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Niemals noch ist die herrschende Vorstellung vom Weibe, das »Ideal« des Weibes, so sehr versimpelt gewesen wie im 19. Jahrhundert. Um den vollen Umfang dieser Versimpelung zu begreifen, muß man das Bild der Weiblichkeit in jener Literatur suchen, die eigens für die Frauen geschrieben wird. Denn das ist die fragwürdige Auszeichnung unserer Zeit vor anderen Kulturepochen: es gibt eine Literatur eigens für Frauen.
In der antiken Kultur existierte das weibliche Geschlecht als literarisches Publikum bis zur römischen Verfallzeit überhaupt nicht; das Theater war den Frauen unzugänglich, und der geringe Grad ihrer Bildung, ihre Unkenntnis des Lesens, ihre auf das Haus beschränkte Lebensweise verschloß ihnen auch den Zugang zur geschriebenen oder rezitierten Dichtkunst. Dennoch überliefert die antike Literatur ein reich individualisiertes Bild des Weibes, besonders in den Gestalten weiblicher Gottheiten.
Im Mittelalter hingegen waren gerade die Frauen, neben den Geistlichen die Trägerinnen der hohen Bildung und über die Geistlichen hinaus die Trägerinnen der schönen Sitte und edlen Geselligkeit, fast ausschließlich das Publikum der weltlichen Dichtkunst; und alles, was auf diesem Gebiete hervorgebracht wurde, war für sie bestimmt, ohne daß sie einen hemmenden oder beschränkenden Einfluß auf Stoff und Darstellung ausübten. Auch aus dieser Literatur tritt uns das Weib in einer Fülle von Individualitäten entgegen, unter denen es nicht an solchen fehlt, die wie Kriemhilde oder Isolde oder die Frauen des französischen Karlsepos sich weit von dem entfernen, was man heute als »Musterbild edler Weiblichkeit« zu betrachten gewohnt ist.
Dieses Musterbild und die literarischen Vorkehrungen zu seinem Schutze sind erst eine Schöpfung der Gegenwart. Zwar beklagt sich schon Goethe bei Eckermann über den Einfluß, den die Anwesenheit der jungen Mädchen im Theater auf die Bühne ausübe; aber seither ist dieser Einfluß ungemessen ins Breite gewachsen.
Denn nunmehr scheidet sich die Literatur in zwei getrennte Gebiete. Das eine ist das Gebiet des freien persönlichen Schaffens, wo die Individualität des Autors, seine eigene Welt- und Lebenskenntnis herrscht. Aber der weitaus überwiegende Teil dessen, was Jahr für Jahr geschrieben und gedruckt wird, gehört nicht dahin. Jene Verbreitung in Hunderttausenden von Exemplaren, die der literarischen Arbeit erst eine Wirkung ins Große ebenso wie einen nennenswerten, materiellen Ertrag gewährt – und das gilt leider ganz besonders von der deutschen Literatur – ist ein Privilegium des anderen Gebietes, der sogenannten Familienliteratur.
Der Name »Familienliteratur« bedeutet keinen Ehrentitel, wie jedermann weiß. Nicht die künstlerische Qualität des Werkes kommt hier in Betracht, kein künstlerischer Gesichtspunkt ist hier maßgebend. Nicht die Redlichkeit der Beobachtung, nicht die schöpferische Erfindung, nicht die neuen Probleme, die den Weg der literarischen Entwicklung bezeichnen. Gleichviel, ob es sich um Arbeiten belletristischen oder wissenschaftlichen Inhaltes handelt, ob es Romane oder Gedichte, Abhandlungen oder Anekdoten sind – was die Zensur des Familienblattes passieren will, muß nach einer bestimmten Schablone verfertigt sein, muß eine bestimmte Moral zur Grundlage haben, muß in einem bestimmten konventionellen Verhältnis zur Realität stehen. Vor allem natürlich ist es die belletristische Produktion, für die dieses System verhängnisvoll wird; denn sie hat in erster Linie die geistige Verproviantierung des Familientisches zu besorgen. Die Welt, wie sie hier dargestellt werden muß, ist von einer chinesischen Mauer eingeschlossen, innerhalb welcher die Vorgänge sich nach feststehenden Regeln abspielen; sie ist eine Puppenbühne, auf der eine Anzahl stereotyper Figuren und Gedanken in ewig wiederholten Variationen die fable convenue aufführen, die für den Familientisch das menschliche Leben und Treiben repräsentiert.
Mit rückhaltsloser Offenheit hat Arthur Zapp in einem höchst bezeichnenden Artikel »Schriftstellerleiden« – erschienen am 12. November 1898 in der »Zukunft« – den Terrorismus beleuchtet, der hier geübt wird. Er beschreibt den Leidensweg, den er vom selbständigen Schaffen nach eigenen Impulsen und eigener Beobachtung zum Fabrikanten von Familienblattromanen zurücklegte, und teilt schließlich die lehrreichsten Stellen aus einigen ihm zugegangenen Offertbriefen vielgelesener Familienblätter mit. In einem solchen Briefe heißt es: »Die in unserem Blatte zur Veröffentlichung gelangenden Beiträge dürfen weder eine politische noch eine religiöse Tendenz enthalten und müssen in erotischer Hinsicht so gehalten sein, daß sie auch vor jüngeren Mitgliedern im Familienkreise vorgelesen werden können. Auch darf weder eine Ehescheidung noch ein Selbstmord vorkommen. Die Handlung muß stetig an Spannung zunehmen und in jedem Kapitel muß irgend eine Wendung in der Fabel, ein neues Ereignis oder dergleichen eintreten. Der Ausgang muß ein glücklicher, einen angenehmen Eindruck hinterlassender sein.« In wunderbarer Übereinstimmung schreibt die Redaktion eines in weit über hunderttausend Exemplaren verbreiteten Blattes: »Unser Unternehmen ist für den Familienkreis bestimmt, so daß wir in erster Linie auf strenge Dezenz Gewicht legen müssen und auf absolutes Vermeiden alles politisch und konfessionell Anstößigen. Auch soll auf eine äußerlich ereignisreiche, immer in Spannung erhaltende Handlung und knappe Darstellung Bedacht genommen und ermüdende Schilderungen sowie Reflexionen vermieden werden. Unerläßlich ist auch ein befriedigender Schluß der Erzählung...« Und sobald sich der Autor verleiten ließ, von dieser Schablone – dem »Familienblatt-Romanleisten«, wie er selbst sie nennt – im geringsten abzuweichen, sobald er eine Milieuschilderung, eine psychologische Vertiefung der Charaktere oder gar einen satyrischen Ausfall auf Schwächen des modernen gesellschaftlichen Lebens versuchte, wurde die Arbeit unfehlbar zurückgewiesen.
Sehen wir uns den Frauentypus an, der in dieser Literatur waltet, so tritt uns eine eben so willkürlich zugestutzte, nach dem Rezept ausgestopfte Puppe entgegen. Das Weib, wie es sein soll, und das Weib, wie es nicht sein soll, sie tragen beide deutlich den Stempel ihrer Bestimmung und haben ihre Grenze in dieser Bestimmung.
Denn die Familienliteratur hat eine besondere Mission zu erfüllen, die sich mit der künstlerischen Darstellung der Wirklichkeit nicht vereinen läßt. Wer ist denn eigentlich unter jenen so maßgebenden »jüngeren Familienmitgliedern« zu verstehen? Der heranwachsende Sohn kaum. Nicht ihm gilt all die Zurückhaltung in konfessionellen, politischen, erotischen Dingen; nicht für ihn ist die romantische Handlung, der angenehme Ausgang, die ganze sentimentale Schönfärberei erfunden und zubereitet. Wozu auch? Da er doch an der Schule frühestens Gelegenheit hat, alle Unebenheiten der wirklichen Zustände in Theorie und Praxis kennen zu lernen. Man braucht bloß einen Band eines beliebigen Familienjournals zu durchblättern, um zu sehen, wer hier die Hauptrolle spielt. Niemals findet man den achtzehnjährigen Jüngling als Helden und Mittelpunkt; seine Leiden und Freuden existieren nicht für die Familienliteratur, und wenn er einmal auftritt, gibt er höchstens eine Art komischer Figur ab. Nein, hinter dem Familienpopanz, der da so despotisch regiert, steht niemand anderes als das junge Mädchen. Das junge Mädchen ist es, um dessen geistige Unberührtheit an dem Familientisch ewig gezittert wird; und für die achtzehnjährige Mädchenintelligenz muß alles zugeschnitten sein, was auf den Familientisch kommt. Für die achtzehnjährige – denn mit diesem Alter wird ja die intellektuelle Ausbildung bei den wohlerzogenen Mädchen der bürgerlichen Gesellschaft als abgeschlossen betrachtet.
Das nächste Jahrzehnt, das für den jungen Mann einen so ungeheuren Schritt zur Reife, zur Selbständigkeit des Denkens und Urteilens bedeutet, bleibt für das Mädchen, sofern es nicht während dieser Zeit heiratet, fast gänzlich unfruchtbar. Mit dem Augenblick, als das junge Mädchen in die Gesellschaft eingeführt wird, gilt es als erwachsen, als fertig; das Mädchen von achtundzwanzig Jahren hat vor dem Mädchen von achtzehn offiziell nicht das Geringste voraus. Im Gegenteil: das Streben der älteren Mädchen muß notwendigerweise darauf gerichtet sein, sich in ihrem ganzen Auftreten von dem körperlichen und geistigen Habitus des achtzehnten Jahres möglichst wenig zu entfernen.
Solange die Hauptaufgabe der weiblichen Erziehung darin besteht, das Mädchen in einem unfertigen Entwicklungszustand für den künftigen Gatten aufzubewahren, wird dieser Stillstand ein notwendiger Fehler des Prinzips sein – ein Fehler jedoch, der natürlich weit über das ledige Alter hinausreicht, und dessen Konsequenzen für das ganze Leben fühlbar sind. Mit der Ehe treten neue Pflichten, neue Beschäftigungen in das Leben des Weibes ein; die Muße, die den Mädchen des wohlhabenden Bürgertums so reichlich zugemessen ist, ebenso wie die Gelegenheit zu lernen, vermindert sich beträchtlich. So kommt es, daß die korrekten und gutgearteten unter den Durchschnittsfrauen zeitlebens ungefähr auf der geistigen Stufe ihrer Mädchenjahre stehen bleiben. Ihr Geschmack und ihr Gesichtskreis in literarischen Dingen verändert sich namentlich dann nur unerheblich, wenn die Stellung und Bildung des Mannes nicht dazu angetan ist, einen Einfluß im Sinne geistiger Entwicklung auf sie auszuüben.
Nun stellt aber gerade das weibliche Geschlecht die empfänglichsten, die eifrigsten, die zahlreichsten Leser. Das beweist die Prosperität aller Familienblätter, mit deren Verbreitung auch die besten freien Zeitschriften nicht annähernd in Konkurrenz treten können. Familienliteratur heißt mit einem anderen Worte Frauenlektüre. Als der große Däne Jacobsen seinen ersten Roman veröffentlichte, schrieb er an Eduard Brandes: »Es könnte ja sein, daß die Wächter des Volkes vorher schon das Buch in Bann erklärten und sagten, daß man es jungen Mädchen nicht in die Hand geben kann; und dann ist es jetzt und in der nächsten Ewigkeit verloren.«
Den hauptsächlichen Inhalt der Familienliteratur bildet, wie sich das bei einem weiblichen Publikum von selbst versteht, das Verhältnis zwischen Mann und Weib. Aber nicht etwa die Ehe, dieses schwierige und komplizierte, konfliktreiche und für das Frauenleben so entscheidende Verhältnis, ist das Thema, nur das Lieben und Verloben. Immer wird ein liebendes Paar durch eine »spannende Verwicklung« über die mannigfachsten Hindernisse hinweg zum »glücklichen Ausgang« der Ehe geführt. Sobald die Sache so weit gediehen ist, entläßt der Autor sein Publikum mit der beruhigenden Gewißheit, daß der Hochzeitstag die Krone des Lebens und der fröhliche Schluß aller Kümmernisse und Enttäuschungen sei. Nur wenn er es besonders gründlich macht, läßt er zum Schluß noch einmal für einen Augenblick den Vorhang aufgehen und zeigt uns die junge Frau, in Wonne und Seligkeit schwimmend, mit einem sechs Wochen alten Sprößling auf dem Schoß.
»Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung der vornehmen Frauen«, sagt Nietzsche; »alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend als möglich zu erziehen...« Das Erstaunlichste in diesem System ist aber, daß gleichzeitig die weibliche Phantasie beständig mit erotischen Dingen beschäftigt wird; das Ungeheuerlichste, daß diese erotischen Dinge obendrein in einer falschen und verlogenen Gestalt eigens für die weibliche Phantasie präpariert und so die bittersten Enttäuschungen und Wunden gerade für die gläubigen und arglosen Gemüter vorbereitet werden. Bei der Wichtigkeit, welche das Heiraten im Leben der bürgerlichen Mädchen besitzt, sollte ihnen die Erziehung wenigstens diejenigen Kenntnisse, diejenigen Fähigkeiten vermitteln, die zu einer vernünftigen Selbstbestimmung geeignet machen. Die Sitte ist hier auf einem Punkte angekommen, wo sie geradezu absurd wird. Sie schreibt den Mädchen eine Unwissenheit und Weltunkenntnis vor, die vielleicht eine wichtige Bedingung war, als noch die Eltern die Wahl des Gatten trafen und das Verhältnis zwischen den Eheleuten weniger eine persönliche als eine bloß soziale Grundlage hatte. Indessen aber hat im Bewußtsein der Kulturmenschheit die persönliche Zuneigung und Liebeswahl zwischen den künftigen Ehegatten den Wert einer sittlichen Voraussetzung gewonnen, und zwar in dem Maße, daß sogar die Heiraten fürstlicher Personen, die ihre Wahl notorisch nach Gründen der Staatsräson treffen müssen, öffentlich als Neigungsheiraten hingestellt werden. Völlige Lebensunkenntnis einerseits und persönliche Entscheidung zum Zweck einer Verbindung für Lebenszeit andererseits schließen jedoch einander aus. Es ist keine Übertreibung, wenn man der Familienliteratur ein gut Teil der Schuld an den mißglückten Ehen zuschreibt, obwohl ja Ehescheidungen in ihrem Gesichtskreis gar nicht vorkommen dürfen. Aber eine Literatur, die ihrem Wesen nach heuchlerisch und verlogen ist, die zu ihrem obersten Gesetz eine lebensfeindliche und lebensunfähige Prüderie macht, muß die Phantasie derjenigen, für welche sie die einzig gestattete geistige Nahrung bildet, irreführen und verderben. In der andauernden Beschäftigung mit »spannenden« Romanen, das heißt mit solchen, in denen der natürliche Gang des Lebens nach einem willkürlichen Verfahren zugunsten äußerlicher Effekte verrenkt wird, liegt an sich schon ein korrumpierender Einfluß auf das Verständnis wirklicher Vorgänge und Begebenheiten; vollends die romanhafte Behandlung des Liebeslebens nach der Familienblattschablone trägt nur dazu bei, jene überschwenglichen Erwartungen von den erotischen Dingen, die eine gefährliche Schwäche der mädchenhaften Weltanschauung sind, ins Ungemessene zu steigern.
Und nicht bloß die Belletristik der Familienliteratur ist voll von solchen schädlichen Elementen. Man findet unter den approbierten Familienbüchern, unter denen, die »mit gutem Gewissen jedem jungen Mädchen in die Hand gegeben werden können«, sehr häufig solche, die ganz geeignet sind, verhängnisvolle Täuschungen hervorzurufen. Ein Beispiel für unzählige – und eines sogar, das sich von der Dutzendware des Genres vorteilhaft durch die Persönlichkeit des Autors wie durch Schwung und Tiefe der Empfindung auszeichnet – ist das Buch »Die Frau« von J. Michelet (übersetzt von Friedrich Spielhagen). Michelet selbst sagt in der Vorrede, daß er nur die gerade Linie gezeichnet und Lücken gelassen habe, da er weder den Ehebruch noch die Prostitution darin behandle. Also ein Buch mit den Rücksichten, die der Familientisch fordert. Das Leben des Weibes wird hier mit all der schwärmerischen Übertriebenheit dargestellt, mit welcher es sich in der Phantasie leidenschaftlicher und zugleich vornehmer Männer spiegelt. Was steht da nicht alles! Da soll die moderne Erziehung der Knaben darauf hinauslaufen, einen »Arbeiter«, diejenige der Mädchen hingegen, eine »Religion« zu schaffen. »Die Frau ist eine Religion... Sie ist die Flamme der Liebe und die Flamme des Herdes... Mit einem Worte: Sie ist der Altar.« Sie ist der Inbegriff alles Zarten, Heiligen und Vollkommenen, ist allen gemeinen Notwendigkeiten des Lebens entrückt. Jeden Morgen und jeden Abend soll sie beten: »Mein Gott, mache mich sehr schön.« Der Mann hingegen ist ein »herkulischer Arbeiter«, der seine Männlichkeit von früher Jugend in allen Stürmen des Lebens abhärten soll. Für ihn ist nichts zu rauh und nichts zu schwer; er muß Schwielen an Körper und Seele haben. Denn so wollen ihn die Frauen; sie wollen »ein gutes Kissen, auf das sie vertrauensvoll ihr Haupt legen können ... Um diesen Preis kostet es ihnen nichts zu sagen: er ist mein Herr – und ihr Lächeln meint: dessen Herrin ich sein werde«. Diese, wie man sieht, »echt weibliche« junge Dame vermag alles; sie erreicht spielend und ahnungslos die unerhörtesten Wirkungen. »Sie ist es, die mit sechzehn Jahren durch ein edles Wort den Mann über sich selbst hinaushebt, so daß er spricht: Ich will groß sein.« Und nichts Geringeres fordert Michelet von dem Auserwählten seiner Heldin, als daß er sich »aus dem jungen Bürgerssohn, dem ganz gewöhnlichen Studenten, zu dem edlen, königlichen, heroischen Wesen« erhebe, von dem sie stets geträumt habe, und zwar nicht etwa für die Dauer des Brautstandes und der Flitterwochen, sondern für immer, »durch eine entschiedene und gänzliche Umwandlung«.
So sehen die Direktiven aus, die das wohlerzogene Mädchen von seinen geistigen Führern für das Leben empfängt. Wer könnte da noch über die törichte Illusion der Mädchenintelligenz lächeln, daß die Liebe jeden annehmbaren Heiratskandidaten in den erträumten Romanhelden und Märchenprinzen verwandeln müsse! Oder gibt es in der Tat außer siebzehnjährigen Mädchen jemanden, der im Ernste glaubt, daß der »ganz gewöhnliche Bürgerssohn« in der Ehe etwas anderes sein wird als ein ganz gewöhnlicher Bürgerssohn?
Aber warum diese Irreführung, diese absichtliche Verfälschung? Warum ist das junge Mädchen seiner »Unverdorbenheit« und seinem »poetischen Gemüt« solche heillose Mißverständnisse schuldig?
Wir werden nicht lange suchen müssen, wenn wir die Erklärung für diese scheinbar so wohlwollende, in Wahrheit so unverantwortliche Täuschung des jungen Mädchens finden wollen. Ein Typus soll gezüchtet werden; diesem Typus wird das einzelne Individuum unbedingt untergeordnet. Seine übrigen persönlichen Lebensinteressen dürfen nicht aufkommen, sie müssen sich einem höheren Zweck beugen. Das ist die Eignung für den Heiratsmarkt und die Tradition der schönen Weiblichkeit, die hier die besten Chancen gewährt. Zu den wirksamsten Suggestivmitteln, durch welche die traditionelle Weiblichkeit herangebildet wird, gehört aber die Familienliteratur.
Es geht allerdings die Sage, daß sehr viele unter den wohlgehüteten Mädchen sich nicht an die offiziellen Vorschriften halten, sondern heimlich ihrer Weltkenntnis durch verbotene Lektüre nachhelfen. Das mag sein, wie es will. Jedenfalls ist es für das einzelne Individuum nicht leicht, den eisernen Ring zu durchbrechen, den die Vorstellungen der Wohlerzogenheit um die weibliche Intellektualität schmieden, und niemand wird behaupten wollen, daß der erzieherische Einfluß einer solchen wahllos zusammengestoppelten Lektüre verbotener Bücher – selbst wenn sie zufällig keine schlechten wären – ein günstiger sein kann.
Und so wäre das junge Mädchen ein Hemmnis, ja eine Gefahr für das geistige Leben geworden, zum mindesten soweit die schöne Literatur in Betracht kommt. Aber wie? Sollte das junge Mädchen auch daran nicht eben so unschuldig sein wie an allen übrigen Zwangsmaßregeln der Wohlerzogenheit? Sind es nicht ganz andere Mächte, die das junge Mädchen so präpariert haben wollen, wie dies durch die Familienliteratur geschieht? Die den Typus des Weibes wünschen und voraussetzen, welcher auf diesem Wege gezüchtet wird?
Aber so unwichtig, so nichtssagend, wie es im Sinne dieser Mächte wäre, ist das weibliche Geschlecht als geistiger Faktor denn doch nicht. Wer den Kampf der Frauen um die männliche Bildung als eine bloße Liebhaberei Einzelner oder nur als interne Frage der Frauenbewegung betrachtet, übersieht den Zusammenhang, den jede Kulturbewegung mit dem ganzen Gebiete der Kultur besitzt. Er übersieht unter anderem die Bedeutung der Frauen als Konsumenten der literarischen Produktion. Die historische Entwicklung der Familienliteratur zeigt, daß in demselben Maße, als die Bildung des weiblichen Geschlechtes hinter der des männlichen zurückbleibt, jene Trennung in der Literatur platzgreift, die schließlich ein monströser Auswuchs im Geistesleben des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist. Und dieses Symptom einer tiefen organischen Störung wird erst dann zurückgehen, wenn seine Ursachen behoben sind.