turmes – Bona Savoja, der sich über dem Toten Graben – Fossato Morto erhob. Rechts war der Eingang zum Ehrenhof – Corte Ducale, links – zu dem stark befestigten und völlig unzugänglichen Fort Rocchetta, das einem richtigen Adlerneste glich.

In der Mitte des Platzes stand ein großes hölzernes Baugerüst, das von verschiedenen Anbauten, Zäunen und Schuppen, die zwar provisorisch aufgestellt, aber vom Alter schon schwarz und fleckig waren, umgeben war.

Über diesen Zäunen und Gerüsten erhob sich eine Statue aus Ton, genannt der Koloß, – ein zwölf Ellen hohes Reiterstandbild, ein Werk Leonardos. Das Pferd aus dunkelgrünem Ton hob sich riesengroß vom bewölkten Himmel ab. Es bäumte sich, einen Krieger niedertretend; der Sieger streckte einen Herzogsstab aus. Es war der große Condottiere Francesco Sforza, der Abenteurer, der sein Blut um Geld verkaufte, halb – Soldat, halb – Räuber. Er stammte von einem armen Bauern aus der Romagna; stark wie ein Löwe und schlau wie ein Fuchs erreichte er dank seinen Verbrechen, Heldentaten und seiner Weisheit die höchste Macht und starb auf dem Throne der Mailänder Herzoge.

Ein bleicher feuchter Sonnenstrahl streifte den Koloß.

Giovanni sah in seinem fetten Doppelkinn und in seinen schrecklichen scharfen und raubgierigen Augen die gutmütige Ruhe eines satten Tieres. Im Sockel las er aber das Distichon, das Leonardo mit eigener Hand in den Ton modelliert hatte:

Exspectant animi molemque futuram
Suspiciunt; fluat aes; vox erit: Ecce deus!

Die beiden letzten Worte » Ecce Deus!« – »Seht, welch ein Gott!« ergriffen Giovanni aufs tiefste.

»Ein Gott!« sprach Giovanni vor sich hin und sah noch einmal den tönernen Koloß an und das menschliche Opfer, das sich unter dem Pferde des Triumphators, des gewalttätigen Sforza, wand. Da mußte er wieder an das stille Refektorium im Kloster der Gnadenreichen Jungfrau denken, an die blauen Gipfel Zions, an die himmlische Schönheit Johannis und an die Stille des letzten Abendmahls jenes Gottes, von dem geschrieben steht: »Ecce homo!« – »Sehet, welch ein Mensch!«

Da kam Leonardo auf ihn zu.

»Ich bin mit der Arbeit fertig. Gehen wir. Sonst ruft man mich noch zurück: ich glaube, die Küchenherde sind nicht in Ordnung. Machen wir uns aus dem Staube, ehe man es bemerkt.«

Giovanni stand schweigend mit gesenkten Augen da. Er war blaß.

»Verzeiht, Meister! ... Ich denke und denke und kann nicht begreifen, wie Ihr zur selben Zeit den Koloß und das heilige Abendmahl schaffen konntet?«

Leonardo sah ihn mit naivem Erstaunen an.

»Was kannst du da nicht begreifen?« »O, Messer Leonardo, seht Ihr es denn nicht selbst? Es geht doch nicht zur selben Zeit ...«

»Ganz im Gegenteil, Giovanni. Ich glaube, das eine ist dem andern förderlich. Wenn ich hier am Koloß arbeite, fallen mir die besten Gedanken für das Heilige Abendmahl ein, und umgekehrt – im Kloster denke ich mit Vorliebe an den Koloß. Diese Werke sind Zwillinge. Ich habe sie zugleich angefangen und werde sie auch zugleich vollenden.«

»Zugleich! Diesen Menschen und den Heiland! Nein, Meister, das kann nicht sein! ...« rief Beltraffio aus. Er konnte seine Gedanken nicht deutlicher ausdrücken, er fühlte aber in seinem Herzen den unerträglichen Widerspruch und wiederholte nur:

»Das kann nicht sein! Nein, das kann nicht sein!«

»Warum kann es nicht sein?« fragte der Meister.

Giovanni wollte etwas erwidern; ihn traf aber der ruhige, erstaunte Blick Leonardos, und da begriff er, daß alle Worte vergeblich seien, denn Leonardo würde seine Einwände nicht verstehen.

»Als ich vor dem Heiligen Abendmahl stand,« dachte Giovanni, »glaubte ich, ihn zu verstehen. Und jetzt weiß ich wieder nichts. Wer ist er? Welchem von den beiden jubelt sein Herz zu: ›Welch ein Gott!‹ Oder hat vielleicht Cesare recht und Leonardos Herz ist wirklich gottlos?«

IX.

Nachts, als das ganze Haus schlief, schlich Giovanni, der nicht einschlafen konnte, in den Hof und setzte sich auf eine von Weinlaub beschattete Bank.

Der Hof war viereckig und in der Nähe stand ein Brunnen. Giovanni saß mit dem Rücken zur Hausmauer; ihm gegenüber lagen die Stallungen; links war die Mauer mit der Pforte auf die Landstraße, die zur Porta Vercellina führte und rechts – die immer abgesperrte Türe zu einem Gärtchen; in diesem Gärtchen stand ein einzelnes Gebäude, das außer dem Meister nur noch Astro betreten durfte; hier arbeitete zuweilen Leonardo in gänzlicher Abgeschlossenheit.

Die Nacht war still, warm und feucht; trübes Mondlicht sickerte durch den schwülen Nebel.

An die Pforte wurde von der Landstraße aus geklopft.

Im Erdgeschoß öffnete sich ein Fenster, jemand steckte seinen Kopf heraus und fragte:

»Bist du es, Monna Kassandra?«

»Ja. Mache auf.«

Astro kam aus dem Hause und machte auf.

In den Hof trat eine weibliche Gestalt in einem weißen Gewande, das im Mondlicht grünlich erschien.

Zuerst besprachen sie etwas an der Pforte. Dann gingen sie an Giovanni vorbei, ohne ihn zu bemerken, denn ihn verdeckte der schwarze Schatten des Weinlaubes und des Schutzdaches.

Das Mädchen setzte sich auf den niederen Rand des Brunnens.

Sie hatte ein merkwürdiges Gesicht: es war gleichgültig und unbeweglich wie bei alten Statuen. Ihre Stirn war niedrig, ihre Augenbrauen gerade, das Kinn auffallend klein und die Augen durchsichtig bernsteingelb. Am meisten wunderte sich Giovanni über ihr Haar, das trocken, flockig und leicht war und von eigenem Leben beseelt schien; es gemahnte an die Schlangen der Medusa und umgab das Gesicht mit einem schwarzen Glorienschein, der das Gesicht noch bleicher, die roten Lippen – leuchtender und die gelben Augen – durchsichtiger erscheinen ließ.

»Du hast also auch schon vom Frater Angelo gehört, Astro?« fragte das Mädchen.

»Ja, Monna Kassandra. Man sagt, der Papst habe ihn hergeschickt, damit er alle Zauberei und Ketzerei ausrotte. Wenn man die Leute über die Patres der Inquisition reden hört, so stehen einem die Haare zu Berge. Ich wünsche keinem, in ihre Klauen zu geraten! Seid vorsichtiger, warnt Eure Tante ...«

»Sie ist gar nicht meine Tante!«

»Das ist gleich. Ich meine Monna Sidonia, bei der Ihr wohnt.«

»Glaubst du, daß wir Hexen sind, Schmied?«

»Gar nichts glaube ich! Messer Leonardo hat es mir haarklein auseinandergesetzt und bewiesen, daß es keinerlei Hexerei gibt und auch keine geben kann, und zwar nach den Gesetzen der Natur. Messer Leonardo weiß alles und glaubt an nichts ...«

»Er glaubt an nichts,« wiederholte Monna Kassandra, »glaubt er denn nicht an den Teufel? Und an Gott?«

»Spottet nicht. Er ist ein gerechter Mann.«

»Ich spotte gar nicht. Weißt du aber, Astro, was es für sonderbare Fälle gibt? Man erzählte mir, die Patres der Inquisition hätten bei einem großen Gottesleugner einen Vertrag mit dem Teufel gefunden, nach dem sich dieser Mann verpflichtete, den Glauben an die Existenz von Hexen und an die Macht des Teufels nach den Gesetzen der Logik und der natürlichen Verordnung zu bekämpfen, um auf diese Weise die Diener Satans von den Verfolgungen der heiligsten Inquisition zu schützen und das Reich des Teufels auf der Erde zu vermehren. Daher heißt es ja auch, ein Zauberer sei ein Ketzer, derjenige aber, der an Zauberei nicht glaubt, sei ein doppelter Ketzer. Also, Schmied, sei auf der Hut, verrate deinen Meister nicht, und erzähle es niemand, daß er an die schwarze Magie nicht glaubt!«

Zoroastro war zuerst bestürzt, dann begann er zu widersprechen und Leonardo zu verteidigen. Das Mädchen unterbrach ihn aber:

»Wie steht's mit eurer Flugmaschine? Wird sie bald fertig?«

Der Schmied machte eine abwehrende Handbewegung.

»Fertig? Keine Spur! Wird wieder alles umgearbeitet.«

»Ach, Astro, Astro! Wie kannst du nur an diesen Unsinn glauben! Siehst du denn nicht, daß alle diese Maschinen Schwindel sind? Ich glaube, daß Messer Leonardo schon längst fliegen kann ...«

»Wie kann er denn fliegen?«

»Nun, ebenso wie ich.«

Er sah sie nachdenklich an.

»Vielleicht träumt Ihr nur davon, Monna Kassandra?«

»Wie könnten es dann die andern sehen? Oder hast du nichts davon gehört?«

Der Schmied kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Ich vergaß übrigens,« fuhr sie spöttisch lächelnd fort: »daß ihr hier gelehrte Männer seid und an keinerlei Wunder glaubt. Bei euch ist ja alles Mechanik!«

»Der Teufel soll die Mechanik holen! Sie wächst mir längst zum Halse heraus!«

Dann faltete er flehend die Hände und sagte:

»Monna Kassandra! Ihr wißt, daß ich verschwiegen bin. Und dann würde ich auch mir selbst schaden, wenn ich etwas ausplauderte. Denn Frater Angelo kann auch uns jeden Tag an den Kragen gehen. Sagt mir, bitte, sagt es offen ...«

»Was soll ich denn sagen?«

»Wie Ihr fliegt.« »So, das willst du wissen! Nein, mein Lieber, das sage ich dir nicht. Viel Wissen schadet nur.«

Sie schwieg. Dann blickte sie ihm eine Weile in die Augen und sagte leise:

»Was soll ich da viel erzählen? Da heißt es einfach handeln.«

»Was gehört denn dazu?« fragte er mit bebender Stimme und bleich.

»Man muß eine Formel wissen. Und dann gibt es noch eine Salbe, mit der man sich einreibt.«

»Habt Ihr sie?«

»Ja.«

»Kennt Ihr auch die Formel?«

Das Mädchen nickte bejahend.

»Und werde ich damit fliegen können?«

»Versuch's. Das ist sicherer als eure Mechanik!«

Wahnsinniges Verlangen erglühte in dem einzigen Auge Astros.

»Monna Kassandra, gebt mir von Eurer Salbe!«

Sie lächelte leise und rätselhaft.

»Astro, du bist wirklich sonderbar! Erst eben erklärtest du die Geheimnisse der Magie – für dumme Märchen und nun glaubst du plötzlich selbst an sie ...«

Astro schlug verlegen die Augen nieder. Sein Gesicht nahm einen eigensinnigen und verschämten Ausdruck an.

»Ich will es versuchen. Mir ist es ja gleich – ob mit Magie, oder mit Mechanik, aber ich will durchaus fliegen! Ich kann nicht länger warten ...«

Das Mädchen legte ihm ihre Hand auf die Schulter.

»Also gut. Du tust mir leid. Du wirst vielleicht noch wirklich verrückt, wenn dir das Fliegen nicht gelingt. Es sei. Ich will dir von der Salbe geben und auch die Formel sagen. Aber auch du, Astro, mußt mir einen Wunsch erfüllen!«

»Ich will für Euch alles tun, Monna Kassandra! Sagt nur, was Ihr wünscht.«

Das Mädchen wies auf das mondbeschienene nasse Ziegeldach des Hauses im abgeschlossenen Garten.

»Laß mich da hinein.«

Astro runzelte die Brauen und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein ... Alles, was Ihr wollt, nur nicht das!«

»Warum?« »Ich habe ihm mein Wort gegeben, daß ich niemand hineinlasse.«

»Warst du schon einmal selbst dort?«

»Gewiß.«

»Was gibt's denn dort?«

»Da gibt es wirklich keine Geheimnisse. Ich versichere Euch, Monna Kassandra, da ist gar nichts Interessantes: nichts als Maschinen, Apparate, Bücher, Manuskripte. Dann gibt es dort noch seltene Pflanzen, Tiere und Insekten, die ihm Reisende aus fremden Ländern mitbringen. Dann gibt es noch einen giftigen Baum ...«

»Einen giftigen Baum?«

»Ja, mit dem experimentiert er. Er hat ihn vergiftet, um die Wirkung des Giftes auf Pflanzen zu studieren.«

»Ich bitte dich, Astro, erzähle mir alles, was du von diesem Baume weißt.«

»Da ist nicht viel zu erzählen. Im Frühjahr, als im Baume die Säfte stiegen, bohrte er den Stamm bis zur Mitte an und dann spritzte er mit einer langen hohlen Nadel eine gewisse Flüssigkeit hinein.«

»Das sind merkwürdige Experimente! Was ist es denn für ein Baum?«

»Ein Pfirsichbaum.«

»Nun, was wurde daraus? Sind die Früchte giftig?«

»Sie werden es sein, sobald sie reif sind.«

»Sieht man es ihnen an, daß sie vergiftet sind?«

»Nein, es ist nichts zu sehen. Darum läßt er auch niemand hinein, damit nicht jemand an den Pfirsichen Gefallen findet, einen ißt und daran stirbt.«

»Hast du den Schlüssel?«

»Ja.«

»Gib mir den Schlüssel, Astro!«

»Was fällt Euch ein, Monna Kassandra? Ich habe ja geschworen ...«

»Gib den Schlüssel!« wiederholte Kassandra. – »Dann verspreche ich dir, daß du noch diese Nacht fliegst, hörst du? – noch diese Nacht! Siehst du, da ist die Salbe!«

Sie holte aus ihrem Busen ein Fläschchen mit einer dunklen Flüssigkeit, die im Mondlicht schwach aufleuchtete, hervor, zeigte es ihm, näherte ihr Gesicht ganz dicht dem seinigen und sprach mit einschmeichelnder Stimme:

»Wovor fürchtest du dich, Narr? Du sagst ja selbst, daß es da keinerlei Geheimnisse gibt, wir wollen nur hineingehen und schauen ... Gib also den Schlüssel!«

»Laßt ab von mir!« erwiderte er. »Ich werde Euch um keinen Preis hineinlassen, auch will ich Eure Salbe nicht. Geht fort!«

»Feigling!« sagte sie mit Verachtung. »Du hast die Möglichkeit, das Geheimnis zu ergründen, und du traust dich nicht. Jetzt sehe ich, daß er ein Zauberer ist und dich zum Besten hält ...«

Er drehte ihr mit finsterer Miene den Rücken zu und schwieg.

Das Mädchen näherte sich ihm wieder.

»Also gut, Astro, dann nicht. Ich will nicht eintreten, aber öffne die Türe und laß mich nur hineinschauen ...«

»Werdet Ihr wirklich nicht eintreten?«

»Nein. Öffne und laß mich hineinschauen.«

Er zog den Schlüssel aus der Tasche und schloß auf.

Giovanni erhob sich leise von seiner Bank und erblickte in der Mitte des von allen Seiten mit Mauern umgebenen Gartens einen ganz gewöhnlichen Pfirsichbaum. Aber im bleichen Nebel und im trüben grünen Mondlicht erschien ihm der Baum unheildrohend und gespenstisch.

Das Mädchen stand an der Schwelle der Gartenpforte und starrte mit dem Ausdrucke gieriger Neugier in den weitgeöffneten Augen in den Garten. Dann machte sie einen Schritt vorwärts, um einzutreten. Der Schmied hielt sie zurück.

Sie rang mit ihm und glitt aus seinen Händen wie eine Schlange.

Er stieß sie mit Gewalt zurück, so daß sie beinahe hinfiel. Sie richtete sich wieder auf und sah ihn unverwandt an. Ihr leichenblasses Gesicht war böse und schrecklich: in diesem Augenblick glich sie wieder einer Hexe.

Der Schmied schloß den Garten zu und trat ins Haus, ohne sich von Monna Kassandra zu verabschieden.

Sie folgte ihm mit den Augen. Dann ging sie rasch an Giovanni vorbei und schlüpfte durch die Pforte auf die Landstraße von Porta Vercellina.

Es war wieder still. Der Nebel wurde dichter, alles verschwand und zerfloß darin. Giovanni schloß die Augen. Wie im Traume sah er vor sich den schrecklichen Baum mit den schweren Tropfen im feuchten Laub, und den vergifteten Früchten, von grünlichem Mondlicht übergossen. Die Worte der Schrift fielen ihm ein:

»Und Gott der Herr gebot dem Menschen und sprach: Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;

»Aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben.«


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