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Das Problem der Geschlechtspsychologie, in deren Vordergrund die Weiblichkeit steht, bewegt sich der Hauptsache nach um die Frage: Ist das Weib als Persönlichkeit durch das Geschlecht an eine bestimmt umschriebene Geistigkeit gebunden, oder liegt in der weiblichen Psyche die gleiche Möglichkeit einer unbeschränkten Differenzierung nach Individualität wie in der männlichen?
Bei der theoretischen Untersuchung, wie weit der Geschlechtsunterschied in die Psyche des einzelnen Individuums hinübergreife, ist zunächst nicht viel mehr zu holen als die Erkenntnis, daß unter dem weiblichen wie unter dem männlichen Geschlecht eine große Variabilität besteht, daß also ein weiter Spielraum für die Individualität innerhalb der gegebenen physiologischen Grenzen von Mann und Weib übrig bleibt.
Resultate von entscheidender Bedeutung darf man um so weniger erwarten, als diese Untersuchungen sich auf einem Erkenntnisgebiete bewegen, auf dem die grundlegenden Begriffe noch unaufgeklärt und zweifelhaft sind. Die Psychologie ist in dem Kampfe zwischen spiritualistischen und materialistischen Anschauungen, zwischen der dualistischen und monistischen Weltbetrachtung, der das moderne Geistesleben charakterisiert, am schlimmsten weggekommen. Wo man keinerlei Gewißheit über das besitzt, was man überhaupt unter Seele, Geist, Vernunft, Gemüt, oder auch nur Bewußtsein schlechtweg, zu verstehen hat, wo über die Beziehung der seelischen Phänomene zum Körper die divergierendsten Ansichten herrschen – wie sollten dort irgendwelche zuverlässige Anhaltspunkte über die geschlechtliche Differenzierung der menschlichen Psyche gewonnen werden?
Am meisten hat aber die generalisierende Methode, deren man sich hier zu bedienen pflegt, Verwirrung gestiftet. Es heißt immer »das Weib« oder »der Mann«; und man operiert mit diesen Begriffen so, als ob man ein allgemeines »metaphysisches Realwesen«, das in jedem Mann und in jedem Weibe zur Erscheinung kommt, damit bestimmt hätte.
Und doch sind alle Generalurteile über Mann und Weib unverkennbar nach Erfahrungen gefällt, die sich nur auf eine kleinere oder größere Gruppe von Individuen beziehen, nach Erfahrungen, die vielfach durch den Zufall beschränkt, durch die subjektive Natur des Beobachters gefärbt, durch vorgefaßte Meinungen verdunkelt werden. Die Widersprüche, die solchergestalt über »das Weib« in die Welt gesetzt worden sind – »der Mann« ist aus verschiedenen Gründen viel mehr von Pauschalbestimmungen verschont geblieben – wirken besonders deshalb so drastisch, weil alle diese Aussagen durch die generalisierende Formulierung Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben. Wer in die Literatur über »das Weib« eingeht, empfängt aus diesen Widersprüchen den barocken Eindruck, daß die eine Hälfte der Menschheit, zum Gegenstand der Erkenntnis gemacht, etwas Unbekanntes, Dunkles, Rätselhaftes ist, daß Wesen, die in der vollen Realität des Lebens gegenwärtig sind, die kraft ihrer natürlichen Aufgaben den gleichen Platz wie der männliche Teil einnehmen, als Fabeltiere behandelt werden, über die man sich Ammenmärchen und Legenden erzählt.
Ja, so schwankend, so unbestimmt ist in Wahrheit der Begriff der Weiblichkeit, daß über die fundamentalsten Eigenschaften, die er bezeichnen soll, durchaus keine Übereinstimmung herrscht.
Eine kleine Blütenlese von Aussprüchen wird das am besten illustrieren. Jeder davon kann als Repräsentant einer Anschauung gelten, für die sich unschwer viele Belege beibringen ließen.
Da ist vor allem jene Anschauung, nach welcher Fügsamkeit und Unterordnungsbedürfnis zu den charakteristischsten Merkmalen der Weiblichkeit gehören, was Lombroso aus den »Ergebenheitsgefühlen« des Weibes gegenüber dem Manne erklärt, Ergebenheitsgefühle, »wie sie sich zwischen einem höher und einem tiefer stehenden Wesen immer entwickeln.« George Egerton aber, die behauptet, daß in den Augen des Weibes der Mann »ein komisches, großes Kind« sei, nennt »die alte, unersättliche Herrschsucht das Lebenselement des Weibes.«
Nach einer sehr verbreiteten Auffassung ist die Sanftmut eine so allgemeine Begleiterscheinung der Weiblichkeit, daß Virchow Sanftmut geradezu als »eine Dependenz des Eierstockes« bezeichnet; Havelock Ellis aber sagt: »Zornmütigkeit ist eine Form der Affizierbarkeit, die von jeher und wohl mit Recht, dem Weibe zugeschrieben wird.«
Nach einer nicht minder allgemeinen Annahme ist »das Weib« zur Stabilität geneigt und allen Neuerungen abhold. Möbius behauptet: »Die Weiber sind streng konservativ und hassen das Neue«, wie Lombroso: »Auch die Geschichte des öffentlichen Rechtes zeigt die eigentümliche konservative Tendenz des Weibes in ihrem Einfluß auf die soziale Ordnung«; Hippel aber hat gesagt: »Auf dem weiblichen Geschlecht ruht der Geist der Revolution«, und Heine: »Im Geiste der Frauen bleibt immer lebendig und in lebendiger Bewegung das Element der Freiheit.«
Bachhofen findet: »Das Weib trägt das Gesetz in sich; es spricht aus ihm mit der Notwendigkeit und Sicherheit des natürlichen Instinkts«, ebenso Hartpole Lecky: »Nach meinem Dafürhalten sind die Frauen sowohl in der aus freiem inneren Antrieb, als in der aus Pflichtgefühl oder Überzeugung hervorgehenden Tugend überlegen«; Eduard von Hartmann aber sagt: »Das weibliche Geschlecht ist das unrechtliche und ungerechte Geschlecht«, Schopenhauer hält Ungerechtigkeit für den Grundzug des weiblichen Charakters, und Lombroso hat »auch das normale Weib als halbkriminaloides Wesen« kennen gelernt.
Einer sehr allgemeinen Ansicht leiht Julius Düboc mit den Worten Ausdruck: »Es ist ein Zug, der durch die Jahrhunderte geht, daß von dem Weibe nichts Unziemliches ausgehen darf... Das Ziemliche, das ist aber vor allem das Maßvolle.« Die Brüder Goncourt aber schreiben: »Die hauptsächlichste Stärke der Frau ist ein Übermaß in allem.«
Kingsley apostrophiert das Weib als den »einzig wahren Missionär der Zivilisation, der Brüderlichkeit, der zarten vergebenden Liebe,« sein Landsmann Pope aber meinte: »Every woman is in her heart a rake.«
Havelock Ellis ist der Ansicht, daß unter gewöhnlichen Umständen das Weib an Leistungsfähigkeit dem Manne gleich sei: »aber es kann nicht unter Hochdruck arbeiten«; von Horn dagegen: »Geht es ans Erfüllen von schweren Anforderungen, so übertrifft das weibliche Geschlecht oft das männliche bei weitem, so entwickelt es eine Zähigkeit und Ausdauer, die den Mann beschämt.«
Lotze sagt: »Das Weib haßt die Analyse und ist daher nicht imstande, Wahres vom Falschen zu unterscheiden«; Lafitte jedoch: »Das Weib bevorzugt die Analyse der Dinge, der Mann die Beziehungen zwischen den Dingen«, und Lombroso: »In der Synthese und Abstraktion zeigt sich die Intelligenz des Weibes mangelhaft; ihre Stärke liegt in der feinen Analyse, in der scharfen Auffassung der Einzelheiten.« Für solche aber, »welche sich etwas zurechtzulegen wissen«, hat Nietzsche im Gegensatz zu einer sonst fast ungeteilten Anschauung behauptet: »Die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüt und die Leidenschaft.«
Selbst über die spezifischen Eigentümlichkeiten des Weibes in der Liebe, einem Gebiete, das doch am innigsten mit der Geschlechtsnatur verbunden ist, gehen die Meinungen weit auseinander. So bezeichnen die einen die Treue als einen Grundzug des weiblichen Wesens, da schon durch die Aufgaben der Mutterschaft sein Instinkt in der Liebe auf Dauer gerichtet ist – Krafft-Ebing: »Jedenfalls ist die seelische Richtung des Weibes eine monogame, während der Mann zur Polygamie hinneigt«; oder Schopenhauer: »Die Liebe des Mannes sinkt merklich von dem Augenblick an, wo sie Befriedigung erhalten hat: er sehnt sich nach Abwechslung. Die Liebe des Weibes hingegen steigt eben von jenem Augenblick an... Er sieht sich stets nach anderen Weibern um, sie hingegen hängt fest dem einen an«. Im Gegensatz dazu sagt Lombroso: »Sicher ist jedenfalls, daß sie (die Weiber), wenn ein anderes Verhältnis ihnen mehr praktische Vorteile verspricht, den ersten Geliebten erbarmungslos, oft in der grausamsten Weise im Stich lassen«; und Laura Marholm bestätigt: »Das Weib will spielen, Abwechslung haben, veränderlich sein, der Mann gedeiht in der Einförmigkeit, das Weib verzweifelt darin« – übrigens eine Paraphrase zu jenem alten »La donna è mobile«, das die bekannteste Formel für alle die zahllosen Klagen über die Flatterhaftigkeit und Unbeständigkeit des weiblichen Geschlechtes ist.
Entgegen der allgemeinen Annahme, daß das Charakteristische der weiblichen Liebe in der völligen Hingebung bestehe (»der Mann liebt unter Selbstbehauptung, das Weib unter Selbsthingebung«), bemerkt M. de Lambert: »Die Frauen treiben mit der Liebe ihr Spiel – sie geben sich dazu her, aber sie geben sich ihr nicht hin.« Friedrich Nietzsche hat den Unterschied in der innerlichen Stellung der Geschlechter, wenn sie lieben, so formuliert: »Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter möchte ihrer nicht wert sein; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht wert sein« – wie ja auch Goethe an Frau von Stein geschrieben hat: »Ich möchte im dreifachen Feuer geläutert werden, um Ihrer Liebe wert zu sein« – Mantegazza jedoch, der eine Reihe psychologischer Geschlechtseigentümlichkeiten einander gegenüberstellt, läßt genau umgekehrt den Mann sich fragen: »Ist sie meiner würdig? Kann sie mir genügen?« und das Weib: »Bin ich seiner würdig? Kann ich ihm genügen?«
Es wäre leicht, diese Beispiele ins Unendliche zu vermehren. Dazu kommen jene, welche den psychischen Unterschied der Geschlechter an sich negieren; z.B. Broca: »Mann und Weib würden, wenn sie ganz ihren inneren Impulsen überlassen blieben, zu einer großen Ähnlichkeit gelangen, wie das im Zustande der Wildheit der Fall ist«; oder Montaigne: »Meine Meinung ist, daß Männer und Frauen das nämliche Gepräge tragen; abgesehen von Institutionen und Bräuchen, ist der Unterschied nicht groß.« Auch der Ausspruch Grillparzers gehört hierher: »Das edle Weib ist halb ein Mann, ja ganz«, oder derjenige Baissacs: »Les âmes n'ont pas de sexe«, sowie die Ansicht Swifts: »Ich kenne keine liebenswürdige Eigenschaft an einem Weibe, welche nicht ebenso liebenswürdig an einem Manne wäre. Sogar Bescheidenheit und Sanftmut will ich hiervon nicht ausnehmen; auch kenne ich kein Laster und keine Torheit, welche nicht gleich verabscheuungswürdig an beiden wäre.« Lombroso hingegen erblickt in jeder Annäherung des Weibes an den männlichen Typus – trotz der von ihm aufgestellten Behauptung, daß geniale Frauen sehr häufig männlichen Typus zeigen – eine atavistische Erscheinung: »wir suchen im Weibe vor allem das spezifisch Weibliche; wenn wir das Gegenteil finden, so schließen wir auf eine enorme Anomalie.«
Was also hat es mit einer Sache auf sich, über die jedermann sich andere Vorstellungen macht, die von den einen als etwas Nebensächliches und Untergeordnetes, von den andern als eines der wichtigsten normativen Kriterien betrachtet wird? Wäre man nach so vielen paradoxen Behauptungen und gegensätzlichen Meinungen nicht schließlich berechtigt, dahinter nichts als eine Ausgeburt subjektiver Geschmacksrichtungen oder konventioneller Vorurteile zu suchen?
Es ist ein Verdienst der Frauenbewegung, daß sie den Anstoß zu einer kritischen Beleuchtung dieses ganzen Gebietes gegeben hat. Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konnte ein geistreicher und subtiler Denker wie Ludwig Feuerbach das Problem mit einer so gänzlich leeren Definition abtun: »Das Wesen des Mannes ist die Männlichkeit, das des Weibes die Weiblichkeit... Was ist die Tugend, die Tüchtigkeit des Menschen als Mannes? Die Männlichkeit. Des Menschen als Weibes? Die Weiblichkeit... Die Tüchtigkeit, die Gesundheit des Menschen besteht demnach nur darin, daß er als Weib so ist, wie er als Weib sein soll, als Mann so, wie er als Mann sein soll.«
Mit dergleichen gibt sich heute nur mehr die oberflächlichste Gedankenlosigkeit zufrieden. Gleichwohl kann man nicht behaupten, daß durch den Kampf der Meinungen vorläufig eine größere Klarheit und Bestimmtheit geschaffen worden wäre. Die Frauenbewegung steht, soweit sie ganz konsequent ist, dem Begriffe der Weiblichkeit gegenüber auf einem skeptischen, wenn nicht völlig negativen Standpunkt; sie bezweifelt oder bekämpft den normativen Wert dieses Begriffes und setzt an seine Stelle die unbeschränkte Freiheit der individuellen Entwicklung; sie legt alles Gewicht auf die gemeinsamen Gebiete zwischen Mann und Weib und fordert in jedem Falle eine von den Geschlechtsnormen unabhängige Berücksichtigung der Eigenart.
Vielleicht ist das der einzige gerechte Standpunkt dem einzelnen Individuum gegenüber, das als ein Naturwesen von unabänderlicher Beschaffenheit in die Welt tritt, vielleicht der einzige, der ohne Phrasen und willkürliche Voraussetzungen bestehen kann. Übrigens, wenn Heine recht hat, daß es das Element der Freiheit ist, das den weiblichen Geist auszeichnet, würde die Frauenbewegung damit sogar den Charakter des »echt Weiblichen« betätigen.
Dennoch wird auf diese Weise das Problem der Geschlechtspsychologie nicht gelöst. Es wird nur umgangen. Wer sich von den Normen der Weiblichkeit unabhängig macht, hat sie nicht zugleich aufgehoben. Wenn auch mit sehr wandelbaren Grenzen, wenn auch als ganz veränderliche Gebilde – sie sind doch ein wesentlicher Bestandteil im geistigen Leben der Menschheit, sie sind das Produkt einer langen Entwicklungsreihe, einer nicht zu unterschätzenden Kulturarbeit.
Das heißt allerdings nicht, zugleich ihre konventionelle Geltung bestätigen. Die Gefahr aber, wieder konventionellen Normierungen Raum zu bieten, liegt in der, neuestens in der Frauenbewegung sich ankündigenden Tendenz, eine fundamentale Verschiedenheit der Geschlechter anzuerkennen, indem man die Mutterschaft zum entscheidenden Faktor erhebt, um von hier aus die Stellung der Frau in der Kultur der Zukunft zu begrenzen. Die Mutterschaft mag als Hindernis der äußeren Gleichstellung mit dem Manne schwer ins Gewicht fallen; als innerlicher Zustand ist sie so wenig ein allgemeingültiges Kriterium der Weiblichkeit, wie irgend eine andere generelle Bestimmung.
Versucht man, einen konkreten Gehalt für das zu finden, was man unter Weiblichkeit verstehen will, so gibt es dafür dreierlei Möglichkeiten. Man kann das Häufige, das Durchschnittliche, das Gewöhnliche als Norm aufstellen; oder man kann ein Idealbild konstruieren, indem man physische Vorgänge als Gleichnis und Analogon für psychische benutzt, und Aktivität und Passivität, Produktivität und Rezeptivität in gegensätzlichen Typen einander gegenüberstellt; oder man kann aus der physiologischen Beschaffenheit zurückschließen auf psychische Eigenschaften, die notwendigerweise damit verknüpft sein müssen.
Durch jede dieser drei Methoden wird ein fiktiver Typus geschaffen, vermittelst dessen man die Geschlechter in eine Majorität sogenannter normaler und in eine Minorität sogenannter abnormer Individuen teilt. Aber schon aus den angeführten widersprechenden Aussagen läßt sich, soweit es sich um die Weiblichkeit handelt, ersehen, daß die Resultate der drei Methoden keineswegs übereinstimmen, so daß Erscheinungen, die nach der einen unter die »abnormen«, also mit der wahren Weiblichkeit unvereinbaren gezählt werden, nach der andern noch in das Gebiet der Normalität fallen und umgekehrt.
Ganz unzulänglich erscheint die Durchschnittsmethode. Abgesehen von den philiströsen Beschränkungen und den subjektiven Vorurteilen, denen sie den Maßstab liefert: es handelt sich bei dem Problem der Geschlechtspsychologie nicht so sehr darum, die bekanntesten und landläufigsten Merkmale aufzuzeigen, aus denen sich generelle Bestimmungen herleiten lassen, sondern vielmehr, ein Naturprinzip bloßzulegen, das widerspruchslos als ein Gemeinsames in dem Wesen aller Weiber – sofern sie körperlich intakte Geschlechtswesen darstellen – zu allen Zeiten und bei allen Völkern nachzuweisen wäre, ein Prinzip, das dort am deutlichsten erkennbar sein müßte, wo die Willkür des menschlichen Bewußtseins noch nicht die Unmittelbarkeit der natürlichen Vorgänge gestört hat – an den weiblichen Geschöpfen des Tierreiches.
Noch weniger kann uns bei der Beurteilung des einzelnen Individuums mit dem Maßstabe gedient sein, den das Idealbild liefert. Vor allem muß man zweierlei auseinanderhalten: die Frage nach dem, was »das Weib« sein soll, und die Frage nach dem, was »das Weib« vermöge seiner Naturanlage ist. Das Idealbild könnte höchstens den Kanon abgeben, nach welchem der Geschlechtswert des Einzelnen unter sozialen oder ethischen Gesichtspunkten zu bemessen wäre; dabei bliebe die Frage dennoch offen, wie weit die Differenzierung nach den Endpolen der Geschlechtlichkeit ein wünschenswertes Ziel sei. Für eine voraussetzungslose, von willkürlichen Annahmen möglichst freie Untersuchung über das, was das Weib wirklich ist, wird nur die dritte Methode in Betracht kommen.
Nach den grundlegenden Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft ist jede Bewußtseinsäußerung an körperliche Vorgänge gebunden. Es scheint also, daß von hier aus eine wesentliche geistige Verschiedenheit der Geschlechter unbedingt zu bejahen wäre. Wenn schon der Geschlechtsunterschied in der Physis des Menschen ein so durchgreifender ist, daß selbst noch die Haare eine Verschiedenheit nach dem Geschlecht erkennen lassen, daß »ein Mann Mann ist bis in seinen Daumen, und ein Weib Weib bis in ihre kleine Zehe« (Ellis), steht es da nicht im vorhinein außer Zweifel, daß der weibliche Körper der Träger einer anderen Seele sein muss als der männliche?
Eine alte physiologische Anschauung hat den Satz aufgestellt: Totus homo semen est; die moderne Physiologie bestätigte ihn. »Das Weib ist eben nur Weib durch seine Generationsdrüse; alle Eigentümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder seiner Ernährung und Nerventätigkeit: die süße Zartheit und Rundung der Glieder bei der eigentümlichen Ausbildung des Beckens, die Entwicklung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener schöne Schmuck der Kopfhaare bei dem kaum merklichen weichen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese Sanftmut, Hingebung, Treue – kurz alles, was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine Dependenz des Eierstockes.« (Virchow, das Weib und die Zelle.)
An diesem Ausspruch des großen Pathologen fällt vor allem der unvermittelte Sprung von der Aufzählung der sogenannten sekundären Geschlechtscharaktere zu psychischen Eigenschaften auf, deren Zusammenhang mit der geschlechtlichen Differenzierung so wenig erwiesen ist, daß von anderen Beobachtern ganz entgegengesetzte als die typisch weiblichen angeführt werden. Ja das »echte Weib« nach Virchowscher Beschreibung stimmt nicht einmal im Punkte der sekundären Geschlechtscharaktere – unter denen man bekanntlich physische Eigentümlichkeiten versteht, die das Geschlecht zu begleiten pflegen, wie der Kamm des Hahnes, das Geweih des Hirsches, der Bart des Mannes u. dgl. – mit ethnographischen Tatsachen, noch selbst mit dem wechselnden Geschmack der zivilisierten Völker überein. So haben die Männer der zivilisierten Rassen im allgemeinen ein breiteres, also weiblicheres Becken als die Frauen wilder Stämme, während die Männer dieser Stämme den »schönen Schmuck der Kopfhaare« mit den zivilisierten Frauen teilen; die Neigung zur Bartbildung auf der Oberlippe ist als Rassenmerkmal der portugiesischen, spanischen und ungarischen Frauen bekannt; und was die Rundung der Glieder, wie die Entwicklung der Brüste betrifft, so weicht das neueste Modeideal der weiblichen Gestalt, das als »beseeltes Skelett« bezeichnet worden ist, beträchtlich von dem Virchowschen ab. Ob dieses Modeideal eine »Verirrung« ist, kommt dabei gar nicht in Betracht, sondern lediglich die Tatsache, daß die Beschaffenheit vieler Frauen diesem Ideal entspricht. Schon allein die Wandelbarkeit des Geschmackes, durch die immer eine bestimmte Abart zur herrschenden erhoben wird, sollte zur Vorsicht gegenüber dem Begriff des »echten Weibes« mahnen.
Über die physiologischen Eigentümlichkeiten, die das Weib im allgemeinen konstitutionell vom Manne unterscheiden, sind in neuerer Zeit ausgedehnte Untersuchungen angestellt worden. Als die bekanntesten Werke dieser Art können »Das Weib als Verbrecherin und Prostituierte« von Lombroso und Ferrero, und »Mann und Weib« von Havelock Ellis genannt werden. Besonders das Werk des Engländers, das durch seine planmäßige Anordnung und kritische Methode vor der vielfach angefochtenen Arbeit der italienischen Autoren den Vorzug verdient, enthält eine eingehende und gewissenhafte Zusammenstellung aller exakten wissenschaftlichen Ergebnisse in dieser Richtung. Alles, was meßbar und wägbar am menschlichen Organismus ist, wird hier mit Sorgfalt auf seine psychosexuelle Bedeutsamkeit hin betrachtet. Dennoch muß der Autor am Schlusse seiner Ausführungen bekennen: »Die fundamentalen und wesentlichen Merkmale von Mann und Weib, wie sie vor allem Einfluß äußerer Umstände bestehen, haben wir nicht mit Sicherheit bestimmen können ... Die Einsicht, daß Mann und Weib unter wechselnden Bedingungen innerhalb weiter Grenzen unbestimmbar veränderungsfähig sind, erlaubt uns nicht, starre Dogmen über die besondere Sphäre des einen oder des anderen Geschlechtes aufzustellen ... Ferner sind so viele Tatsachen unter wechselnden Lebensbedingungen wandelbar, daß wir ohne vorausgehende Experimente über das Verhalten des männlichen und weiblichen Organismus unter verschiedenen Bedingungen nichts Bestimmtes aussagen können.«
Da es sich bei diesen Untersuchungen nur um die Feststellung von Tatsachen handelt, wie sie vermittelst der naturwissenschaftlichen Beobachtungsmethoden und statistischer Berechnungen zu gewinnen sind, ist es einleuchtend, daß man auf diesem Wege bei den Symptomen stehen bleibt, ohne zu ihren eigentlichen Ursachen vordringen zu können. Tiefer greift die biogenetische Forschung in das Wesen der Geschlechtsdifferenzierung hinab.
Die physiologischen Funktionen der Ernährung und Fortpflanzung lassen schon in den primitivsten Organismen zweierlei Tendenzen der Lebenstätigkeit erkennen – die eine nach innen, nach Ansammlung gerichtet, die andere nach außen, nach Absonderung. Aus diesen ursprünglichen Tendenzen erklären sich die Besonderheiten der männlichen wie der weiblichen Keimzellen; und das Übergewicht einer dieser Tendenzen entscheidet die Differenzierung des Embryo zu einer verschwenderischen oder zu einer sparsamen Konstitution, zur männlichen oder weiblichen Polarisation. Die männliche Polarisation ergibt, wie sich an den Eigenschaften der Keimzelle erkennen läßt, Beweglichkeit, Energie, Initiative, die Neigung, ins Weite zu streben, und die Fähigkeit, sich unter den ungünstigsten Bedingungen zu behaupten – die weibliche bedingt Stabilität und passives Aufsichberuhen, die Neigung, zu beharren und sich gegen äußere Einflüsse abzuschließen. (Siehe Feuillet, Die Psychologie der Geschlechter und ihre biologische Grundlage.) Verfolgt man die Konsequenzen weiter, so stellt sich das cholerisch-sanguinische Temperament als das männliche, das phlegmatisch-lymphatische als das weibliche dar; im männlichen Geschlecht verkörpert sich das progressive oder zentrifugale Element, das die Art erneuert und umbildet, im weiblichen Geschlecht das konservative oder zentripetale, das die Art unverändert bewahrt und erhält.
Damit scheint eine feste Grundlage für das gewonnen, was man mit Sicherheit als psychische Geschlechtscharaktere nachweisen und bei allen geschlechtlich differenzierten Individuen voraussetzen kann. Allein in Wirklichkeit wird auch damit nur eine Art Schema geschaffen, ein Typus, von welchem sich die einzelnen Individuen mehr oder minder entfernen. Die oberflächlichste Beobachtung lehrt ja, daß diese allgemeinen Bestimmungen selbst bei solchen Personen nicht zutreffen, die sich im ganzen durchaus nicht von dem Gewöhnlichen unterscheiden, sie lehrt, daß die individuelle Differenzierung in vielen Fällen die generelle aufhebt. Es lassen sich unschwer Individuen verschiedenen Geschlechtes ausfindig machen, deren psychische Geschlechtscharaktere ganz vertauscht sind, obwohl sie körperlich normale Repräsentanten ihres Geschlechtes sind. Hier aber liegt erst das eigentliche Problem: Wenn die Keimzelle das einzige und ausschlaggebende Bildungsprinzip des Organismus darstellt, wie sind solche Abweichungen möglich? Und wenn die physische Geschlechtsdifferenzierung nicht mit Notwendigkeit den psychischen Charakter des Individuums bestimmt, welche Faktoren sind es, die solche Abweichungen bewirken?
Doch abgesehen vorerst von den atypischen Individuen – diese allgemeinen Schlüsse aus biologischen Tatsachen lassen eine Reihe von Phänomenen innerhalb der natürlichen Entwicklungsreihen unaufgeklärt. Es gibt viele Tiergattungen, und darunter sehr hochstehende, deren Korporisation außerhalb der Geschlechtssphäre von der Natur der Keimzellen ganz unabhängig zu sein scheint. Hengst und Stute, Hund und Hündin beispielsweise, bei denen von sekundären Geschlechtscharakteren kaum die Rede sein kann, unterscheiden sich auch in ihren intellektuellen Eigenschaften nicht kraft des Geschlechtes. Daher werden Rennpferde und Jagdhunde ohne Ansehung ihres Geschlechtes verwendet. Bei ihnen ist die Beweglichkeit, Energie, Initiative, die angeblich nur aus der Beschaffenheit der männlichen Keimzelle entspringt, auf beide Geschlechter gleich verteilt. Ja das Beispiel der Bienen beweist, daß sogar eine Umkehrung des Geschlechtscharakters als Regel stattfinden kann. Im Bienenstaate steht das soziale Leben der Geschlechter in einem völligen Gegensatz zu dem sexuellen Charakter, den die Keimzelle ihrem Träger verleihen soll. Durch die Neigung zu einem trägen und eingezogenen Leben unterscheidet sich die männliche Drohne von der tätigen, rührigen, abenteuerlichen Lebensweise der weiblichen Arbeitsbiene.
Die Erklärung dafür könnte allerdings in der Natur der Keimzellen selbst gefunden werden. Nach neueren Untersuchungen über die denselben innewohnende Fähigkeit der Geschlechtsdifferenzierung ist es sehr wahrscheinlich, daß die weibliche Keimzelle ihrer eigenen Beschaffenheit nach männliche Polarisation hat, das heißt, die Erzeugung eines männlichen Organismus entscheidet, die männliche Keimzelle hingegen weibliche Polarisation, das heißt, die Erzeugung eines weiblichen Organismus entscheidet. Die Beobachtung der sehr eigentümlichen Fortpflanzungsverhältnisse bei den Bienen zeigt, daß aus den unbefruchteten Eiern ausschließlich Drohnen, also Männchen, hervorgehen; daß aber die weiblichen Bienen – die durch Ernährungseinflüsse zu Arbeiterinnen oder zu Königinnen entwickelt werden – nur unter Mitwirkung des männlichen Zeugungsstoffes entstehen können. (Siehe Janke, die willkürliche Hervorbringung des Geschlechtes.)
Wenn nun der weibliche Organismus männliche Keime, der männliche Organismus weibliche hervorbringt, warum sollte sich diese Fähigkeit nicht auch in dem Charakter der Psyche ausdrücken, deren Träger er ist? Übrigens hat Lourbet (Das Problem der Geschlechter) darauf hingewiesen, daß man ebensowohl aus den Eigenschaften der männlichen Keimzelle die charakteristischen Merkmale der weiblichen Psyche hätte ableiten können; »denn das Weib ist lebhafter und beweglicher in seiner Sinnesart als der Mann, unbeständig, nervös, und unfähig aller Dinge, die Ausdauer und Beharrlichkeit voraussetzen.« So könnte man auch aus der Tendenz der männlichen Keimzelle zur vollständigen Aufgebung des eigenen Wesens und Verschmelzung mit einem größeren, in sich abgeschlossenen, auf sich beruhenden Organismus, wie das Ovulum, die Neigung zur Hingebung und Selbstaufopferung nachweisen, die man doch als besonderes Kennzeichen der weiblichen Psyche zu betrachten gewohnt ist.
Nein, auch von hier aus läßt sich keine zuverlässige Grundlage für die psychologische Formel der Weiblichkeit gewinnen. Auch hier findet man, wenn man genauer hinsieht, nicht viel mehr als willkürliche Voraussetzungen, in die alles Beliebige hineingedeutet wird – und zwar in erster Linie der Typus, den der Zeichendeuter aus Erfahrung kannte, oder der ihm durch die herrschenden Anschauungen überliefert war.
Während man Männlichkeit und Weiblichkeit in ihrer gegenwärtigen Gestalt aus ursprünglichen und primitiven organischen Bedingungen zu erklären strebt, übersieht man, daß sie in vielen wesentlichen Stücken bloße Kulturprodukte sind, also nichts Feststehendes und Abgeschlossenes, noch auch etwas allgemein Zutreffendes. Bei den meisten wilden Völkern ist das Bild der Arbeitsteilung zwischen Mann und Weib ein durchaus anderes als bei den Kulturvölkern. Fast überall sind die Frauen die ersten Lastträger, die ersten Ackerbauer, die ersten Baumeister, die ersten Töpfer, wie überhaupt die industrielle Seite des primitiven Lebens samt einem großen Teile der dazu gehörigen ersten Erfindungen ein Werk des weiblichen Geschlechtes ist. (Siehe Ellis, Mann und Weib.) Vermutlich würde auch die physiologische Beobachtung dieser primitiven Frauen vielfach zu anderen Ergebnissen führen als diejenige der Kulturfrauen.
Will man sich aber auf die psychosexuellen Erscheinungen innerhalb des europäischen Kulturkreises beschränken, so wird man vor allem eine Tatsache berücksichtigen müssen, deren Bedeutung nach vielen Richtungen sehr hoch anzuschlagen ist – die höhere Stufe der individuellen Differenzierung.
Es ist eine Eigentümlichkeit, die zur Auszeichnung des Menschen gehört, daß die Geschlechtsanpassung bei ihm nicht wie bei den Tieren eine generelle ist, sondern individuell sehr verschieden. Ein Löwe, ein Pferd, ein Hase sind im Grade ihrer Männlichkeit und Weiblichkeit durch ihre Gattung und nicht als Individuen bestimmt. An sich betrachtet ist eine Löwin ein viel männlicheres Tier als etwa ein Rehbock – da man ja, ganz allgemein genommen, aggressive Impulse als Begleiterscheinung der männlichen Differenzierung anspricht –. Aber schon bei den höchststehenden Säugetieren lassen sich die Spuren einer beginnenden individuellen Differenzierung bemerken; und innerhalb der menschlichen Gattung sind es nur die ganz primitiven Völker, bei denen die Geschlechter sich in ziemlich homogene Gruppen scheiden.
Mit steigender Kultur, unter günstigen Lebensbedingungen und in freieren sozialen Zuständen beginnt der Einzelne sich nach Eigenart zu entfalten – vielleicht, weil der Zwang der Sozietät in gesicherten Verhältnissen nachläßt, und der Druck, den sie auf ihre Mitglieder ausübt, nicht mehr eine Notwendigkeit der Selbsterhaltung bedeutet, also nicht mehr als »heilig« betrachtet wird; vielleicht, weil die Anpassung an die Bedingungen der sexuellen Auswahl, die den primitiven Mann zum Raub oder Kauf des Weibes nötigen und das Weib zum willenlosen Gegenstand des Raubes oder Kaufes machen, sich mit den Bedingungen selbst ändert. Der Reichtum und die Entwicklungsfreiheit äußerer Lebensformen geht parallel mit dem Reichtum und der Entwicklung der inneren. Die Natur selbst, nach der evolutionistischen Auffassung ein ewiges Fortschreiten von primitiven und einfachen Formen zu immer komplizierteren und vollendeteren, von der Einheitlichkeit zur Mannigfaltigkeit, äußert sich innerhalb der menschlichen Gattung als ein Fortschreiten vom Typischen zum Individuellen.
Eigenschaften, von denen jede für sich betrachtet sowohl dem einen wie dem anderen Geschlechte angehören kann, machen als Komplex in ihrer besonderen Kombination die Eigenart der Persönlichkeit aus. Die außerordentliche Mannigfaltigkeit dieser Kombinationen allein ist ein Einwand gegen das Bestreben, die Persönlichkeit als eine bloße Spiegelung der Sexualität zu deuten, Mann und Weib nach ihrem geistigen Charakter einfach als Paraphrasen ihres Geschlechtsapparates aufzufassen. Sollte es wirklich möglich sein, die Bewußtseinsleistung eines so komplizierten Organismus, wie des menschlichen, aus so einfachen Ursachen, wie die Beschaffenheit der Keimzellen oder die Vorgänge der Ernährung und des Stoffwechsels zu erklären?
Jede Methode kann nur Prozentsätze ermitteln; sie scheidet die Geschlechter in Majoritäten und Minoritäten. Fast ausnahmslos wird dabei alles Gewicht auf den Majoritätscharakter gelegt. Und doch sind die Minoritäten für so viele Wandlungen in der Kulturgesellschaft ausschlaggebend, sind keineswegs nebensächlich oder überflüssig in der natürlichen und sozialen Ordnung!
Aber das mag dahingestellt bleiben. Setzen wir uns erst mit der Tatsache auseinander, daß der psychische Charakter einzelner Individuen – gleichviel, wie selten oder wie häufig diese Individuen sind – nicht mit ihrem sexuellen Typus übereinstimmt.
Lombroso hat zur Erklärung der atypischen Weiblichkeit das Gesetz der gekreuzten Vererbung herangezogen. »Solche Frauen sind vielleicht das Produkt eines eigentümlichen Vererbungsmechanismus; sie scheinen Geschlechtsorgane und sekundäre geschlechtliche Merkmale von der Mutter, das Gehirn vom Vater übernommen zu haben; paradoxe Mischungen dieser Art bedingen ja auch gelegentlich den Typus des weibischen Mannes.« Er ist im übrigen der Ansicht, daß innerhalb des weiblichen Geschlechtes als dem weniger variablen nur das Gebiet der vollkommenen Normalität oder das der äußersten Anomalie vertreten erscheint, und daß die zahlreichen Übergangsformen fehlen, welche diese beiden Pole verbinden. Das ist eine der vielen willkürlichen und unbewiesenen Behauptungen, die den Standpunkt Lombrosos als einen ganz subjektiven kennzeichnen. Die gekreuzte Vererbung, aus der solche »paradoxe Mischungen« hervorgehen, gehört zu den fundamentalen Gesetzen, die nach der Darwinschen Auffassung den Charakter der Arten bestimmen. Man weiß, daß das Gesetz, das die Übertragung der sekundären Geschlechtscharaktere ebenso wie die der Geschlechtsorgane regelt, indem es in gerader Linie vom männlichen Organismus auf dessen männliche Nachkommen und vom weiblichen auf dessen weibliche Nachkommen wirkt, durch das Gesetz der gemischten oder amphigonen Vererbung beschränkt und teilweise aufgehoben wird. »Dieses Gesetz sagt aus, daß ein jedes organische Individuum, welches auf geschlechtlichem Wege erzeugt wird, von beiden Eltern Eigentümlichkeiten annimmt.« (Haeckel, Natürliche Schöpfungsgeschichte.)
Es ist eine bekannte Beobachtung, daß Töchter häufiger dem Vater ähnlich sehen, Söhne häufiger der Mutter. Nach Wahrscheinlichkeitsberechnung dürften Väter eher erwarten, ihre Eigenart in ihren Töchtern wiederzufinden als in ihren Söhnen. Auf diese Tatsache – die eine Bestätigung jener Fähigkeit der Keimzelle zur Hervorbringung des ihr entgegengesetzten Geschlechtes enthält – hat Janke ein Vererbungsschema gegründet, nach welchem auf dem Umweg über die Töchter erst die männlichen Enkel die wahren Erben und Ebenbilder eines Vaters sind, während eine Frau erst wieder in den Töchtern ihrer Söhne auflebt. Der echte Mannesstamm einer Familie würde sich somit nicht in gerader Linie von Vater zu Sohn fortzweigen, wie es gegenwärtig angenommen ist, sondern in gekreuzter Linie von Vater zu Tochter, von Tochter zu Enkel.
Auch Schopenhauer hat aus seiner Welterklärung, wonach der Wille das primäre Prinzip, der Intellekt das sekundäre ist, eine Art gekreuzter Vererbung abgeleitet, da er das männliche Geschlecht als das primäre zum Vererbungsträger des Charakters, das weibliche als das sekundäre zum Vererbungsträger der intellektuellen Begabung macht. In seiner Republik, hebt er hervor, müßten daher zur Erzeugung einer möglichst tüchtigen Nachkommenschaft die charaktervollsten Männer und die intelligentesten Frauen verbunden werden. Nebenbei gesagt, ist diese Schopenhauersche Vererbungstheorie ein Beispiel dafür, wie wenig eine vorgefaßte Meinung durch Ergebnisse der Beobachtung zu erschüttern ist; denn die Fälle, wo Charakter und Intellekt sich durchaus nicht in der angegebenen Weise auf die Kinder vererben, sind so zahlreich und so augenfällig, daß sie auch Schopenhauer nicht hätte übersehen können, wenn er eben nicht – seine Theorie gehabt hätte.
Schon aus der Tatsache der gekreuzten Vererbung erhellt es, daß das einzelne Individuum männliche und weibliche Eigenschaften in sich vereinigt, und daß es selbst auf den niedrigeren Stufen der Entwicklung nicht unbedingt als »homologes Sexualwesen« gelten kann. Man könnte wohl von hier aus die Auffassung begründen, daß jedes Individuum eine Mischung darstellt, da die absolute Männlichkeit und Weiblichkeit in der Realität nirgends vorkommt. Mit der Annahme einer graduellen Geschlechtlichkeit wäre eine Erklärung für die individuellen Abweichungen vom allgemeinen Geschlechtstypus gegeben.
Allein so viel Bestechendes die Theorie der Geschlechtsgrade auch hat, sie bietet doch keinen festen Anhaltspunkt dafür, was denn eigentlich außerhalb der primären Geschlechtssphäre, also im übertragenen Sinne, unter dem Männlichen und Weiblichen verstanden werden soll. Da auf dem physiologisch-biologischen Wege kein solcher Anhaltspunkt zu gewinnen ist, muß man sich entweder an Ergebnisse der Durchschnittsmethode halten, die nur Oberflächen-Beobachtungen summiert, oder an das Idealbild – wobei man das begeht, was die Philosophen eine petitio principii nennen. Denn es ist nur eine willkürliche Voraussetzung, alle positiven Eigenschaften männlich und alle negativen weiblich zu nennen, da sie doch erfahrungsgemäß bei beiden Geschlechtern auftreten.
Es war Schopenhauer, der auf die verschiedenen Grade in dem sexuellen Charakter der Einzelnen hingewiesen und diese Gradualität der Geschlechtsdifferenzierung zur Erklärung der Liebesphänomene benutzt hat. Er sagt in seiner Metaphysik der Liebe: »Alle Geschlechtlichkeit ist Einseitigkeit. Diese Einseitigkeit ist in einem Individuo entschiedener ausgesprochen und in höherem Grade vorhanden als im anderen: Daher kann sie in jedem Individuo besser durch eines als das andere ergänzt und neutralisiert werden... Die Physiologen wissen, daß Mannheit und Weiblichkeit unzählige Grade zulassen, durch welche jene bis zum widerlichen Gynander und Hypospadiäus sinkt, diese bis zur anmutigen Androgyne steigt; von beiden Seiten aus kann der vollkommene Hermaphroditismus erreicht werden, auf welchem Individuen stehen, welche, die gerade Mitte zwischen beiden Geschlechtern haltend, keinem beizuzählen, folglich zur Fortpflanzung untauglich sind.«
Schopenhauer begnügte sich, die Geschlechtsgrade als ein physiologisches Phänomen zu beschreiben; er beachtete nicht, daß die physiologische Geschlechtsbeschaffenheit keinen Maßstab für die psychische des Individuums bildet, weil Individuen, die körperlich sehr ausgeprägte Geschlechtstypen darstellen, in ihrer Psyche oft ganz atypisch sind und mit ihrer Physis durchaus nicht übereinstimmen.
Viel tiefer hat Otto Weininger in seinem Buche »Geschlecht und Charakter« das Problem der Geschlechtsgrade zu fassen versucht. Er geht von der Annahme aus, daß jede Zelle des Organismus geschlechtlich charakterisiert ist oder eine bestimmte sexuelle Betonung hat. Allerdings sieht er sich genötigt, zu bekennen: »Worin die Männlichkeit(Maskulität) oder Weiblichkeit (Muliebrität) einer Zelle eigentlich bestehen mag ... darüber ist eine Aussage auf dem Wege der Wahrscheinlichkeit heute noch nicht möglich.« Die originäre geschlechtliche Charakteristik jeder Zelle führt er auf eine Modifikation jenes hypothetischen Idioplasmas zurück, welches jedem Gewebe den spezifischen Artcharakter verleihen soll. Dieses Idioplasma scheidet er in ein »Arrhenoplasma« als Träger des männlichen, und in ein »Thelyplasma« als Träger des weiblichen Prinzips. In jedem realen Individuum sind diese beiden Plasmen immer in größeren oder geringeren Prozentsätzen vereinigt: »ein Individuum A oder ein Individuum B darf man darum nicht mehr schlechthin als ›Mann‹ oder ›Weib‹ bezeichnen, sondern ein jedes ist nach den Bruchteilen zu beschreiben, die es von beiden hat«. Dadurch wird die, für die sexuelle Charakteristik vermeintlich ausschlaggebende Bedeutung der äußeren Geschlechtsteile begrenzt, »nach welchen allein die Geschlechtsbestimmung des Menschen bei der Geburt vollzogen und damit in gewisser Hinsicht über sein Lebensschicksal (wie sich zeigen wird, nicht selten unrichtig) entschieden wird«.
Zur Ergänzung der durch den verschiedenen Gehalt an Arrheno- und Thelyplasma bedingten ursprünglichen Geschlechtscharakteristik nimmt Weininger eine – auch von anderen schon vorausgesetzte – innere Sekretion der Keimdrüsen an, durch welche die Geschlechtlichkeit des Individuums erst vervollständigt wird, so daß die sexuelle Differenzierung auch als chemisches Phänomen zu erklären wäre.
Die Bedeutung der Weiningerschen Hypothese liegt vornehmlich in dem Bemühen, eine biologische Formel für die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Entwicklung zu schaffen und die Fehlschlüsse, die sich aus der Anwendung genereller Typen ergeben, zu vermeiden. Freilich wird das Männliche und das Weibliche durch die Bezeichnungen Arrheno- und Thelyplasma nicht in seinem Wesen bestimmt; denn da beides bei jedem Geschlechte – nur dem Prozentsatz nach verschieden – auftritt, kann man darin nicht das konstitutive Prinzip der Geschlechtsdifferenzierung erblicken. Weininger nimmt eine hypothetische Scheidung des Protoplasmas vor und hilft sich auf diese Weise ähnlich über das Problem hinweg wie die Physiologen, wenn sie das Phänomen des Bewußtseins erklären, indem sie es gleichfalls schon dem Protoplasma zuschreiben. Damit aber wird in beiden Fällen das Problem nicht gelöst, sondern nur um einen Schritt weiter hinausgeschoben.
Sobald Weininger die biologisch-psychologische Betrachtungsweise aufgibt, die er im ersten Teile seines Werkes verfolgt, und sich der psychologisch-philosophischen bedient, durch die erst eine Nutzanwendung seiner Gradualitätstheorie gegeben werden sollte, sieht er sich genötigt, mit dem generellen Typus zu operieren, da aus seiner Hypothese eben kein Kriterium zu gewinnen war. Ja er annulliert im zweiten Teile die Voraussetzungen des ersten gänzlich, um auf dem Wege der logisch-deduktiven Methode wieder ausnahmslos gültige Kriterien für Mann und Weib einzuführen. Die Anerkennung der Geschlechtsgrade – unter denen im Sinne Weiningers nicht gradweise Annäherungen an den physischen Hermaphroditismus, sondern die Abstufungen der Wesensbeschaffenheit außerhalb der primären Geschlechtssphäre zu verstehen sind – schließt aber ausnahmslos gültige Kriterien aus, weil sie in der Auffassung wurzelt, daß der primäre Geschlechtsunterschied sich nicht auf den Gesamtkomplex von Eigenschaften erstreckt, die eine individualisierte Persönlichkeit in sich vereinigt. Da Weininger überdies bei der Konstruktion seines generellen Typus – den er »platonische Idee« nennt – für die Weiblichkeit den »trivialsten Erfahrungsbestand« benutzt und »das Alltäglichste und Oberflächlichste« zum Anhaltspunkt nimmt, während er als Männlichkeit einfach die höchsten geistigen und sittlichen Phänomene zusammenfaßt und auf diese Weise den Geschlechtsunterschied als äußersten Wesensgegensatz systemisiert, muß er zu ganz anderen Ergebnissen kommen, als sie aus dem konsequenten Ausbau seiner Gradualitätstheorie zu gewinnen gewesen wären. Geht er doch so weit, zu behaupten, daß »auch der tiefststehende Mann noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weibe steht«, weil nur der Mann eine Monade sei, nur er eine Seele habe, das Weib hingegen seelenlos ist, »kein Ich und keine Individualität, keine Persönlichkeit und keine Freiheit, keinen Charakter und keinen Willen hat«. Ja er sagt sogar: »die Frauen« – wohlgemerkt: die Frauen und nicht bloß die schematische Abstraktion das Weib – »haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts«.
Unter den Voraussetzungen der ursprünglichen biologisch-psychologischen Beobachtung wäre zum mindesten die Frage nicht zu vermeiden gewesen, bei welchem Grade der Männlichkeit die Seele denn anfange, da doch, wenn nur der Mann eine Seele besitzt, das männliche Idioplasma – das Arrhenoplasma – als physisches Korrelat der Seele gelten müßte, das gradweise auch der Konstitution des weiblichen Individuums beigemischt ist. Indem Weininger selbst dem männlichsten Weibe – also dem Weibe mit einem Höchstgehalt an Arrhenoplasma – die Seele abspricht, sie dem weiblichsten Manne aber zuspricht, bindet er die Seele an das primärste Geschlechtsabzeichen und erhebt wider Willen den Phallus zum Träger der Seele. Auf dem Umweg über eine scheinbar sehr fruchtbare biologische Theorie, mit dem Aufwand einer ungeheuren Gedankenarbeit mündet die Weiningersche Gradualitätslehre zuletzt doch wieder in der alten, groben, psychologisch undifferenzierten Anschauung, die Mann und Weib kraft der Bestimmung nach primären Geschlechtsabzeichen in zwei völlig getrennte Gegensätze scheidet.
In dieser prinzipiellen Unzulänglichkeit und Verfehlung des Grundproblems zeigt das Weiningersche Werk, daß die Aufgabe der Geschlechtspsychologie unlösbar bleibt, solange man den Geschlechtsgegensatz als einen wesenhaften, die ganze Konstitution und also auch die psychische Persönlichkeit durchdringenden Unterschied, als eine essentielle Trennung auffaßt.
Welche biologische Notwendigkeit bestünde denn auch für eine essentielle Trennung der Geschlechter? schlechter? Auf der primitivsten Stufe des Lebens sind sie eine Einheit; es gibt an den Protoplasmaklümpchen, welche die erste Manifestation des organischen Lebens darstellen, keinerlei Anzeichen einer elementaren Scheidung, und noch die ersten Formen des animalischen Lebens sind geschlechtlich ungeschieden. Läge der Anstoß zur Scheidung schon im Urstoffe selbst, so könnte es keine ungeschlechtlichen Lebewesen geben.
Erst durch bestimmte Entwicklungsbedingungen, in einer Kette der mannigfaltigsten, schwankendsten Formen, vollzieht sich die Trennung der Geschlechter. Wilhelm Bölsche gibt in seinem »Liebesleben in der Natur« ein anschauliches Bild dieses entwicklungsgeschichtlichen Prozesses, dessen bestimmende Ursachen in der Vererbung zu suchen sind, welche bei der Fortpflanzung die wichtigste Rolle spielt. Soweit die Geschlechtstrennung diesen Interessen der Fortpflanzung zu dienen hat, soweit bestimmt sie die Organisation des Individuums. Aber das Individuum hat – und je höher es steht, desto mehr – ein Eigenleben, das von den Zwecken der Fortpflanzung nicht berührt wird. Die Wissenschaft ist nicht imstande, an der großen Mehrzahl der Organe, die diesem Eigenleben dienen, eine geschlechtliche Differenzierung nachzuweisen. Eine so weitgehende Differenzierung, die den Naturzweck erheblich überschritte, würde der Ökonomie der Natur durchaus widersprechen. Daher können die Unterschiede, die das Geschlecht mit sich bringt, nur relative, keine absoluten sein und in die Konstitution nicht tief genug eingreifen, um die Einheit des Gattungscharakters aufzuheben. Denn wenn es auch primitive Organismen gibt, die sich nach dem Geschlechte so weit voneinander entfernen, daß Männchen und Weibchen wie Angehörige verschiedener Spezies erscheinen, so ist das doch nur eine der zahllosen Möglichkeiten, denen die Geschlechtsdifferenzierung durch die Bedingungen der Anpassung an äußere Verhältnisse begegnete – eine jener Möglichkeiten, die im entgegengesetzten Falle auch die völlige Geschlechtsgleichheit der an der Fortpflanzung beteiligten Individuen, wie beispielsweise bei den Schnecken, bewirken konnte.
Über den Naturzweck der Geschlechtsdifferenzierung und seine biologische Bedeutung sagt Weismann: »Ebenso sekundärer Natur wie die Differenzierung der Zellen zu männlichen und weiblichen Fortpflanzungszellen ist die der Personen zu weiblichen und männlichen; und alle die zahlreichen Unterschiede der Form und Funktion, welche das Geschlecht bei den höheren Tieren charakterisieren ... sind nichts als Anpassungen, um die Vermischung der Vererbungstendenzen zweier Individuen herbeizuführen.«
In jenen Eigentümlichkeiten also, die in unmittelbarem Zusammenhange mit den Aufgaben der Fortpflanzung stehen, werden sich die Individuen nach ihrem Geschlechte am stärksten unterscheiden. Diese Eigentümlichkeiten kann man als teleologische Geschlechtsdifferenzierung bezeichnen. Wenn man die psychische Disposition, wie sie sich bei der menschlichen Gattung als Begleiterscheinung der Sexualität beobachten läßt, daraufhin ansieht, so wäre die teleologische Differenzierung beim Manne in allen Eigenschaften zu suchen, welche die sexuelle Eroberung begünstigen, in dem aggressiven Temperamente, das den Mann zu einem kriegerischen, unternehmenden, gewalttätigen Leben stimmt, und die bei dem Weibe, als einem willensschwachen, duldsam geduldigen, an Impulsen armen Wesen, die Passivität begünstigen, welche zum Empfangen, Tragen und Aufziehen der Nachkommenschaft am tauglichsten macht. Nichts anderes als die teleologische Schwäche des Weibes und die teleologische Stärke des Mannes kann man füglich meinen, wenn man von dem spezifisch Weiblichen und dem spezifisch Männlichen spricht: es ist die Zweckmäßigkeit der psychischen Konstitution für die Leistung des Individuums als Gattungswesen.
Diese lediglich der geschlechtlichen Bestimmung des Individuums dienenden Eigenschaften fallen in das Gebiet der primitiven Geschlechtsnatur. Durch das aber, was man, seit es eine geistig sittliche Entwicklung in der Menschheit gibt, unter der »höheren Natur« des Menschen versteht, oder auch nur durch die individuellen Abweichungen vom teleologischen Geschlechtstypus überschreitet die psychische Konstitution mehr oder weniger dieses Gebiet. Das Verhältnis der individuellen Differenzierung zur generellen und ihre Unabhängigkeit von der primitiven Geschlechtsnatur weist darauf hin, daß keineswegs eine durchgehende Übereinstimmung aller Organe in der Richtung der geschlechtlichen Polarität besteht.
Jeder höhere animalische Organismus ist ein zusammengesetzter und in gewissem Sinne uneinheitlicher Mechanismus. Je höher er auf der Stufenleiter der Entwicklung steht, desto komplizierter wird seine formale und funktionelle Gliederung. Vielleicht liegt in den physiologischen Bedingungen, unter denen seine Entstehung sich vollzieht, eine Erklärung dafür, warum das Geschlecht nicht jenen entscheidenden Einfluß über die Gesamtheit des Organismus hat, der ihm so häufig zugeschrieben wird. Ein Abriß seiner ontogenetischen Geschichte – in ungefähren Zügen – wird das deutlich machen.
Mit dem zunehmenden Wachstum der befruchteten Eizelle bilden sich drei Keimblätter hervor, welche schon in der ersten Anlage eine Entstehung der künftigen Organe aus gesonderten Zellengruppen wahrnehmen lassen. So entstehen aus dem äußeren Keimblatt (Ektoderm) das Zentralnervensystem, Rückenmark und Gehirn, sowie der Hauptsache nach die Nerven, die Sinnesorgane und die Oberhaut mit ihren Drüsen; aus dem inneren Keimblatt (Entoderm) gehen die Hauptorgane der vegetativen Drüsentätigkeit hervor, Lunge, Leber, Pankreas, Nieren usw., soweit es sich um die Zellenmassen handelt, die den speziellen vegetativen Prozessen dienen; das mittlere Keimblatt (Mesoderm) aber liefert vor allem die Bewegungs- Stütz- und Gerüsteinrichtungen, welche die aus den beiden andern Keimblättern entstehenden Organe zu ihrem Ausbau bedürfen, ferner die Organe des Blutkreislaufes und die Bewegungsapparate, Muskeln, Knochen, Knorpeln, Sehnen. Zugleich ist das Mesoderm dasjenige Keimblatt, aus dem die Sexualorgane gebildet werden. (Siehe Ranke, Der Mensch.)
Diese Keimblätter repräsentieren drei verschiedene, relativ seihständige Zellengruppen; und der menschliche Organismus, der aus ihrem Zusammenschluß hervorgeht, bleibt bis zur zehnten Woche seiner embryonalen Existenz ein hermaphroditisches Wesen, das sich erst geschlechtlich differenziert, das heißt, zu einem fortpflanzungsfähigen auswächst, nachdem die wichtigsten Organe für sein eigenes persönliches Leben schon geformt sind. Daß das bedeutendste darunter, das Gehirn mit dem Rückenmarkstrang, jene eigentümliche Autonomie besitzt, vermöge welcher das ganze Zentralnervensystem »ein bis zu einem gewissen Grade für sich bestehender, abgesonderter Organismus in unserem Organismus« genannt werden kann (Ranke), ist vielleicht dem Umstände zuzuschreiben, daß es aus einem anderen Keimblatt als die Generationsorgane hervorgeht und seine erste Ausbildung zu einer Zeit erhält, als diese überhaupt noch nicht bestehen.
Über die Ursachen, welche das Geschlecht des Embryo bestimmen, herrscht trotz zahlreicher Hypothesen – zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zählte man ihrer gegen dreihundert, und die moderne Wissenschaft hat sie noch beträchtlich vermehrt! – völlige Ungewißheit; der Annahme, daß das Geschlecht schon bei der Zeugung bestimmt wird, steht die Annahme gegenüber, daß es sich erst, und hauptsächlich durch Ernährungseinflüsse, im Laufe der embryonalen Entwicklung entscheidet. Da beide Annahmen von ihren Vertretern durch Erfahrungen und Beobachtungen beglaubigt werden, ohne doch irgend eine Zuverlässigkeit in der willkürlichen Beeinflussung der Geschlechtsbestimmung zu bieten, so ist es nicht ganz auszuschließen, daß jeweils der eine oder der andere Fall eintritt – daß entweder eine der beiden Keimzellen selbst durch die ihr innewohnende Tendenz das Geschlecht bestimmt, oder daß sich beide bei ihrer Verschmelzung vollkommen neutralisieren, in welchem Fall das Geschlecht entweder unentschieden bleibt, wie bei den hermaphroditischen Individuen, oder durch anderweitige Einflüsse, denen der neue Organismus bei seiner Entwicklung begegnet, im nachhinein entschieden wird. Namentlich im letzteren Falle werden die Organe, die aus den Zellengruppen des Ekto- und Entoderm hervorgehen, ihre Unabhängigkeit von der erst später eintretenden Geschlechtsdifferenzierung behaupten.
Man hat lange im Gehirn den bestimmenden Faktor für die geistigen Geschlechtsunterschiede gesucht und die Merkmale dafür in verschiedenen Anzeichen zu finden geglaubt. Aber heute kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, daß die menschlichen Gehirne bloß individuelle und keine geschlechtlichen Unterschiede aufweisen. Nach allen vergeblichen Versuchen, aus dem Gewicht oder der Konfiguration des Gehirnes das Geschlecht zu erkennen, hat die moderne Anatomie darauf verzichtet, von hier aus Belege zu dem Problem der Geschlechtspsychologie beizusteuern.
Nur der Sprachgebrauch, der nach Durchschnittswerten und Oberflächen-Generalisationen gebildet ist, kann dazu verleiten, etwa bei einer Frau, deren Intelligenz die gewöhnliche überragt, von einem »männlichen Gehirn« zu sprechen. Physiologisch ist dieser Ausdruck so nichtssagend, wie jene bekannte Formel, die Ulrichs zur Erklärung für das Phänomen der konträren Sexualempfindung geprägt hat: Anima muliebris in corpore virili inclusa – im Grunde nur eine Umschreibung der Tatsache, daß eben mit einem äußerlich völlig männlichen Organismus die sexuellen Empfindungen des weiblichen Geschlechtes verbunden sein können. Diese merkwürdige Abnormität, die in ihren Ursachen unaufgeklärt ist, beweist aber, daß nicht allein das Gehirn in seinem Gesamtkomplex, sondern sogar das zerebrale Zentrum, das den Geschlechtstrieb als Bewußtseinsleistung hervorbringt, in seiner Entwicklung von den Geschlechtsdrüsen unabhängig ist. Krafft-Ebing, der sich im übrigen in Dingen der Geschlechtspsychologie gänzlich auf den konventionellen Standpunkt stellt, sagt mit Hinblick darauf: »Eine interessante ... Frage geht dahin, ob die peripheren Einflüsse der Keimdrüsen oder zentrale, zerebrale Bedingungen für die psychosexuale Entwicklung entscheidend sind«, und hebt hervor, daß die lokalen Vorgänge in den Geschlechtsorganen »nur mitwirkende, nicht die ausschließlichen Faktoren in dem Werdeprozeß einer psychosexualen Persönlichkeit sind«. Zum Beweise dafür kann auch dienen, daß die Kastration beim Menschen keineswegs immer jene durchgreifende Wandlung des Geschlechtscharakters bewirkt, die man gewöhnlich vorauszusetzen pflegt. (Siehe Möbius, Die Kastration.)
Wenn die Entstehung des Gehirnes aus einem besonderen Keimblatt für die individuelle Differenzierung nicht ohne Bedeutung ist, so erscheint die Rolle, die das Mesoderm als das an der Ausbildung des Geschlechtes unmittelbar beteiligte Keimblatt in dem Bildungsprozeß des Organismus spielt, für die sexuelle Typisierung des Individuums ausschlaggebend. Denn indem es jenen Organen, deren funktionellen Teil die beiden anderen Keimblätter besorgen, Form, Halt, Bewegung und den Zusammenhang mit dem übrigen Körper liefert, wird es zum »Hauptmotor bei der Ausbildung der Gesamtkörperform«. Aus diesem Verhältnis des germinativen Blattes zu den Organen, deren Form es beeinflußt, ohne an ihrem spezifischen Charakter Anteil zu haben, erklärt sich die Verschiedenheit in der körperlichen Erscheinung der Geschlechter; das wesentliche des allgemeinen Geschlechtsunterschiedes, der ja nicht ein essentieller, sondern nur ein sekundärer ist, drückt sich darin am bezeichnendsten aus.
Nach dieser physischen Analogie läßt sich vielleicht am ehesten ein Anhaltspunkt für das gewinnen, was man als Männlichkeit und Weiblichkeit im übertragenen Sinn ansprechen kann, ohne daß man durch ungerechtfertigte Durchschnittsbestimmungen die Tatsachen der individuellen Differenzierung zu vergewaltigen brauchte. So wie die körperliche Erscheinung der beiden Geschlechter, von denen doch jedes die gemeinsamen Merkmale der Gattung trägt, eine formal verschiedene ist, so besteht auch der psychische Geschlechtsunterschied, auf seine ausgedehnteste Gültigkeit hin geprüft, in einer formalen Qualität.
Wir haben gesehen, daß es nicht möglich ist, in der geschlechtlichen Differenzierung ein Naturprinzip nachzuweisen, welches mit Notwendigkeit eine bestimmt umschriebene Wesensbeschaffenheit bedingt, daß die physiologischen und biologischen Methoden allenfalls zur Gruppierung der Individuen nach Majoritäten und Minoritäten führen, aber daß auch sie nicht imstande sind, einen einwandfreien Typus aufzustellen. Und wir haben im Sinne einer unbeschränkten Freiheit der Individualität die Momente verfolgt, die den Schluß gestatten, daß die geschlechtliche Differenzierung keine Schranke für die individuelle bildet.
Damit soll durchaus nicht gesagt sein, daß die Geschlechter nicht in vielen, vielleicht in den meisten Fällen durch seelische und intellektuelle Eigentümlichkeiten gekennzeichnet wären. Nur, daß diese psychischen Geschlechtscharaktere nicht notwendig mit dem Geschlecht verbunden sind, nur, daß sie bei einer gewissen Anzahl von Individuen, und oft gerade bei sehr vorzüglichen, sehr hochstehenden Repräsentanten ihres Geschlechtes, fehlen oder selbst in ihr Gegenteil umgewandelt erscheinen. Das bedeutet nichts anderes als: Die geschlechtliche Differenzierung erstreckt sich bei der Mehrzahl der Individuen auf ein größeres Gebiet der Psyche. Je primitiver ein Individuum ist, desto mehr werden die teleologischen Eigenschaften des Geschlechtes in seiner seelischen Ökonomie überwiegen, weil die Fortpflanzung im primitiven Leben einen größeren Raum einnimmt. Auf den höheren Stufen der individuellen Differenzierung und in demselben Maße, als das Eigenleben an Gehalt zunimmt, tritt die Herrschaft der Geschlechtsteleologie zurück, da sie als ein Anpassungsphänomen mit den geänderten Lebensbedingungen selbst sich ändert. Freilich gibt es auch geistig sehr hochstehende Individuen, bei denen die engere Geschlechtssphäre undifferenziert geblieben ist.
Daß in der sozialen Bewertung der Geschlechter die sogenannten Geschlechtstugenden den ersten Platz einnehmen, darf nicht dazu verführen, sie als so allgemein verbreitet und als so wertvoll anzuschlagen, wie jene wollen, die in dem atypischen Individuum schon eine »enorme Anomalie« erblicken. Den Hintergründen dieser sozialen Bewertung nachzugehen, ist eine Sache für sich; daß sie so häufig ohne weitere Kritik zur Basis dessen gemacht wird, was als das »Normale« in Dingen der Geschlechtspsychologie anzusprechen ist, zeigt nur, daß auch das wissenschaftliche Denken nicht immer vor philiströser Beschränktheit schützt.
Die Beschaffenheit der Individualität muß in jedem einzelnen Falle von dem konventionellen Bilde getrennt werden, das für die gangbare Menschenkenntnis den Geschlechtstypus repräsentiert. Selbst in der Erotik, wo die allgemeinen Bestimmungen der Aktivität und Passivität als die charakterisierenden für Mann und Weib die meiste Berechtigung zu haben scheinen, wird eine sorgfältigere Analyse die individuellen Unterschiede eben so groß finden als auf den übrigen psychischen Gebieten. Wer sich nicht durch die formalen Eigentümlichkeiten im Auftreten der Geschlechter täuschen läßt, weiß, was es mit der Annahme auf sich hat, daß der Mann immer der werbende Teil ist; und man braucht nicht lange zu beobachten, um zu bemerken, wie wenig Anziehung in Wahrheit die völlig passive Weiblichkeit ausübt.
Was man gewöhnlich in den normativen Begriff der Weiblichkeit zusammenfaßt, die teleologische Geschlechtsnatur, kann unter dem Gesichtspunkte einer höheren Lebensauffassung keine Direktive für die Individualität abgeben. Der Wert dieses normativen Begriffes, in seinem Verhältnis zum Einzelnen betrachtet, liegt nicht in seinem inhaltlichen Teile; nicht als Bestimmung und Ergänzung innerlicher Zustände, nicht als sittlicher Gradmesser, wie es ein sehr verbreiteter und doch sehr gröblicher Irrtum will, bildet er ein schätzenswertes Produkt der Kulturarbeit. Als formgebendes Prinzip hingegen gefaßt, erhält die Geschlechtlichkeit, wenn schon nicht eine ausnahmslose, so doch eine möglichst ausgedehnte Geltung, ohne in Widerspruch mit der Forderung der individuellen Freiheit zu geraten, die keine Beschränkung nach Durchschnittsbestimmungen verträgt.
Suchen wir uns darüber Rechenschaft zu geben, was wir zuletzt, nachdem wir die Einflüsse der Lebensweise und der Beschäftigung, der Sitte und des Herkommens von der Persönlichkeit abgestreift und unser Urteil von konventionellen Voreingenommenheiten, und insbesondere von unserer subjektiven Geschmacksrichtung losgelöst haben, immer noch als weiblich oder unweiblich, als männlich oder unmännlich betrachten können, so werden wir auf dem Grunde unseres Bewußtseins eine begrifflich schwer zu umschreibende Empfindung finden. Auf konkrete Beispiele gelenkt, zeigt sie aber ziemlich deutlich, daß sie nicht gegen bestimmte Eigenschaften gerichtet ist. Wir halten die großen, heroischen Frauen der Geschichte, deren Handlungen alle Tatkraft, alle Entschlossenheit und Tapferkeit einer ausgezeichnet männlichen Gemütsart beweisen, eine Porcia, eine Arria, eine Charlotte Corday, nicht für unweibliche Erscheinungen, ebensowenig die liebevolle Hingebung, Milde und Aufopferungsfähigkeit, durch die viele Heilige der christlichen Legende eine ausgezeichnet weibliche Gemütsart beweisen, für »unmännlich« – woraus allein schon hervorgeht, daß auf sehr hohe Stufen der persönlichen Vollkommenheit die gewöhnlichen psychosexuellen Kategorien gar nicht mehr anwendbar sind. Diese Unterscheidungen bewegen sich mehr in den Niederungen des gewöhnlichen Lebens und an den Außenseiten der Persönlichkeit. Zum mindesten treffen sie eine ganze Reihe von Eigenschaften nicht, die eine Auszeichnung der Persönlichkeit jenseits des Geschlechtes bedeuten, wie beispielsweise Seelenstärke, sittliche Besonnenheit, Willenskraft, Standhaftigkeit, Mut, Zuverlässigkeit u. v. a. m. Und in dem sittlichen Ideal, welches durch das Christentum der Welt gegeben würde, waren auch Keuschheit, Demut, Friedfertigkeit, ja selbst das Unterordnungsbedürfnis unter die Leitung eines höheren Willens, als Vorzüge ohne Ansehung des Geschlechtes hingestellt.
Daß eine weibliche Persönlichkeit anders auf uns wirkt als eine männliche, liegt nicht so sehr in dem, was sie ist, sondern wie sie ist, in einer Art und Weise des Seins. Daher kommt es, daß eine Frau in ihrem Auftreten den Eindruck der vollendetsten Weiblichkeit erwecken kann, wenn sie auch in ihren Eigenschaften völlig von dem Durchschnittstypus ihres Geschlechtes abweicht. Aber unter allen Umständen widerwärtig wirkt eine Frau mit dem Betragen der gewöhnlichen Männlichkeit, oder ein Mann mit weibischen Gewohnheiten und Allüren. In diesem Sinne ist auch das Goethesche Wort gemeint: »Man soll nicht zu sehr aus dem Kostüme der Welt und Zeit, worin man lebt, schreiten, und ein Weib soll ihre Weiblichkeit nicht ausziehen wollen«. Hier wird von der Weiblichkeit wie von einem Gewand der Seele gesprochen; und als ein Kulturprodukt, das über alle individuellen Unterschiede hinaus normativen Wert behalten soll, ist sie nichts anderes als ein ästhetisches Prinzip. Wenn sie sich dadurch auch nur auf Schein und Oberfläche erstreckt, so kommt ihr hier doch keine geringere Bedeutung zu, als diesem Prinzip überall sonst.
Einen sehr bezeichnenden Beleg dafür, wie sehr das Formale bestimmend für die Vorstellungen über die Weiblichkeit ist, kann man aus den Rassenunterschieden holen. Bei den romanischen Frauen beispielsweise erscheint das spezifisch Weibliche viel ausgeprägter als bei den nordischen. Das geht so weit, daß den Frauen gewisser nördlicher Distrikte Deutschlands, wo ein magerer, sehniger, grobknochiger Menschenschlag von ernstem und ungeschmeidigem Wesen zu Hause ist, oft genug von Franzosen und selbst von Süddeutschen vorgeworfen wird, sie seien »gar keine Frauen« – obwohl sie auf die Männer ihres eigenen Stammes als vollwertige Repräsentantinnen der Weiblichkeit wirken. In der Tat ist der Abstand zwischen einer Pariserin und einer norddeutschen Kleinstädterin vielleicht größer als zwischen dieser und Männern mit kleinem, zierlichen Körperbau und weichem, heiteren, liebenswürdigen Wesen, wie sie zum Beispiel im österreichischen Militär nicht selten zu finden sind.
Was den Kulturmenschen vom barbarischen Menschen unterscheidet, ist nicht in letzter Linie seine Form; es hieße eines der wertvollsten Kulturgüter verkennen, wenn man die Lebensform, die durch die Tradition erhalten und fortgepflanzt wird, als etwas Nebensächliches behandelte. Gerade die Kulturfrauen, in deren Leben das ästhetische Prinzip einen so hohen Rang einnimmt und die ihm so wesentliche Vorzüge verdanken, haben alle Ursache, die formale Weiblichkeit als Normativ zu schätzen. Von den ethischen Normativen der Weiblichkeit, durch welche der Individualität kraft der primitiven Geschlechtsteleologie Grenzen gesteckt werden, sich zu emanzipieren, ist ein Recht – ihre formale Qualität zu bewahren, eine Kulturaufgabe der freien Persönlichkeit.
Schon allein die Widersprüche, die das Gebiet der Geschlechtspsychologie zu einem Labyrinth unlösbarer Meinungsverschiedenheiten machen, bezeugen, daß Männlichkeit und Weiblichkeit, als eine Art und Weise des Seins, mit den verschiedensten Eigenschaften vereinbar sind. Die Vorstellungen, die sich jedes Individuum von der Beschaffenheit des anderen Geschlechtes macht, haben wohl nicht eine bloße Form, sondern unzweifelhaft das Wesen bestimmter Eigenschaften zum Inhalt. Aber das bildet keinen Einwand. Denn diese Vorstellungen sind rein subjektiver Natur; sie entspringen zum größten Teile aus der persönlichen Eigenart, die in dem Wesen des anderen Geschlechtes das Andersgeartete und Ergänzende, das Komplementäre fordert und intuitiv voraussetzt. Als objektiver Maßstab für die psychischen Geschlechtseigentümlichkeiten können sie nicht dienen, weil sie so verschieden und gegensätzlich sind, wie es eben in der Natur alles Individuellen liegt.
Diese Auffassung der Weiblichkeit nicht als einer Wesensart, sondern als einer Wesensform wird daher auch nur jene Gruppe von Menschen befriedigen, die von vornherein, d. h. vermöge ihrer individuellen Beschaffenheit, den geistigen Geschlechtsunterschied als etwas Unwesentliches betrachten; sie wird aber jenen nicht genügen, die durch ihre Beschaffenheit – deutlicher gesagt, durch ihren erotischen Geschmack – dazu gezwungen sind, in den Individuen des anderen Geschlechtes ein toto genere verschiedenes Wesen zu suchen.
Zum Schlusse aber, nachdem wir der Freiheit der Individualität eine unbegrenzte Perspektive eröffnet und dem Begriff der Weiblichkeit dennoch eine normative Geltung gesichert haben, hindert uns nichts, nochmals ausdrücklich einzuräumen, daß die Mehrzahl der Frauen weder in den Eigenschaften des Charakters, noch in denen des Intellekts dem Manne gleich ist. Ja, diese Tatsache ist nicht zu leugnen; und sie wiegt schwer, sehr schwer für das Leben auch derjenigen Frauen, die nicht zur Mehrzahl gehören.