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Perspektiven der Individualität

. Auf den Deckengemälden der sixtinischen Kapelle, jenen Offenbarungen einer höchsten Künstlerseele, treten Adam und Eva in die Welt und werden, wie es nach ihrer Natur geschehen mußte, aus dem Paradiese des ursprünglichen Lebens verstoßen. Aber um sie her reihen sich die Gestalten derjenigen, die dem Menschen einen Weg in ein anderes Paradies bahnen wollen, Sibyllen und Propheten, die Verkündiger seiner Zukunft, die Lehrer und Pfadfinder eines erhöhten Lebens. Und neben ihnen in gläubiger Vorbereitung die Vorfahren dessen, der da kommen soll, dieses erhöhte Leben zu verwirklichen, der die tausendjährigen Hoffnungen erfüllen und die unbeirrbare Erwartung krönen wird.

Damit ist die tiefste menschliche Sehnsucht dargestellt, eine Sehnsucht, die in unendlich vielen Formen nach Ausdruck ringt, in den mannigfaltigsten Vorstellungen sich spiegelt, in religiösen und profanen Träumen eine vernehmliche Sprache redet. Sie zieht sich durch die ganze Geistesgeschichte der Menschheit, und sie ist eben so gegenwärtig in den enthusiastisch-ekstatischen Epochen des Denkens wie in den positivistisch-rationalen. Es ist die Sehnsucht nach einem höheren Dasein, nach einem vollendeteren Zustand, in dem das unzulängliche alte Menschentum eine Erhebung und Verklärung finden soll.

Auch die Gegenwart gibt Zeugnis davon. Die religiösen Vorstellungen, welche diese Sehnsucht mit der Verheißung eines jenseitigen Lebens der Seligkeit beschwichtigten, sind von einer evolutionistischen Naturbetrachtung abgelöst worden, die in der Vorstellung einer nach immer wachsender Vollkommenheit zielenden Entwicklungsreihe gipfelt und dem Menschen Anwartschaft auf eine schönere Zukunft gibt, die die Frucht seiner eigenen, durch die unabsehbare Kette der Generationen fortgesetzten Arbeit sein wird.

Den vollendetsten, von religiöser Glut erwärmten Ausdruck hat dieser evolutionistische Gedanke in Nietzsches Zarathustra gefunden, der den Übermenschen zu lehren kommt. Ihm erscheint der Mensch, wie er jetzt ist, als Übergang und Untergang, als ein Pfeil der Sehnsucht nach dem, was er dereinst sein wird, nach der neuen, höheren Form des Seins.

Und so geht auch durch das Problem der Geschlechter als Unterströmung jener Wille nach einer vollendeteren, harmonischeren, der sinnlosen Gewalt des Elementaren entrückten Form des persönlichen Lebens. Denn das Gebiet des Geschlechtes, das den vergänglichen Einzelnen mit dem Unvergänglichen verknüpft, mit der Gattung, deren Glied er ist, es ist auch der Boden, aus welchem alles menschliche Streben nach höheren Daseinszuständen aufsteigt.

Wenn in der Gegenwart das Interesse an diesem Problem – in seinen niedrigsten Äußerungen als ein neugieriges Wühlen in den sexuellen Untiefen, in seinen höchsten als eine unermüdliche Analyse aller Bedingungen, denen das Männliche und das Weibliche für sich und in ihrem Verhältnis zueinander unterstehen – besonders stark vorherrscht, so ist das auch ein Symptom dafür, daß ein zwiespältiger Zustand des Empfindens, in dem eine unangemessene Norm auf neue Elemente stößt, mit Hilfe der Erkenntnis nach einer anderen Ordnung drängt.

Den Untersuchungen über Mann und Weib entspringen zuletzt zwei kardinale Fragen: die Frage nach dem Sinn und Wert der individuellen Entwicklung und die Frage nach dem Ziele, das dieser Entwicklung vorgezeichnet werden kann. Die Freiheit der Individualität, das souveräne Recht des Einzelnen, sich ganz dem Gesetze seines eigenen Innern zu ergeben, schließt zwar allgemeine Bestimmungen im Sinne von Vorschriften aus; aber nicht nur die sozialen Einrichtungen, die auf der Grundlage allgemeiner Bewertungen ruhen, auch der Trieb nach der vollendeteren Daseinsform, der Trieb, in sich ein Höheres zu verwirklichen, der gerade in den vorzüglichsten Individuen am lebendigsten ist, lassen die objektive Bewertung nach dem Geschlechtscharakter auch für den Standpunkt der freien Individualität keineswegs gleichgültig erscheinen.

Es könnte ja sein, daß der männlichste Mann und das weiblichste Weib, wenn auch in Wirklichkeit vielleicht gar nicht die Mehrzahl, doch die vollendetsten Repräsentanten der menschlichen Gattung sind, jene nämlich, deren Vereinigung den beiden Beteiligten die größtmögliche Summe von individuellem Glück verspricht, oder auch jene, die den vollkommensten Gesellschaftszustand garantieren, so daß es eine Aufgabe, ein »Ideal« der menschlichen Sozietät wäre, ihre Heranzüchtung zu fördern und alles, was der Entfaltung dieser Menschen abträglich wäre, also jede Annäherung und Vermischung der psychischen Geschlechtscharaktere, durchaus zu unterdrücken.

Den Ansprüchen auf Gleichheit oder selbst nur Verwandtschaft der Geschlechter in geistigen Dingen steht die Auffassung gegenüber, daß eine scharf ausgeprägte Geschlechtsphysiognomie der Persönlichkeit das Resultat der historischen Menschheitsentwicklung, und die entschiedene Differenzierung der Individuen nach den Endpolen der Männlichkeit und Weiblichkeit eine hohe Kulturstufe bedeute. Kraft dieser Auffassung wäre das Ideal einer »reinen« Menschlichkeit abzulehnen; denn der Mensch existiert in der Realität entweder als Mann oder als Weib und kann sich nur seiner Geschlechtlichkeit gemäß entwickeln. Ein gemeinsames Menschheitsideal, dem das Weib sich nähert, wenn es Eigenschaften vom Manne annimmt, oder gar der Mann, wenn er weibliche Züge an sich ausbildet, gebe es nicht, sondern nur ein Mannesideal und ein Weibesideal, dem der Einzelne je nach seinem Geschlecht nachstreben und von dem er sich nicht wesentlich entfernen dürfe, ohne in seiner persönlichen Tüchtigkeit und Vollkommenheit herabgesetzt zu werden.

Aber »der Mensch« existiert dennoch: wenn schon nicht in der Außenwelt, so doch in der menschlichen Gedankenwelt, als Begriff. Indem man sagt, »der Mensch als Weib« oder »der Mensch als Mann« hat man etwas gesetzt, das weder von der Vorstellung des Weibes, noch des Mannes zu trennen ist – eben das Gemeinsame, das im menschlichen Denken den Gattungscharakter des Menschen bezeichnet.

Diese Idee der Gemeinsamkeit hat, wie sehr auch scheinbar im realen Leben die Geschlechtstrennung dominiert, zu allen Zeiten eine große Bedeutung besessen. Betrachtet man die historische Menschheitsentwicklung daraufhin, so wird man sehen, daß nur die Formulierung des Problemes und seine Zuspitzung auf das Wesen des weiblichen Geschlechtes der Gegenwart angehört, das Problem selbst aber, vornehmlich in religiöse Ideen gekleidet, etwas sehr Altes ist.

 

Die Vorstellungen über das, was den höheren Menschen ausmacht, was ihn zu einer über das Gewöhnliche hinausführenden Lebensform erhebt, weisen auf eine tief in der menschlichen Natur liegende Neigung hin, die Schranken des Geschlechtes zu durchbrechen. Die Geschlechtstrennung gehört den niedrigen Regionen des Seins an; in den Höhen herrscht die Gemeinsamkeit, die aus der Vereinigung der beiden Lebensformen besteht: diese Anschauung nimmt in dunkleren oder helleren Zügen vielfältig Gestalt an, sobald der menschliche Geist sich mit seinem Verhältnis zur Geschlechtlichkeit beschäftigt.

Eingehüllt in mythische Symbole und Allegorien, in die esoterische Unnahbarkeit der Mysterien, erscheint in der antiken Kultur der Gedanke der Gemeinsamkeit unter der geheimnisvollen religiösen Bedeutung, welche die Hermaphrodisie besaß. Das grob Sinnenfällige der körperlichen Bisexualität, wie es beispielsweise bei den ältesten Darstellungen der cyprischen Aphrodite als eines hermaphroditischen Idoles hervortritt, ist bloß der naive Ausdruck für jene Auffassung, welche die Natur des Göttlichen, die Vollendung, als Vereinigung der Geschlechter in einer Person erblickte. Auch andere griechische Götter zeigen die Spuren dieser Auffassung. Hera erzeugt den Hephästos ohne Mitwirkung des Zeus, um ihre mannweibliche Natur zu offenbaren; Zeus bringt die Athene aus sich selbst hervor und gebiert sie, indem er sie aus seinem Kopf entspringen läßt. Hier ist die Symbolisierung eines geistigen Vorganges als einer Vereinigung männlicher und weiblicher Funktionen ganz deutlich.

Selbst der spiritualisierte Gottesbegriff, dessen Träger das Judentum war, enthält Anklänge an die Vorstellung der Doppelgeschlechtlichkeit. In der hebräischen Kabbala erscheint die »Schwester des Alten« unter dem Namen Schekinah als Teil der göttlichen Trinität. Nach einer gleichfalls der jüdischen Mystik angehörenden Vorstellung ist Gott ein männliches, der heilige Geist ein weibliches Urwesen, aus deren geschlechtlicher Vermischung der Sohn und mit ihm die Welt entstanden. (Feuerbach.)

Diese Auffassung zieht sich bis in das christliche Denken herein: es gibt Anhaltspunkte, daß der heilige Geist, der in der Gestalt der Taube vorgestellt wird, ursprünglich das weibliche Element in der Dreieinigkeit bildete, und unter den frühen christlichen Sekten waren auch solche, die im heiligen Geist eine weibliche Gottheit verehrten; ja noch die Herrenhuter nannten den heiligen Geist die Mutter des Heilands. Nach den herrschenden religiösen Anschauungen ist allerdings das weibliche Element aus der Dreieinigkeit ausgeschieden worden, um in der Gestalt der Muttergottes, der unbefleckten Jungfrau, eine besondere Stellung zu erhalten.

Auch in dieser Gestalt wirkt noch eine alte religiöse Vorstellung fort: die Vorstellung der außergeschlechtlichen oder doch übernatürlichen Zeugung. Danach werden Menschen von besonderer, höherer Bedeutung außerhalb des gewöhnlichen Geschlechtsvorganges geboren, entweder durch ein Herabsteigen der Gottheit unter physischen Bedingungen wie bei den griechischen Heroen, oder von einer jungfräulichen Mutter durch eine bloß spiritualistische Einwirkung des Göttlichen, wie in der Legende von Buddha und von Christus. Denn der Überwinder des gewöhnlichen, geschlechtlich unfreien Menschentumes konnte seinen Ursprung nicht dem verdanken, was den Menschen an das niedrige Leben bindet. In einer späteren Paraphrase findet sich noch bei Paracelsus, der die Geschlechtsteile ein »monstrosisch Zeichen« nennt, der Gedanke, daß die Fortpflanzung des Menschen nach dem ursprünglichen Schöpfungsplan nicht nach »viehischer Weise«, nicht »salnitrisch« geschehen sollte, sondern »iliastrisch«, durch magische Imagination – auf die Weise, wie Gott aus sich die Welt geschaffen hat.

Dieser iliastrische Mensch, der ursprüngliche, gottähnlich vollendete, der Mensch vor dem Sündenfall, wird als ein doppelgeschlechtliches Wesen gedacht. Die jüdische Mystik kennt einen Adam Kadmon, den ersten Adam, den Gott unsterblich und vollkommen als ein mannweibliches Geschöpf in die Welt gesetzt hatte – eine Vorstellung vom Urmenschen, die auch bei der gnostischen Sekte der Ophiten auftritt – um später, zur Strafe seiner Überhebung, die weibliche Hälfte in Gestalt der Eva von ihm loszulösen.

Mit dieser Mythe verwandt ist die bekannte Erzählung des Aristophanes in Platons Gastmahl. Auch hier erscheinen die Menschen in ihrer Urgestalt so geschaffen, daß sie beide Geschlechter in sich vereinigen. In diesem Zustande waren sie so voll Stärke und großer Gedanken, daß Zeus daran gehen mußte, ihre Kraft zu beschränken, weshalb er sie auseinanderschnitt und als Hälften weiterleben ließ. Da nun jeder Mensch nur das Stück von einem ehemaligen Ganzen bildet, suchen noch immer die beiden Teile wieder eins zu werden; und die Liebe ist der Ausdruck für dieses Streben, die ursprüngliche Vollkommenheit der menschlichen Natur wieder herzustellen. Der Gedanke einer solchen vorzeitlichen oder mystischen Verbundenheit, der durch die neuplatonische Philosophie tiefer ausgebildet worden ist, taucht in der Phantasie großer Seelen immer wieder auf, wenn sie lieben. Michelangelo spricht in seinen Sonetten von dem Heimweh, das ihn durch die Augen der geliebten Frau nach dem »Eden, wo wir einst Gespielen waren«, zieht; Goethe sagt in einem Gedicht an Frau von Stein: »Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau«; und Schiller hat mit der ganzen leidenschaftlichen Gewalt seiner Jugendperiode diesen Gedanken in dem an Laura gerichteten »Geheimnis der Reminiszenz« ausgedrückt: »Waren wir im Strahl erlosch'ner Sonnen schon in Eins zerronnen? Ja wir waren's!... in innig festverbundnem Wesen waren wir ein Gott... Weine Laura! Dieser Gott ist nimmer; du und ich des Gottes schöne Trümmer –.«

Aber diese Abschweifung in das Gebiet der hohen Liebe, wo das Geschlechtliche mit den edelsten Tendenzen der menschlichen Natur verschmilzt, gehört nicht ganz hierher, wiewohl diese Illusionen symptomatisch für eine bestimmte Art des Geschlechtsempfindens sind, die gemeinsame Quelle auch der Vorstellungen, um welche es sich hier handelt.

Der Zustand der Vollendung als vorzeitliche Einheit der Geschlechter ist nahe verwandt mit der Verwandlung von einem Geschlecht ins andere. Aus der griechischen Welt sind es vor allem zwei überragende Gestalten, die diese Verwandlung durchmachen. Der Seher Tiresias, der Übermensch der Erkenntnis, der an der Grenze zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen steht, verwandelt sich aus einem Mann in ein Weib und nach neun Monaten aus einem Weibe wieder in einen Mann; und bei Herakles, dem Übermenschen der Tat, der den ganzen Kreis menschlicher Aufgaben durchmißt, findet sich der gleiche Gedanke in seinem Verhältnis zu Omphale, wenn auch in einer banalisierten Auslegung.

Auch jene orgiastischen Feste der antiken Kultur gehören hierher, bei welchen Männer und Weiber ihre Kleider vertauschten – eine symbolische Handlung, deren esoterischer Sinn darauf hinweist, daß die Geschlechter einen höheren Zustand des Seins durch Tausch erlangen können. Um in das tiefste Mysterium des Lebens einzudringen, muß der Mann etwas vom Weibe annehmen, er muß über die profane Anschauung hinaus, die auf eine absolute und ungeteilte Entfaltung der Männlichkeit gerichtet ist, den Willen zur Überwindung des Geschlechtes haben.

Der barbarisch energische Ausdruck für diesen Willen ist die Verstümmelung, der sich die Cybelepriester unterzogen; um alles Männliche vollends abzustreifen, mußten sie sich überdies den Bart scheren und Weiberkleider tragen. Eine letzte Spur der Forderung, daß der höhere Mensch selbst in seiner Erscheinung keine Geschlechtsmerkmale an sich haben soll, läßt sich noch in der katholischen Sitte erkennen, die dem Priester eine der weiblichen verwandte Kleidung – den bis an die Sohlen reichenden Talar – und ein bartloses Gesicht vorschreibt. Und wenn der Apostel Paulus von solchen spricht, die sich »um des Himmelreiches willen verstümmeln«, so ist die Anspielung auf jene Riten und ihre Nutzanwendung im Sinne der neuen Lehre unverkennbar.

Was in der antiken Welt hinter den Geheimnissen einzelner Kulte verborgen lag, trat im Christentum als neues Lebensideal Allen zugänglich ans Licht. Und niemals ist die Verleugnung und Unterdrückung des Geschlechtlichen stärker, umfassender, überzeugender gepredigt worden als durch dieses neue Lebensideal. Das paulinische Wort: »Hier ist weder Jude noch Grieche, weder Herr noch Knecht, weder Mann noch Weib, sondern ihr seid allesamt eins in Jesu Christo«, ist die bündigste Formel dafür, daß ein Allgemein-menschliches, jenseits von Rasse, Stand und Geschlecht, das christliche Wesen begründet. In Ansehung ihrer höchsten sittlichen Werte kennt die christliche Weltanschauung, solange sie konsequent bleibt, keinen Unterschied der Geschlechter, weil sie von ihren vollendeten Bekennern ein Hinaussein über alles Geschlechtliche fordert. Innerhalb dieser Weltanschauung haben Männlichkeit und Weiblichkeit als sittliche Werte gar keinen Raum. Oder, wenn man die Auffassung Hartpole Leckys teilen will, daß der Übergang von der antiken Lebensauffassung zur christlichen der Übergang von einem männlichen zu einem weiblichen Lebensideal war, so mußte zum mindesten der Mann alles Spezifische seiner Geschlechtsnatur aufgeben. Die Geschlechtstugenden fehlen in der geistigen Erscheinung der Heiligen gänzlich; beide Geschlechter unterscheiden sich in Wandel und Gesinnung nicht voneinander. Vorzüge spezifisch geschlechtlicher Art gehören dem profanen, also dem niedrigen Leben an; und wenn die christlichen Vorschriften keineswegs immer von dem Standpunkt, daß es in der christlichen Gemeinde »weder Mann noch Weib« gebe, ausgehen, so äußert sich darin nur jener Abstand zwischen Theorie und Praxis, der für alle höheren menschlichen Bestrebungen bezeichnend ist.

Aber auch außerhalb der religiösen Vorstellungen und der asketischen Verneinung der Geschlechtsbestimmung lassen sich Symptome erkennen, die auf ein Streben nach Gemeinsamkeit jenseits des Geschlechtes deuten. Hatte das Christentum die Menschheit auf eine höhere Stufe zu heben gesucht, indem es weibliche Züge in der männlichen Psyche erweckte, so stellte die Renaissance, in der so viele antike Elemente wieder aufleben, einen männlichen Typus als den vorbildlichen auch für das Weib hin. Die Annäherung an die geistigen Vorzüge der Männlichkeit galt als eine Auszeichnung des Weibes: »Die Frau von Stande mußte damals ganz wie der Mann nach einer abgeschlossenen, in jeder Hinsicht vollendeten Persönlichkeit streben. Derselbe Hergang in Geist und Herz, der den Mann vollkommen machte, sollte auch das Weib vollkommen machen ... Man braucht nur die völlig männliche Haltung der meisten Weiber in den Heldengedichten, zumal bei Bojardo und Ariosto, zu beachten, um zu wissen, daß es sich hier um ein bestimmtes Ideal handelt.« (Burckhardt, Kultur der Renaissance.) Und es wird als das edelste Bündnis zwischen Mann und Weib gefeiert, »wenn beider Herz derselbe Geist durchglüht, in beider Leib dieselbe Seele blüht, um beiden aufwärts gleichen Schwung zu leihen, ... und eins zum Herrn das andere sich erkor«.

Diese Worte stammen von dem prophetisch hohen Geist, der jenen Jesus-Apollo geschaffen hat, den Gott einer neuen Weltordnung, welcher in seiner übermenschlichen Erscheinung eine Synthese zweier großer Kulturepochen bildet. Aber nicht »zur rechten Hand Gottes«, wie es die christliche Tradition will, hat Michelangelo seinen Messias dargestellt, um ihn mit unsterblicher Richtergebärde unter den Menschen wählen und verwerfen zu lassen – an seiner Seite erscheint das Weib, in wissender Gnade über Erwählte und Verworfene sich neigend.

 

Wie das christliche Ideal ist auch das Renaissanceideal nur in den Höhen der Menschlichkeit, von besonderen Einzelnen, verwirklicht worden. Wer jedoch die Spuren dieses Ideals in den literarischen Dokumenten verfolgt, wird sehen, daß es nicht verloren gegangen ist.

Auffallend tritt es in jener Blütezeit des geistigen Lebens an der Wende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wieder hervor. Unter den Aussprüchen Goethes gibt es zahlreiche, denen die Idee der Gemeinsamkeit zugrunde liegt. Man braucht nur an das zu erinnern, was er über das Weib im allgemeinen sagt: daß es gewinne, wenn es etwas vom Mann annehme; »denn wenn es seine übrigen Vorzüge durch Energie erheben kann, so entsteht ein Wesen, das sich nicht vollkommener denken läßt«, oder an die Worte, die er »an Julien« richtet: »Seligen Erfolg zu schauen, einigest zu Manneskräften Liebenswürdiges der Frauen«, und nicht zuletzt an jenes esoterisch-vieldeutige und daher so wenig verstandene: »Das Ewig-weibliche zieht uns hinan.«

Ja in der Konzeption der Mignon, über die Goethe – in den Gesprächen mit dem Kanzler von Müller – selbst sagt, daß der ganze Roman dieses Charakters wegen geschrieben sei, und daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeines, Höheres verborgen liege, ist die künstlerische Absicht unverkennbar, ein Wesen darzustellen, dessen Seele das Geschlecht nicht erträgt. Der hohe poetische Zauber, der diese Gestalt umgibt, gehört halb dem Kinde, dem ungeschlechtlichen Wesen der Realität, und halb dem Engel, dem ungeschlechtlichen Wesen der Imagination: »So laßt mich scheinen, bis ich werde ... und jene himmlischen Gestalten, sie fragen nicht nach Mann und Weib.«

Der Mignon verwandt, aber mit der noch deutlicher hervortretenden Absicht, an einer das gewöhnliche Maß der Sterblichen überragenden Person die mystische Vereinigung des Männlichen und Weiblichen zu zeigen, erscheint Balzacs Seraphita – ein Wesen von höchster geistiger Abkunft, das für die Augen des liebenden Mädchens ein vollendeter Mann, für die Augen des liebenden Mannes ein vollendetes Weib ist. Eine besondere persönliche Bedeutung erhält diese Erfindung dadurch, daß Balzac, wie er in der Widmung hervorhebt, auf Wunsch der von ihm geliebten Frau diese Gestalt – »par vous rêvée, comme elle le fut par moi dès l'enfance« – geschaffen hat.

Die Menschen dieser Epoche haben über den Geschlechtsgegensatz freier und tiefer gedacht, als die Menschen der Gegenwart. Chateaubriand legt in seinen Memoiren das bei Männern höchst seltene Bekenntnis ab, daß er, hätte er sich selbst erschaffen können, aus Vorliebe für die Frauen sich zum Weib gemacht hätte; und Gentz hat in einem Briefe an Rahel Varnhagen unumwunden geschrieben: »Wissen Sie, Liebe, warum unser Verhältnis so groß und so vollkommen geworden ist? Ich will es Ihnen sagen: Sie sind ein unendlich produzierendes, ich bin ein unendlich empfangendes Wesen – Sie sind ein großer Mann, ich bin das erste aller Weiber, die je gelebt haben.«

Wie ein Kommentar zu jener berühmten Schlußstelle im Faust klingt, was Daumer in seiner »Religion des neuen Weltalters« sagt: »Hingebung des Menschlichen an das Natürliche, des Männlichen an das Weibliche ist... die höchste, ja einzige Tugend und Frömmigkeit, die es gibt.« Ähnliche Gedanken äußert Schleiermacher in seinen »Vertrauten Briefen« über Schlegels Lucinde, wenn er davon spricht, daß nun »die wahre himmlische Venus entdeckt ist... Eins mit dem tiefsten und heiligsten Gefühl, mit der Verschmelzung und Vereinigung der Hälften der Menschheit zu einem mystischen Ganzen. Wer nicht so in das Innere der Gottheit und der Menschheit hineinschauen und die Mysterien dieser Religion nicht fassen kann, der ist nicht würdig, ein Bürger der neuen Welt zu sein«.

In diesem Sinne ist auch sein »Katechismus der Vernunft für edle Frauen« verfaßt, wo es heißt: »Ich glaube an die unendliche Menschheit, die da war, ehe sie die Hülle der Männlichkeit und Weiblichkeit annahm ... Ich glaube an die Macht des Willens und der Bildung, mich dem Unendlichen wieder zu nähern ... und mich von den Schranken des Geschlechts unabhängig zu machen.«

Die Lucinde selbst, »dieses ernste, würdige und tugendhafte Werk«, wie Schleiermacher sagt, enthält Stellen, in denen die Aufhebung des Geschlechtsgegensatzes als das Höchste gepriesen wird. So nennt Friedrich Schlegel das Vertauschen der Rollen im Spiel der Liebe, »eine wunderbar sinnreich bedeutende Allegorie auf die Vollendung des Männlichen und Weiblichen zur vollen ganzen Menschheit«. Und indem er »das bleibende Gefühl harmonischer Wärme« als höchsten Grad der Liebe bezeichnet, erklärt er: »Welcher Jüngling das hat, der liebt nicht mehr bloß wie ein Mann, sondern zugleich auch wie ein Weib. In ihm ist die Menschheit vollendet, und er hat den Gipfel des Lebens erstiegen.«

 

Allein nicht nur durch die Liebe, die auf eine Wesensverschmelzung, auf einen »Tausch der Seelen« ausgeht – durch das bloße Überwiegen der Intellektualität, wie es das Leben in den Regionen der hohen Kultur mit sich bringt, kommt ein hermaphroditischer Zug in die menschliche Persönlichkeit. Nach der Schopenhauerschen Weltinterpretation, nach welcher der Wille das primäre oder männliche, der Intellekt das sekundäre oder weibliche Prinzip darstellt, wäre der Mensch schon durch die Vereinigung dieser Prinzipien in einem Individuum als geistige Erscheinung ein mannweibliches Wesen – eine Konsequenz, die Schopenhauer allerdings nicht gezogen hat. Aber auch ohne diese metaphysisch-willkürliche Bezeichnung der menschlichen Grundtriebe nach Geschlechtsanalogien: das kontemplative Element, das die Beschäftigung mit geistigen Dingen mit sich bringt, nähert den Mann dem weiblichen Wesen. Nietzsche, der im übrigen ein Anwalt der extremen Geschlechtsdifferenzierung ist, verweist wiederholt auf die Verwandtschaft mit dem Weibe, in die der Mann durch die geistige Schwangerschaft gerät, und er liebt diesen Vergleich so sehr, daß er ihn in mehrfachen Varianten angewendet hat.

Daß der geniale Mann nicht die psychischen Züge der extremen Geschlechtsdifferenzierung trägt, sondern in vielen Stücken sich dem weiblichen und selbst dem kindlichen Wesen nähert, ist eine bekannte Beobachtung. Vielleicht liegt der Grund in der stärkeren Irritabilität – die als Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechtes gilt – vermöge welcher das Genie auf Eindrücke von außen rascher und heftiger reagiert, als es der männlichen Durchschnittskonstitution entspricht. Die Heftigkeit dieser äußeren Eindrücke im Verein mit der Intensität innerer Impulse erzeugt auch jenen labilen Gemütszustand, der sich in einem unhemmbaren Stimmungswechsel ohne zureichende Motive äußert, wie er gleichfalls als Eigentümlichkeit des weiblichen Geschlechtes beobachtet wird. Die bekannteste Folgeerscheinung der weiblichen Irritabilität endlich, die Neigung zum Weinen, teilen die genialen Menschen ebenfalls; und es ist bekannt, wie leicht beispielsweise Goethe in Tränen ausbrach. Goethe war es auch, der sich zu einer Eigenschaft spezifisch weiblicher Art bekannte: der Rezeptivität, das heißt der Fähigkeit, Fremdes lebendig in sich aufzunehmen. Ohne eine das gewöhnliche Maß überragende Rezeptivität kann das Genie so wenig bestehen wie ohne eine erhöhte Produktivität, die man als seine wesentlichste Eigenschaft zu betrachten gewohnt ist. Nicht als eine Steigerung der spezifisch männlichen Natur ist das Genie zu begreifen, sondern als eine Ausdehnung über die Grenzen der einseitigen Geschlechtsdifferenzierung, als eine Synthese der männlichen und weiblichen Natur – was sich auch darin offenbart, daß geniale Frauen gleichfalls nicht die extreme Geschlechtsdifferenzierung zeigen, sondern eher männliche Wesenszüge.

Auch in dem Verhältnis des bewußten Lebens zum Unbewußten erscheint das Genie als Synthese. Ricarda Huch spricht in ihrem Buche über die Blütezeit der Romantik davon, indem sie den unbewußt handelnden Menschen den männlichen Typus nennt, den erkennenden, dessen Triebe, weil sie ins Bewußtsein treten, sich nicht in Handlung umsetzen können, den artistischen oder weiblichen, den Typus aber, der diese beiden vereinigt, den mannweiblichen, welchen das Genie trägt. Was sie im Anschluß an diese Ausführung unter dem »harmonischen Zukunftsmenschen« versteht, ist daher auch eine mannweibliche Erscheinung.

Das hervorragendste Beispiel dafür, wie deutlich die geistige Produktivität in der Vorstellung des genialen Menschen den Charakter der Hermaphrodisie annehmen kann, gibt Richard Wagner dort, wo er das Verhältnis von Dichtkunst und Musik zueinander darstellt. Ihm, der in seiner Person den Dichter und den Musiker vereinigte, erschien das Komponieren als eine weibliche Funktion. »Die Musik ist ein Weib«, das sich durch das männliche Wort befruchten lassen muß, um zu gebären – diesen Gedanken hat Wagner mit Kühnheit und Tiefe in »Oper und Drama« durchgeführt. Von welchen Vorstellungen über das Spezifisch-Geschlechtliche er dabei ausging, zeigen Aussprüche wie: »Nur als höchstes Liebesverlangen ist das Weibliche zu fassen, offenbare es sich nun im Manne oder im Weibe«, oder: »Das, wodurch der Verstand dem Gefühle verwandt ist, ist das Reinmenschliche, das, was das Wesen der menschlichen Gattung als solcher ausmacht. An diesem Reinmenschlichen nährt sich das Männliche wie das Weibliche, das durch die Liebe verbunden erst Mensch wird.« Daher brauchte er nicht anzustehen, den Vorzug Mozarts im Don Juan darauf zurückzuführen, daß hier »der Musiker der Natur seiner Kunst nach nicht im mindesten etwas anderes war, als unbedingt liebendes Weib«, und die Größe Beethovens darin zu suchen, daß er, der in seinem Hauptwerke die Notwendigkeit fühlte, sich an den Dichter zu wenden, »ein ganzer, das heißt gemeinsamer, den geschlechtlichen Bedingungen des Männlichen und Weiblichen unterworfener Mensch« geworden war.

Nicht die objektive Bedeutung dieser Aussprüche in musiktheoretischer Hinsicht kommt hier in Betracht, sondern ihre subjektive und symptomatische, die Auffassung, nach welcher der vollendete Mensch geistig den Bedingungen des Männlichen und des Weiblichen unterworfen ist. Auch Emerson drückt diese Auffassung aus, indem er sagt: »Im Gehirn finden sich sowohl männliche als weibliche Eigenschaften ... Tatsächlich wechseln wir in der geistigen Welt in jedem Augenblick das Geschlecht.« Er kommentiert damit Ideen Swedenborgs, jenes geheimnisvollen und schwer zugänglichen Geistes, unter dessen Einfluß Balzac seinen Roman Seraphita geschrieben, und Strindberg – im übrigen eine Natur von höchst einseitiger Sexualität – sich zu der Äußerung erhoben hat: »Ein Kind lieben, heißt für einen Mann zum Weibe werden, das Männliche ablegen und mit der geschlechtslosen Liebe der Himmlischen lieben, wie es Swedenborg nennt.«

 

Es wäre ein grobes Mißverständnis, diese Vorstellungen, von denen hier nur eine zufällige und unvollkommene Auslese gegeben ist, etwa bloß als die Anzeichen einer pathologischen Abweichung von der normalen Geschlechtlichkeit auszulegen. Sind es doch Äußerungen, die in die höchsten Regionen der Geistigkeit führen, die von ihren vornehmsten und edelsten Repräsentanten ausgehen, die in den Blütezeiten der Kultur stärker hervortreten als in den Niedergangszeiten. Was hier angeführt ist, bezieht sich ausschließlich auf geistige Zustände, die sich darin unmittelbar oder in symbolischer Form spiegeln. Nicht irgend eine latente Bisexualität in der körperlichen Beschaffenheit ist dahinter zu suchen. In dem Bereiche der Physis, darüber kann es keinen Zweifel geben, bedeutet die Entwicklung zur »homologen Monosexualität«, zur unbedingten Geschlechtstrennung der Individuen, das wünschenswerteste Ziel. Jede Abweichung von der physiologischen Norm macht das Individuum zu einem unvollkommenen Wesen; die körperliche Zwitterhaftigkeit ist widerwärtig, weil sie eine Unzulänglichkeit, eine unterbrochene und mißglückte Bildung darstellt. Dem Körper nach ein ganzer Mann oder ein ganzes Weib zu sein, gehört ebenso zu den Eigenschaften des schönen und gesunden Menschen wie eine intakte Korporisation nach jeder anderen Richtung. Allerdings behält auch im Physischen, in der formalen Erscheinung, der Umstand seine Bedeutung, daß die beiden Geschlechter sich ontogenetisch aus einer gemeinsamen hermaphroditischen Urform entwickeln, deren Spuren in der späteren Differenzierung nicht ganz verschwinden dürfen. Und nach der neuesten biologischen Theorie gewinnt es überdies den Anschein, daß alle höher organisierten Lebewesen die Merkmale beider Geschlechter dauernd in sich vereinigen.

Wenn es ein Vorzug des modernen Denkens ist, daß es in der naturwissenschaftlichen Beleuchtung aller Probleme abseits von moralischen Standpunkten auch die geistigen Phänomene als Naturprozeß anzuschauen vermag, so ist es doch zugleich sein großer Mangel, daß es für diese Phänomene keinen anderen Vergleichswert hat, als das Mehrzahlsmäßige, das Gewöhnliche. Was die naturwissenschaftliche Auffassung gemeinhin als das Normale hinstellt, ist das Durchschnittliche, und sie erblickt in jedem Abweichen von dieser Norm schon ein Symptom der Krankhaftigkeit und der Entartung. Diese Verwechslung des Normalen als des Gewöhnlichen mit dem Normalen im Sinne des der Gattung und ihren höchsten Manifestationen Angemessenen ist schuld, daß der naturwissenschaftlichen Auffassung ein rechter Maßstab für das Große und Außergewöhnliche in der menschlichen Natur fehlt. Da sie den Durchschnittsmenschen zum ausschließlichen Typus des Gesunden erhebt, muß sie den über das Durchschnittliche hinausragenden Menschen notwendigerweise als Abnormität erklären. Daß gerade in ihm die Anzeichen und Vorboten einer Höherentwicklung gegeben sind, auf welche die evolutionistische Naturbetrachtung den höchsten Wert legen müßte, und daß diese Anzeichen nicht als pathologisch angesehen werden dürfen, weil das Genie eine erhöhte funktionelle Qualität darstellt, während pathologische Vorgänge die Funktion in ihrer Qualität herabmindern, bleibt auf diesem Wege unberücksichtigt.

Dadurch kommt eine philiströse Verflachung und Verödung in das geistige Leben. Das Hohe und Vorbildliche wird um seine soziale Funktion gebracht, und das gemeine Alltägliche auf einen Platz gestellt, auf den es nicht hingehört. In der abschreckend »durchschnittlich« gewordenen Kultur der Gegenwart dominiert der mit den Hilfsmitteln einer abstrakten Verstandesbildung ausgerüstete Durchschnittsmensch, der sich selbst als Muster betrachtet. Aber das Maß von Phantasie oder Impulsivität oder Verinnerlichung oder irgend einer anderen die Individualität bestimmenden Eigenschaft, das heute als das Normale gelten kann, ist nicht vor hundert Jahren das gleiche gewesen und wird es möglicherweise schon in der nächsten Generation nicht mehr sein.

 

Will man das menschliche Denken als einen Naturprozeß betrachten, so kann man auch die Anschauungen über das Wesen der Geschlechtlichkeit nur als Symptome für wirkende Kräfte der Gattung auffassen. Die Verschiedenheit dieser Anschauungen, die sich als stereotype wiederholen und die Individuen beiderlei Geschlechtes nach Gruppen gliedern, deuten darauf, daß bei der Entwicklung des Menschen zwei einander entgegengesetzte Tendenzen wirksam sind – die eine auf Bewahrung des allgemeinen Gattungscharakters gerichtet, die andere auf die teleologische Differenzierung nach dem Geschlecht. Die eine strebt nach einem Menschheitstypus jenseits von Mann und Weib, indem sie die gemeinsamen Merkmale der Gattung in beiden Geschlechtern bestärkt; diese bewegt sich nach den Extremen der Geschlechtlichkeit und fördert die Differenzierung zugunsten der Fortpflanzung und Vererbung.

Auch in diesen beiden Tendenzen treten jene einander entgegenwirkenden Grundkräfte hervor, die in der ganzen Natur das Gleichgewicht erhalten. Die Individuen, in denen die zentripetale Tendenz der Gattung überwiegt, sind geneigt, die Ideen der Gemeinsamkeit an die oberste Stelle zu setzen und die Eigentümlichkeiten der geschlechtlichen Differenzierung im menschlichen Seelenleben für untergeordnete, nebensächliche zu betrachten oder auch schlechtweg zu leugnen, während die Individuen mit zentrifugaler Tendenz den geschlechtlichen Gegensatz für einen Kardinalpunkt der sittlichen Entwicklung halten und jede Annäherung an einen gemeinsamen Menschheitstypus als Verirrung oder Entartung verwerfen.

Vom Standpunkte der reinen Betrachtung erscheint jede Richtung berechtigt und der Kampf zwischen beiden als eine Bedingung der Entwicklung. Sobald jedoch der Einzelne nicht bloß »Subjekt des reinen Erkennens« ist, sondern als eine bestimmte Individualität handelt und urteilt, muß er seine Rolle in diesem Naturprozeß nach den Konsequenzen seiner elementaren Beschaffenheit durchführen. Weiter als bis zur theoretischen Anerkennung der Naturnotwendigkeit kann seine Gerechtigkeit nicht dringen; und wenn er auch einräumt, daß es hier nur subjektive Perspektiven gibt, so bleibt er doch gezwungen, das Leben nach den Linien seiner eigenen subjektiven Perspektive zu sehen.

Deshalb werden auch die Vorstellungen über das, was eine fortschreitende Entwicklung an den beiden Geschlechtern zu vollbringen hätte, bei den Einzelnen weit auseinander gehen. Die Einflüsse der Kultur, die vor allem eine gesteigerte Mannigfaltigkeit des Einzellebens, eine höhere individuelle Differenzierung bewirken, schließen gleicherweise die Möglichkeit der Entwicklung nach den Endpolen der Geschlechtlichkeit in sich, wie eine Annäherung an die Gemeinsamkeit. Je nach ihrer individuellen Beschaffenheit sind die Kulturmenschen geschlechtlich viel weiter voneinander entfernt oder auch viel mehr einander angenähert als es bei den Naturvölkern der Fall ist. Somit lassen sich Anhaltspunkte ebensowohl dafür erbringen, daß das Resultat der historischen Menschheitsentwicklung die Differenzierung nach den Extremen der Geschlechtlichkeit, wie daß dieses Resultat die Annäherung an einen gemeinsamen Menschheitstypus sei.

Wenn in der geistigen Bewegung der Gegenwart diese beiden Tendenzen stärker als je hervortreten, so ist der Grund vielleicht eine Gleichgewichtsstörung in dem Verhältnis der Geschlechter, die durch ein zeitweiliges Übergewicht der zentrifugalen Tendenz herbeigeführt wurde. Die Gefahr dieser Gleichgewichtsstörung besteht in der Hypertrophierung der Intellektualität auf der einen Seite und in der Hypertrophierung des Gemütslebens auf der anderen, vermöge welcher der Gegensatz der Geschlechter bis zu einem unnatürlichen Grade gesteigert, das heißt, die Anziehung der Geschlechter durch einen allzugroßen Abstand, durch Aufhebung der unerläßlichsten Gemeinsamkeit erschwert oder vereitelt wird.

 

Versucht man, die Individualitäten nach ihrer psychosexuellen Beschaffenheit und nach dem Verhältnis zu bezeichnen, in welchem jene entgegengesetzten Grundtriebe bei ihnen zur Erscheinung kommen, so ergeben sich drei Typen, zugleich die Träger dreier verschiedener Ideale, die der Mensch sich über seine Stellung zur geschlechtlichen Differenzierung schafft.

Der häufigste und allgemeinste Typus, derjenige, welcher der Physiognomie der Mehrzahl ihre Signatur verleiht, ist der akratische Mensch, das ungemischte, einseitig entwickelte Geschlechtswesen, dessen ganze Persönlichkeit durch die teleologischen Geschlechtseigenschaften bestimmt wird. Alle die sattsam bekannten Aussagen über das, was der »ganze Mann« und das »echte Weib« sein soll, gehen von den akratischen Menschen aus; in diesen vorbildlichen Typen, die nichts anderes bedeuten als den männlichsten Mann und das weiblichste Weib, findet die zentrifugale Geschlechtlichkeit ihren stärksten Ausdruck. An den Extremen wird die akratische Wesensart zur gewalttätigen, sinnlich-unbändigen, herrischen Männlichkeit und zur schwachen, nichtigen, passiven, oder auch listigen, buhlerischen, verlogenen Weiblichkeit – Formen der Geschlechtsdifferenzierung, die einander bedingen und einander ebenbürtig sind.

Wie der akratische Mensch völlig der alltäglichen Realität des Lebens angehört, so ist der höchste Typus der zentripetalen Geschlechtlichkeit, der iliastrische Mensch, ganz und gar Bürger einer anderen Welt, allem Irdischen entfremdet, ein Überwinder des Geschlechtes und durch diese Überwindung mit höheren, mit »übersinnlichen« Kräften ausgerüstet. Als vollendetster Repräsentant des iliastrischen Menschentumes innerhalb der abendländischen Kultur erscheint der christliche Heilige, aus dessen geistig-sittlicher Erscheinung die geschlechtliche Differenzierung völlig ausgelöscht ist.

Das Hinaussein über das Geschlecht hat während des größten Teiles der menschlichen Geistesgeschichte als unerläßlich zur Erreichung eines höheren Daseinszustandes gegolten: in dem priesterlichen Lebensideal schon der antiken Kultur, in der indischen Yogalehre, in dem Ideenkreis, aus dem die Gralsritterschaft ihren Ursprung genommen hat; und besonders ist es das Christentum und der Buddhismus, die von dem Gedanken des iliastrischen, des ungeschlechtlichen Menschentumes als der Vorstufe des Himmelreiches oder des Nirvana ausgehen – jener Welt, die im Gegensatze zu der Welt der Zeugung, in der die zentrifugale Kraft der Bewegung als ein ewiger Kampf wütet, eine Welt des Friedens, der in sich ruhenden Vollendung sein soll.

Welche Bedeutung man diesem äußersten Ausdruck der zentripetalen Tendenz beilegen will, hängt in letzter Linie von religiösen Gefühlen oder zum mindesten von der Weltanschauung ab, zu der man sich bekennt. Es mag dahingestellt bleiben, ob die Sehnsucht nach einer anderen, vollendeteren Lebensform, als es die an die Geschlechtlichkeit gebundene sein kann, die Sehnsucht nach der allumfassenden Einheit, nach dem Insichruhenden, bloß das Symptom einer Willenserkrankung ist, oder die Offenbarung eines höheren, über die vulgäre Empfindungswelt hinausführenden Prinzips. Wo aber diese Sehnsucht in Gestalt einer lebensfeindlichen Askese auftritt, einer Verneinung des Lebens, deren erstes Gebot die »Ertötung des Fleisches«, und vornehmlich des Geschlechtes ist, muß sie einer Weltanschauung verwerflich erscheinen, die den Sinn des Lebens in das Diesseits verlegt und die Spekulation über die Möglichkeit einer jenseitigen Welt ausschließt. Denn alles, was seine Wurzeln nur in Bedingungen hat, die mit dem diesseitigen Leben unvereinbar sind, verliert unter den Perspektiven dieser Weltanschauung seine Rechtfertigung.

Und so kann auch diese Weltanschauung den höheren Menschen nicht mehr ganz über das Geschlecht hinausführen, weil er nicht mehr die Vorstufe für eine metaphysische, von der Geschlechtlichkeit entbundene Existenz darstellen soll, sondern nur die Vollendung dessen, was der Menschheit als einer der Erde mit Leib und Seele angehörigen Lebensform erreichbar ist. Der Repräsentant eines höheren Menschentums im monistischen Sinne wird jener sein, mit dessen psychophysischer Konstitution die Möglichkeit gegeben ist, die Schranken des Geschlechtes zu überschreiten, und eine Steigerung und Erhöhung des innerlichen Verhältnisses zwischen den Geschlechtern herbeizuführen – der Mensch der Gemeinsamkeit, der »den Bedingungen des Männlichen und des Weiblichen unterworfene Mensch«, der synthetische.

Nicht die extreme, sondern eine temperierte Geschlechtlichkeit ist die günstigste Bedingung für die harmonische Entwicklung der Persönlichkeit. Temperierung – das heißt das in der einzelnen Persönlichkeit selbst hergestellte Gleichgewicht der beiden entgegengesetzten Entwicklungstendenzen, der zentrifugalen, die aus jedem Individuum ein geschlechtlich differenziertes Wesen macht, und der zentripetalen, die in ihm die gemeinsamen Züge der Gattung festhält. Alle Kultureinflüsse, welche die beiden Geschlechter einander nähern und einen Austausch zwischen ihnen ermöglichen, fördern diese Temperierung; sie begünstigen die synthetische Wesensart und das Lebensideal, das aus ihr entspringt.

Der Maßstab seines Wertes als psychosexuelle Individualität, den jeder in sich selbst trägt, ist freilich, soweit sein persönliches Schicksal dabei in Betracht kommt, ein ganz relativer. Denn nur in Beziehung zu einem ihm adäquaten Individuum des anderen Geschlechtes kann die Wesensart des Einzelnen nach dieser Richtung bewertet werden. Bei dem persönlichen Verhältnis, wie es sich aus der Beschaffenheit der beiden Beteiligten mit innerer Notwendigkeit gestaltet, hat das Plus oder Minus an Männlichkeit oder Weiblichkeit viel weniger in Ansehung des Glückes zu sagen, das aus dieser Verbindung hervorgeht, als die Äquivalente, welche die beiden einander zu bieten vermögen. Nicht nach dem Gehalt an Männlichkeit oder Weiblichkeit sollte man daher das einzelne Individuum bewerten, sondern nach den Äquivalenten, die es in seiner Wesensart besitzt.

Auch das Geschlechtsverhältnis der akratischen Menschen untereinander kann subjektiv von hohen Glücksgefühlen begleitet sein. Der Mann, der die Äquivalente seiner herrischen Geschlechtsnatur besitzt, wird dem unterordnungsbedürftigen und unselbständigen Weibe, das auf ihn verwiesen ist, soviel Glück gewähren, als die individuelle Beschaffenheit solcher Menschen überhaupt zuläßt, wenn er kraft seines Herrentums vermag, der Beschützer, der Erhalter und Verteidiger zu sein. Nicht die Einseitigkeit der Geschlechtsdifferenzierung an sich bildet in erster Linie die Quelle von Glück oder Unglück für das Individuum; was Unglück bringt, ist der Mangel der Äquivalente, an dem die dyskratischen Naturen leiden, jene, in welchen sich die Synthese nur unvollständig vollzogen hat, so daß sie zum Teil die Tendenzen der akratischen Wesenheit, zum Teil die der synthetischen haben. Eine Frau, die für das Leben der freien Persönlichkeit geschaffen ist, während sie durch ihre erotische Disposition zur Unterordnung und Unfreiheit getrieben wird, sobald sie liebt, oder ein Mann, der als sexueller Machthaber gegenüber dem Weibe auftreten muß, ohne doch über die persönliche Kraftfülle zu verfügen, die auch außerhalb der sexuellen Sphäre Macht verleiht – sie werden eben durch die Dyskrasie ihrer Wesensbeschaffenheit unfähig, sich in ein harmonisches Verhältnis zu Individuen des anderen Geschlechtes zu setzen, in einer sexuellen Verbindung das Gleichgewicht zu finden.

Losgelöst von der Eigenart lassen sich die Vorstellungen über Glück nicht bewerten aber objektiv betrachtet, gehört die Bereicherung und Erweiterung des individuellen Lebens, die aus dem Verschmelzungsprozeß zwischen zwei Menschen verschiedenen Geschlechtes hervorgeht, zu den wertvollsten Gütern. Und der synthetische Mensch ist in diesem Punkte dem akratischen ungefähr so überlegen wie der sehende dem blinden, wenn auch dieser subjektiv den Mangel dessen, was jener vor ihm voraus hat, nicht empfinden und unter Umständen sogar ein zufriedeneres Leben führen mag.

Das Glück der Liebesgemeinschaft, wie die synthetischen Menschen es verstehen, ist ein ganz anderes als das der akratischen. Man horche nur einmal hin, was die Männlichsten und die Weiblichsten voneinander halten, oder was sie sich unter der Liebe vorstellen! Sie sind es nicht, die eine völlige Übereinstimmung, eine Hingebung ohne Schranken, ein gegenseitiges unbedingtes Vertrauen, kurz jenes Verhältnis erstreben, das in der abendländischen Geisteskultur den Rang eines hohen sittlichen Ideales gewonnen hat. Der Typus des Geschlechtsverhältnisses, den zum Beispiel Carpenter in seinem Buche Love's Coming of age, das ganz von dem Geiste des synthetischen Menschentumes erfüllt ist, als den vorbildlichen zeichnet, ist mit der Empfindungsweise des akratischen Menschen nicht vereinbar.

Was die Auszeichnung der synthetischen Menschen bildet, ist das Hinaussehen über die Schranken des Geschlechtes, die Fähigkeit, das Bindende, das die Geschlechtlichkeit mit sich bringt, abzustreifen, um in der Idee des Menschlichen das Gebiet der Gemeinsamkeit zu erreichen. Je größer dieses Gebiet, desto leichter wird der Verschmelzungsprozeß sich vollziehen, desto umfassender, desto vollendeter wird er sein. Da für die synthetischen Menschen das Geschlecht nicht eine völlige Wesensscheidung bedeutet, sondern nur eine andere Form des Seins, vermögen sie es, alles, was dem Wesen angehört, jenseits des Geschlechtes als ein Gemeinsames in sich zu erleben. Damit erheben sie sich zu einer Universalität des Empfindens, die den akratischen Menschen versagt bleibt. Aus ihrer Natur selbst entspringt ein Element der Freiheit; und so geschieht es, daß Individuen von keineswegs überragenden Geistesgaben frei und verständnisvoll über das andere Geschlecht denken, indes die freiesten Geister, wenn sie keine synthetischen Naturen sind, mit ihrer Erkenntnis die Grenzen ihrer Sexualität nicht zu durchbrechen vermögen.

Jene Wesensart, welche das äußerste Extrem der Geschlechtsdifferenzierung darstellt und für den Mann in jeder Lebensäußerung absolute Aktivität, für das Weib absolute Passivität bedeutet – abgesehen davon, daß sie eine bloße Konstruktion und in Wirklichkeit kaum anzutreffen ist – würde ihre Träger von jedem Verständnis für das andere Geschlecht ausschließen und bei der sexuellen Verbindung eine seelische Gemeinschaft unmöglich machen. Man kann schlechtweg behaupten: ein Mann versteht nur soviel vom Weibe, als er selbst vom Weibe in sich hat, wie umgekehrt eine Frau nur soviel vom Manne versteht, als sie selbst vom Manne in sich hat. Damit sind hier, wie immer im esoterischen Sinn, unter Mann und Weib Symbole für Kräfte gemeint, die in dem Seelenleben der realen Geschlechtsindividuen stärker oder schwächer auftreten: nach physiologischen Analogien die weibliche Kraft als die empfangende und negative, die männliche als die schöpferische und positive.

Nur für die akratischen Naturen bedeutet Geschlechtlichkeit zugleich Einseitigkeit des Wesens; die synthetischen werden gerade die Geschlechtlichkeit als den Zustand empfinden, welcher ihnen ermöglicht, über sich hinauszuschreiten, ihr begrenztes individuelles Sein über ein, anderen physischen Bedingungen unterworfenes Leben auszudehnen. Ihnen erscheinen die Wesen des anderen Geschlechtes nicht als etwas Fremdes und Unerkennbares, sondern als etwas Verwandtes, Nahes, ursprünglich zu ihnen Gehöriges, als das Komplement ihres besonderen, individuellen Wesens, das ihnen von außen entgegenkommt.

Zwar auch der akratische Mensch sucht in den Individuen des anderen Geschlechtes das Komplementäre seines eigenen Wesens; da jedoch bei ihm die Gebiete der Gemeinsamkeit fehlen oder doch beschränkt sind, kann er das Ergänzende nur im Gegensätzlichen finden. Die Annahme, daß die stärksten Gegensätze die stärkste Anziehung aufeinander ausüben, entstammt einer unzulänglichen Beobachtung und trifft nur bei den akratischen Individuen zu. Bei den synthetischen bildet die erotische Anziehung eine viel kompliziertere, schwerer zu analysierende Erscheinung – wie denn die akratische Wesensart als die unzusammengesetzte auch die primitivere und einfachere ist. Nicht das Ausmaß des Gegensatzes, sondern die individuellen Bedingungen der Ergänzung, die Gegenseitigkeit in der Beschaffenheit der Eigenart, sind hier das Entscheidende. Auf eine synthetische Frau wird ein akratischer Mann keine persönliche Anziehung ausüben, obwohl bei ihm der psychische Geschlechtsgegensatz unvergleichlich stärker ausgeprägt ist, als bei dem synthetischen Mann, der allein vermag, ihr tiefstes Empfinden auszulösen – ganz so wie es umgekehrt dem synthetischen Mann gegenüber der akratischen Frau ergeht.

Man kann die individuelle Geschlechtsdifferenzierung als das Resultat eines Bewegungsvorganges auffassen, der sich ungefähr durch das Bild einer Pendelbewegung anschaulich machen läßt. Das einheitliche Prinzip, welches dem Wesen der menschlichen Gattung zugrunde liegt, wäre als das sich Bewegende zu denken, und die gegenseitige Anziehung, die durch die individuelle Geschlechtsdifferenzierung bedingt wird, als Ausdruck der dabei wirkenden Kräfte. Zwischen zwei äußersten Punkten, die symmetrisch zu einer mittleren Linie liegen, bewegt sich das schwingende Pendel hin und her; in der Bahn, die es bei seiner Bewegung durchläuft, entspricht jedem Punkte auf der einen Seite ein von der Mittellinie gleich weit entfernter Punkt auf der anderen Seite. Die größte Entfernung voneinander haben die äußersten Punkte des Ausschlages, während gegen die Mitte zu die Distanz der korrekten Punkte immer geringer wird. Die auffälligsten Stellen der Pendelbewegung sind also die Punkte des äußersten Ausschlages, welche die größten Kontraste sowie das Maß der fixierten Bahn bezeichnen, und die Mitte, die den Stillstand markiert. Dazwischen liegen auf beiden Seiten unzählige Punkte, die miteinander im Sinne des Gleichgewichtes korrespondieren. Wie diese symmetrisch angeordneten Punkte der Pendelbahn einander entsprechen, so werden, wenn man sich die eine Hälfte des Ausschlages als das Gebiet der männlichen Geschlechtsdifferenzierung, die andere als das der weiblichen denkt, die einzelnen Geschlechtsindividualitäten einander entsprechen, was seinen Ausdruck in der Anziehung findet, die sie aufeinander ausüben.

Das iliastrische Menschentum repräsentiert den mittleren Ruhepunkt, das akratische in seiner absoluten Gestalt die Endpunkte des Ausschlages. Die Punkte zwischen der Mitte und den Endpunkten lassen sich nach dem Grade ihrer Entfernung von der Mitte auf jeder Seite in innere und äußere scheiden. Je näher der Mitte, desto größer die Verwandtschaft, je ferner von ihr, desto größer der Gegensatz der Geschlechter. Die äußeren, den Endpunkten zugewendeten Gruppen gehören noch in das Gebiet des akratischen Menschentumes, die inneren, der Mitte zugewendeten, umfassen das synthetische.

An diesem Schema zeigt sich auch, warum unter der Oberfläche der Erscheinungen ein großer Abstand nicht nur die Extreme der Geschlechter trennt: die der Mitte zunächst stehenden Gruppen sind von den an die Endpunkte gerückten ihres eigenen Geschlechtes so weit entfernt, daß die Gleichheit der Physis kein Band der Gemeinschaft und des Verständnisses zwischen ihnen herstellt.

Was unverständlich und widerspruchsvoll an dem Wesen der Geschlechtstrennung und ihrem Verhältnis zur individuellen Differenzierung bleibt, solange man die Bezeichnungen »Mann« und »Weib« als absolute Grenzbestimmungen auffaßt, wird klar und geordnet, sobald man eine Anschauung der Mannigfaltigkeit in den psychosexuellen Erscheinungen und ihrer Beziehungen zueinander gewonnen hat.

Wer die Geschlechtsdifferenzierung als ein sekundäres Phänomen betrachtet und die typischen Geschlechtseigentümlichkeiten der menschlichen Psyche nur als die teleologische Wirkung des sexuellen Verhältnisses der Geschlechter zueinander – eine Wirkung, die je nach der Eigenart des Individuums einen breiteren oder geringeren Raum in seiner seelischen Konstitution einnimmt – muß die Vorstellung zahlloser Übergänge zwischen den Geschlechtern auf psychischem Gebiet als die einzige Möglichkeit annehmen, der Individualität und ihrer Bedeutung in der menschlichen Gesellschaft gerecht zu werden.

Die Gradualität, welche hier gemeint ist, hat nicht (wie bei Weininger) in der Weise eine Annäherung des Männlichen an das Weibliche, des Weiblichen an das Männliche zur Voraussetzung, daß der Mann durch sie weniger Mann, das Weib weniger Weib wird. Nicht der weibische Mann und nicht das Mannweib, die beide nur Degenerationserscheinungen innerhalb der zentrifugalen Geschlechtlichkeit darstellen, sind darunter zu verstehen; denn der weibische Mann ist in seiner Männlichkeit dadurch herabgesetzt, daß es weibliche Eigenschaften im schlechten Sinne sind, die sein Wesen charakterisieren, die Eigenschaften, die als Nachteile der weiblichen Geschlechtsnatur oder der sozialen Stellung des weiblichen Geschlechtes beobachtet werden und als »weibische« auch an weiblichen Personen eine Minderwertigkeit bezeichnen. Der synthetische Mensch aber wird in seiner Geschlechtsqualität durch seine Wesensart nicht vermindert; er verliert nichts, er nimmt hinzu. Über das Geschlecht hinaus führt ihn die Annäherung an ein Gemeinsames, an das, was weder männlich noch weiblich ist – an das Reinmenschliche.

Das höhere Leben, das Leben in den Regionen der Geistigkeit, setzt voraus, daß die Persönlichkeit Eigenschaften besitze, die den Bannkreis des primitiven Lebens überschreiten. Diese Eigenschaften sind geschlechtlich nicht differenziert – aus dem einfachen Grunde, weil sie entwicklungsgeschichtlich nicht im Dienste des Geschlechtes erworben worden, nicht aus den Zwecken des Geschlechtes hervorgegangen sind. Vielmehr ist ihr Ursprung in einem religiösen Ringen zu suchen, dessen höchstes Ziel die Überwindung der Geschlechtlichkeit war.

Die asketische Verneinung des Geschlechtes steht in innigem Zusammenhang mit dem metaphysischen Bedürfnis, das eine so hohe Bedeutung in der menschlichen Geistesgeschichte besitzt. Um dieses Zusammenhanges willen ist auch das metaphysische Bedürfnis als Symptom für die Abschwächung und Verarmung des elementaren Lebenstriebes erklärt worden. Sollte aber nicht gerade dieser Zusammenhang ganz anders interpretiert werden können? Wenn als Korrelat aller Bewußtseinsäußerungen physiologische Vorgänge im Gehirn anzunehmen sind, dann muß die geistige Geschichte der Menschheit zugleich die Geschichte der wachsenden Selbständigkeit des Gehirnes sein. Jene für die dualistische Weltanschauung bezeichnende Auffassung, daß das Geschlecht dem Körper angehöre, dem vergänglichen und niedrigen Teile des Menschen, während sein höherer und unsterblicher Teil geschlechtslos ist und der Vollkommenheit desto näher, je mehr er sich von den Ansprüchen des Geschlechtes befreit hat,, deutet auf einen besonderen physiologischen Entwicklungsprozeß der menschlichen Organisation. Vielleicht äußert sich in der dualistischen Auffassung an sich nur der Dualismus der physiologischen Konstitution, durch welchen das Gehirn wie ein zweiter, relativ selbständiger Organismus in den äußeren Leib eingesetzt ist. Der seltsame Wahn, daß der Körper von einem höheren Wesen, einer unsterblichen und geschlechtslosen Seele, bewohnt sei, spiegelt als Bewußtseinsphänomen vielleicht einen physischen Prozeß, so wie sich im Traumleben, oft deutlich erkennbar, die jeweiligen Zustände des Organismus symbolisieren und phantastisch umgebildet ins Bewußtsein treten. Verhält es sich nicht ähnlich mit der Illusion des freien Willens, die so unvereinbar ist mit den Resultaten der Verstandeserkenntnis, und die dennoch bei vielen Individuen, besonders aber bei jenen, die ihre Geschlechtsimpulse in die Gewalt ihrer Willenskraft gebracht haben, die unbesiegbare Macht einer inneren Gewißheit besitzt –? Offenbart nicht die ganze Geschichte der menschlichen Sittlichkeit, in der die Überwindung und Beherrschung der Geschlechtlichkeit einen so hervorragenden Platz einnimmt, im Grunde nichts anderes als diesen Kampf des Gehirnes um seine Unabhängigkeit?

Aber ohne metaphorische Umschreibung: die Entwicklung einzelner Bewußtseinsherde zur Herrschaft über die andern, die Rangordnung unter ihnen, welche eine Unterwerfung der niedrigeren unter die Leitung der höheren bedeutet, ist eine Voraussetzung aller geistigen Kultur. Und sie repräsentiert eine unvergleichlich wertvolle Errungenschaft auch dort, wo sie zur Quelle innerer Konflikte und Widersprüche wird, die den Menschen der Geistigkeit mit seiner primitiven Natur entzweien.

Nicht in der Verwerflichkeit und Sündhaftigkeit der Sexualität, wie jene glaubten, die sich von ihrer Herrschaft zu befreien strebten, ist der tiefere Grund des Kampfes wider das Geschlecht zu suchen; der retrospektiven Betrachtung erscheint dieser Kampf als eine gewaltige evolutionistische Anstrengung der Menschheit, sich über die teleologische Geschlechtsbegrenzung hinaus Fähigkeiten höherer Geistigkeit zu schaffen. Und die Autonomie des Gehirnes, die in diesem langen und mühsamen Kampf errungen wurde, bleibt bestehen, wenn auch die Illusionen, die er erzeugte, geschwunden sind. Aus ihr werden andere Ideale auftauchen, die dem menschlichen Leben neue Perspektiven eröffnen, ihm Glanz und Wärme und jene festliche Kraft des Aufschwunges geben werden, von der die Geburt neuer Ideale immer begleitet ist.

Nicht mehr der Kampf gegen das Geschlecht an sich, die Verneinung der Ansprüche, welche die Gattung an das Individuum stellt, kann Aufgabe und Inhalt eines das Gewöhnliche überragenden Lebens sein. Die Versöhnung von Gattung und Persönlichkeit auf einer höheren Stufe des Empfindens tritt an die Stelle, die in dem sittlichen Ideal einer vergangenen Entwicklungsepoche der Menschheit die »Ertötung des Fleisches« eingenommen hat. Aber diese Versöhnung ist nur dann möglich, wenn das Geschlecht nach keiner Richtung mehr eine Fessel für die Persönlichkeit bedeutet, nicht in Gestalt eines unbeherrschten Triebes, und nicht in Gestalt von innen oder von außen her wirkender teleologischer Beschränkungen.

Für hochgestimmte Seelen ist nichts unerträglicher als die Vorstellung der Gebundenheit durch das Geschlecht. Ausgeschlossen zu sein durch das Geschlecht von irgend einer Möglichkeit der Entfaltung, von irgend einer Möglichkeit des Erkennens, die im Bereiche des menschlichen Wesens liegt, das kann in solchen Seelen nur Haß gegen das Geschlecht erzeugen. Sie sind es, die begierig nach jenen Lebenszuständen und Erfahrungen greifen, in denen das synthetische Empfinden gefördert und bestärkt wird; denn nicht auf den Eigenschaften, welche die typischen ihres Geschlechtes sind, ruht ihr Selbstgefühl, sondern auf jenen, die über das Geschlecht hinausführen.

Bewunderungswürdig, ja ehrfurchtgebietend an einer Individualität wirken gerade die Eigenschaften, welche die primitive Geschlechtsnatur aufheben, weil sie mit ihr in Widerspruch stehen. Daher ist das gefestigte und unerschütterliche Aufsichselbstberuhen, das mit Willensstärke, Unbeugsamkeit, Initiative einhergeht, an einer Frau noch höher zu schätzen als an einem Mann. Bei dem Manne bedeuten diese Eigenschaften nur eine Umsetzung der Geschlechtsteleologie in eine höhere Stufe des Seelenlebens, bei der Frau hingegen ein Überschreiten der durch die teleologische Beschaffenheit dem gewöhnlichen weiblichen Individuum gesetzten Grenze. Das ist der Gedanke, der dem Worte Grillparzers zugrunde liegt: »Das edle Weib ist halb ein Mann, ja ganz; nur ihre Fehler machen sie zu Weibern.«

Denn der große Vorsprung, den die Natur dem Manne gewährt hat, besteht darin, daß schon in seiner teleologischen Geschlechtsbeschaffenheit die Disposition zu jenen Eigenschaften liegt, welche die Entwicklung der freien Persönlichkeit begünstigen, indes bei dem Weibe erst die teleologische Beschaffenheit überwunden sein muß, wenn diese Eigenschaften sich entfalten sollen. Aber auch für den Mann ist das spezifisch Geschlechtliche eine Grenze, weil es ihn von dem Verständnis für die andere Hälfte der Menschheit ausschließt, weil es ihn beschränkt. Frei im höchsten Sinne – und mehr als es der »ganze Mann« je sein kann – wird nur jener Mann sein, der die synthetische Kraft besitzt, durch Assimilierung eine höhere, umfassendere Wesenseinheit aus sich zu machen. Diese Kraft, die dem akratischen Manne fehlt, da sie sich mit seiner teleologischen Geschlechtsnatur nicht verträgt, ist nichts anderes als die Fähigkeit der Hingebung. Hingebung – für dieses ewig einsame, in den Schranken seines Wesens wie in einer Isolierzelle gefangene Ich der einzige Weg, auf dem es hinausgehen kann in die Welt und Teil haben an dem Köstlichsten, das sie in sich birgt, an einer Seele!

 

Verfolgen wir die Linien der Vergangenheit, die in die Zukunft führen, so tritt uns in wahrnehmbaren Umrissen das Ideal einer Menschlichkeit entgegen, in der dem Geschlecht eine schönere und glücklichere Bedeutung eingeräumt ist, als es bisher besessen hat. Die sittliche Anstrengung der Persönlichkeit, die Bande des Geschlechtes zu brechen, welche einst in der asketischen Verneinung der auf die Zeugung gegründeten Welt gipfelte, nimmt mit diesem Ideale die Richtung nach einer Lebensform, in der die Möglichkeit liegt, die Bande des Geschlechtes ohne Verneinung zu überwinden.

Nur die synthetischen Menschen können die Schöpfer dieser Lebensform sein. Aber nicht die Männer allein. Ohne die Mitwirkung der Frau als ebenbürtiger Gefährtin ist die Gemeinsamkeit, auf der das Ideal einer höheren Menschlichkeit ruht, nicht zu verwirklichen; und der Einsatz, den das weibliche Geschlecht gemäß seiner historischen Entwicklungsbahn in die Kultur zu geben hat, bildet eine notwendige Ergänzung zur Leistung des männlichen. Es ist eine Auszeichnung des weiblichen Geschlechtes, daß es vornehmlich Frauen sind, die in der geistigen Kultur der Gegenwart das Ideal der Gemeinsamkeit vertreten; und damit ist auch die Bürgschaft gegeben, daß Frauen dazu beitragen werden, es zu verwirklichen.

Dieses Ideal ist kein neues, keine Erfindung, die erst von kommenden Generationen ausgehen soll; aber jede Generation muß es von neuem erwerben – nicht als ein gleichmachendes, zwingendes Regulativ einer bestimmten Art des Seins, sondern als die lebendige Form der Freiheit für die Individualität, die aus dem Schöße der Natur ewig neu emporwächst, eine unerschöpfliche Quelle neuer Entwicklungsmöglichkeiten und neuer Daseinsgestalten.

Glücklich, wer in seiner Individualität das Instrument besitzt, auf dem die Welt mit ihrem ganzen Reichtum spielen kann! Ihm wird auch die Geschlechtlichkeit ein Mittel sein, das Innerste des Lebens zu fassen, sein schmerzlichstes Leiden und seine berauschendste Seligkeit, seinen furchtbarsten Abgrund und seinen strahlendsten Gipfel.


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