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Die Tyrannei der Norm

. Gewiß: es gibt viele Frauen, die das weibliche Durchschnittsmaß an Intellekt und Charakter weit überragen, viele Frauen, die zu anderen Lebensaufgaben als den hergebrachten ihres Geschlechtes taugen. Viele – aber gibt es genug?

Es könnte ja sein, daß das Weib mit entwickelter Persönlichkeit eine zu seltene Erscheinung ist, um in der Ökonomie der Gesellschaft Geltung zu finden. Es könnte sein, daß es bloß eine Ausnahme bleiben wird, ein vorübergehender Einzelfall, der keinen Einfluß auf die Einrichtungen der sozialen Gemeinschaft besitzt. Zu allen Zeiten hat es Frauen gegeben, die der Mehrzahl der Männer an Intelligenz und an Tatkraft gleich oder sogar überlegen waren; und doch haben sie die soziale Stellung des weiblichen Geschlechtes weder in der Gesetzgebung noch in den herrschenden Anschauungen zu verändern vermocht. Sie sind Ausnahmen gewesen und als Ausnahmen behandelt worden. Ausnahmen – das heißt, sie waren nicht Glieder einer Entwicklungsreihe, sie hatten keine Nachfolge, sie bezeichneten nicht den Anfang eines Weges, der, durch sie zuerst gebahnt, von kommenden Generationen weiter verfolgt und ausgebaut wurde.

Das unterscheidet die selbständigen weiblichen Individualitäten früherer Epochen wesentlich von den Trägerinnen der modernen Frauenbewegung. Diese begnügen sich nicht damit, zu sein, was sie sind, und für sich allein die Stellung zu genießen, die sich eine kraftvolle Persönlichkeit unter allen Umständen erobert; sie wollen die sozialen Konsequenzen ihrer Wesensbeschaffenheit ziehen und streben nach einer Umwandlung der herrschenden Normen zugunsten all derer, die anders geartet sind, als es diese Normen voraussetzen.

Darin liegt die große Bedeutung der Frauenbewegung, ihr Charakter als soziale Reformation. Aber dadurch wird sie auch – zum mindesten, was ihre dauernden Erfolge betrifft – von der Nachfolge abhängig, die sie sich zu schaffen vermag. Alles, was soziale Form, also Sitte, Brauch, Tradition werden soll, hat zur Voraussetzung eine Mehrheit; und die den Sitten zugrunde liegenden oder aus ihnen abstrahierten Anschauungen, die herrschenden Normen, sind der Ausdruck für den Durchschnittstypus, den die Menschen einer Epoche zeigen. Durch sie wird der einzelne mit seinen individuellen Bedürfnissen und Forderungen majorisiert; so weit er von ihnen abweicht, so weit muß er sich wider sie durchsetzen, oder, wenn seine persönliche Kraft nicht ausreicht, sich ihnen widerwillig unterordnen.

Dieser Kampf, der beständig von den abweichenden Einzelnen wider die herrschenden Normen geführt wird, um ihre Tyrannei zu brechen, greift tief in die Konstitution der Gesellschaft hinab, und der Prozeß, der sich dabei abspielt, ist nichts anderes als der organische Entwicklungsprozeß der Kultur selbst.

Man kann die in der menschlichen Gesellschaft vereinigten Individuen nach ihrem intellektuellen Charakter – wenn auch nur schematisch und ohne Berücksichtigung der Zwischenstufen – in zwei entgegengesetzte Gruppen scheiden. Sie entsprechen auf intellektuellem Gebiet den Tendenzen der Erhaltung und der Erneuerung, die nach der Darwinschen Auffassung bei der Entwicklung der Arten entscheiden; der große Psychiater Maudsley hat sie mit den kosmischen Grundgesetzen verglichen, indem er sagte:

»Die Gedankenwelt der Menschheit wird ebensogut von antagonistischen Kräften beherrscht, wie die den Planeten angewiesene Bahn: eine zentrifugale oder revolutionäre Kraft gibt den expansiven Impuls zu neuen Ideen, eine zentripetale oder konservative Kraft macht sich in der einschränkenden Gewohnheit geltend; und die Resultante aus diesen Gegensätzen bestimmt die Richtung, in welcher die geistige Entwicklung fortschreitet.«

Das Element der Beharrung im geistigen Leben wird durch die Mehrzahl repräsentiert, durch jene, welche die überlieferten Anschauungen für unveränderlich, die alten Wahrheiten für heilig und ewig halten, für göttliche Gebote oder für den Ausdruck eines über ihnen stehenden Sittengesetzes, dem sich jeder unterordnen muß.

Das Element der Bewegung aber, das Element der Erneuerung und Entwicklung, wird durch Einzelne repräsentiert, durch Individualitäten. Die Individualität ist die Quelle, aus welcher alle neuen Erkenntnisse, alle neuen Bedürfnisse, alle neuen Daseinsmöglichkeiten entspringen. In ihr offenbart sich die Natur selbst am unmittelbarsten und deutlichsten, weil die Ursprünglichkeit ihres Wesens nicht durch äußerliche Regulative, wie die der Sitte, des Herkommens, des Pflichtbegriffes, verwischt und verhüllt wird. Und diese Ursprünglichkeit als lebendige Kraft der Überlieferung entgegenzusetzen, durch die revolutionäre Gewalt einer abweichenden Eigenart erstarrte Lebensformen zu zersprengen und umzubilden, das ist ihre Mission in der sozialen Gemeinschaft.

Die Menschen der zentrifugalen oder progressiven Geistigkeit bewerten das Leben anders als die Menschen der konservativen. Ihnen gewährt die Vorstellung, daß sie einen neuen Weg eingeschlagen, daß sie ihren Fuß in das Unbekannte gesetzt, daß sie Gefahren und Wagnisse zu bestehen haben, dieselbe sittliche Befriedigung, wie den konservativen Individuen die Vorstellung, daß sie korrekt gehandelt und die Pflicht, die ihnen vorgeschrieben ist, erfüllt haben. Sie wollen nicht einem äußeren Gesetz, nicht einer überlieferten Regel gehorchen, sondern dem innern Gesetz ihres eigenen Wesens.

Je nach der Bedeutung ihrer Persönlichkeit bewegt sich das Schicksal dieser »Neuerer«, welchem Gebiet geistiger Tätigkeit sie auch angehören, von der bloßen Verkennung und Verspottung, über Mißachtung, Verfolgung, Elend, Wahnsinn bis zum Opfertod. Sie sind die Märtyrer der menschlichen Gattung. Ihnen verdankt sie jeden Schritt, den sie von den Zuständen der Tierheit aufwärts zu veredelter und verfeinerter Kultur gemacht hat. Und sobald ein Volk keine solchen abweichenden Individuen mehr hervorbringt, verfällt es dem Stillstand, der Erstarrung; seine schöpferische Kraft ist abgestorben.

Dennoch vollzieht sich auf allen Stufen der Kultur mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes der Kampf zwischen der progressiven und der konservativen Geistigkeit. Solange das abweichende Individuum ein einzelner ist, bleibt es geächtet; erst wenn es um sich eine Nachfolge versammelt, eine genügende Anzahl von Anhängern und Bekennern, weicht die herrschende Norm vor ihm zurück und gewährt ihm Raum.

In der intellektuellen Bewegung des 19. Jahrhunderts hat dieser Gegensatz zwischen progressiver und konservativer Geistigkeit unter dem Namen »freier Geist« und »Philister« seinen bekanntesten Ausdruck gefunden. Aus der studentischen Ausdrucksweise herübergenommen, in der er die bürgerlich beschränkte Lebensweise gegenüber der flotten Ungebundenheit bedeutet, ist der Name Philister zuerst von großen Persönlichkeiten zur Bezeichnung der ihren Bestrebungen feindlichen Menge benützt worden. Richard Wagner verstand unter Philister den Menschen ohne künstlerischen Sinn, Schopenhauer den Menschen ohne geistige Bedürfnisse schlechtweg. Er erklärte diesen Mangel als eine Folge »des streng und knapp normalen Maßes seiner intellektuellen Kräfte«. Lombroso nennt die Abneigung gegen das Neue, den Misoneismus, geradezu »ein Merkmal des normalen, ehrlichen Menschen«. Sonach müßte sich ein Individuum in demselben Grade, als es progressiv ist, von dem Normalen entfernen, da das Durchschnittsmaß der menschlichen Intelligenz nicht die Bewegungsfreiheit gestattet, die zur Erhebung über die herrschende Norm und zur Erfassung neuer Gedanken erforderlich ist.

Gegenüber der Frauenbewegung hat das autoritäre Philistertum eine besonders große Rolle gespielt. Und nicht bloß in der Praxis des bürgerlichen Lebens. Nirgends macht sich die unkritische Normenphilisterei so breit wie in der Literatur über »das Weib«. Die meisten Darstellungen gehen eher dahin, für das Weib generelle Bestimmungen aufzustellen und Normen der psychischen Geschlechtsdifferenzierung abzugrenzen, als der Individualität den angemessenen Platz einzuräumen. Nicht eine Formel für die unendliche Mannigfaltigkeit der individuellen Entwicklung ist das Ziel, sondern ein allgemeingültiges Kriterium, das die Lebensbedingungen des Individuums nach dem Geschlecht bestimmen und seine Stellung in der menschlichen Gesellschaft festlegen soll. Man sieht: das Bedürfnis nach der gesetzgeberischen Norm überwiegt bei jenen, die auf der Linie der konservativen Geistigkeit stehen, das Bedürfnis nach objektiver Erkenntnis; und selbst den freien Geistern unter den Männern geschieht es nur zu häufig, daß sie keine subtile Scheidung zwischen ihrem persönlichen Empfinden und ihrem kritischen Denken herstellen. Viele hervorragende Männer, die ihrer geistigen Richtung nach durchaus der freien Geistigkeit angehören, sind gegenüber dem weiblichen Geschlecht Philister. Die Gründe dafür liegen in der Wesensbeschaffenheit einer gewissen Art Männlichkeit; es ist ihre Erotik, die sie zum Mißbrauch der normativen Gewalt verleitet.

Das progressive Individuum weiblichen Geschlechtes muß also die Tyrannei der Norm zwiefach erdulden: es hat wider sich die Norm, die sich die herrischen Männernaturen vom Weibe geschaffen haben, und es hat wider sich die Norm, die als Resultante der weiblichen Durchschnittsbeschaffenheit regiert. Nicht nach seinen eigenen Eigenschaften wird es in seiner sozialen Stellung taxiert, sondern nach den Eigenschaften der Dutzendmenschen seines Geschlechtes, nicht nach dem, was es selbst ist, sondern nach dem, was am häufigsten vorkommt, was für die Oberflächen-Beobachtung am ehesten in die Augen springt, was als das Typische gilt. Wenn gegenwärtig die Auflehnung gegen diese Majorisierung, der im allgemeinen der einzelne Mann ebenso ausgesetzt ist wie die einzelne Frau, hauptsächlich unter dem weiblichen Geschlecht hervortritt, so ist das nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß der normative Typus den Mann so weit zu allen Freiheiten und Vorteilen seiner Klasse berechtigt, wie Staat und Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Form sie überhaupt gewähren. Dieser Typus kann einem geräumigen Panzer verglichen werden, der nach dem größten Maße zugeschnitten ist, vielleicht für den Schwächeren unbequem, doch für den Starken kein Hindernis seines Wachstums. Der normative Typus des Weibes hingegen gestattet der Entfaltung des Individuellen viel geringeren Spielraum: er ist privativ in seinen Wirkungen, ein beengendes Mieder, das von der Individualität zersprengt werden muß, wenn sie nicht ersticken will.

Eine sehr verbreitete Auffassung erblickt im Manne den Träger der bewegenden, zentrifugalen Geistigkeit, im Weibe die Verkörperung der beharrenden, zentripetalen, gemäß der naturwissenschaftlichen Anschauung, nach welcher bei dem männlichen Geschlecht die individualisierende, arterneuernde Tendenz, bei dem weiblichen die arterhaltende Tendenz überwiegt. Es ist eine der allgemeinsten normativen Vorstellungen, daß »das Weib« die Hüterin der Sitte, die Verteidigerin des Bestehenden und mit unlösbaren Banden an die Tradition gebunden ist.

Wenn das dem Durchschnittstypus gegenüber zutreffen sollte, so ist dagegen einzuwenden, daß die progressive Geistigkeit auch bei den Männern eine Eigenschaft der Wenigen und nicht der Mehrzahl ist. Alle revolutionären Epochen aber weisen die Namen von Frauen auf, wiewohl das weibliche Geschlecht von der Beteiligung an den öffentlichen Dingen immer durch sittliche Normen ausgeschlossen war.

Das klassische Beispiel dafür, daß der Impuls der Bewegung auch von dem weiblichen Geschlecht ausgehen kann, haben jene Frauen gegeben, welche die Ideen der modernen Frauenbewegung in die Welt brachten. Fast ein Jahrhundert lang mußten sie es sich gefallen lassen, als »Entartete« zu gelten. Sie waren nach den allgemeinen Anschauungen Mißratene, sie gehörten nicht zur bona species der Weiblichkeit.

Für sie gab es keinen Platz in den Normen, nach denen die sozialen Aufgaben des weiblichen Geschlechtes geregelt waren. Es ist noch nicht sehr lange her, seit man diese, über die Durchschnittsnorm der Weiblichkeit hinausragenden Individuen unterschiedslos mit der Bezeichnung »Mannweiber« abzufertigen pflegte; denn man konnte sie nur als unregelmäßige, hybride Erscheinungen betrachten, die störend in das Bestehende und Bewährte eingriffen, und die neuen Geleise, die sie zu bahnen suchten, nur als Irrwege, auf denen das Weib seiner »natürlichen Bestimmung« entfremdet, aus seinen natürlichen Grenzen herausgelockt wurde. Auch jetzt sind die Stimmen noch keineswegs völlig verstummt, die vor der gesamten Frauenbewegung als vor einem Symptom der Entartung warnen.

Vom Standpunkte der konservativen Geistigkeit aus ist diese Auffassung ganz berechtigt; für die progressiven Intelligenzen bedeutet sie allerdings keinen Vorwurf, sondern eine Auszeichnung. Wie man eine Erscheinung des sozialen Lebens bewerten will, hängt eben in erster Linie davon ab, zu welcher Art Mensch man gehört.

Vom Standpunkte der freien Geistigkeit aus ist es ein philiströses Bemühen, allgemeine Normen des psychischen Geschlechtsunterschiedes aufzustellen, an sie zu glauben als an eine Richtschnur, die der Einzelne zu befolgen hätte, oder nach denen sein persönlicher Wert zu bemessen wäre. Für den freien Geist wird ihre objektive Gültigkeit in dem Augenblick hinfällig, als hochstehende Individuen auftreten, die ihnen nicht entsprechen; für ihn gibt es lediglich Geschmacksurteile, nach denen jeder das seiner Eigenart adäquate Individuum des anderen Geschlechtes auswählt. Er sieht nichts Auszeichnendes darin, wenn eine Individualität die typischen Eigenschaften des Geschlechtes besitzt, so wenig wie er es für eine Auszeichnung hält, die Merkmale eines Standes oder einer Berufskategorie an sich zu haben. Daß sie frei ist vom Typischen wie vom Konventionellen, das ist die Auszeichnung der Individualität; sollte ihre Freiheit gerade im Punkte der Geschlechtskonvention eine Grenze haben? Ein Gesetz, das aus einem Mehrzahlsphänomen abgeleitet ist, besitzt keine Gültigkeit gegenüber der Individualität; es kann durchaus nicht den Maßstab bilden, nach welchem eine geistig hervorragende Erscheinung als »normale« oder »abnorme« zu klassifizieren wäre. Will man das abweichende Individuum beurteilen, so darf man sich nicht auf den Boden der jeweilig herrschenden Norm stellen; man muß es unter der Perspektive des evolutionistischen Gattungsbegriffes betrachten, von dem das arterneuernde Prinzip ebensowenig zu trennen ist als das arterhaltende. Im Lichte der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die das Geschaffene in ein Gewordenes und Werdendes verwandelt und gezeigt hat, daß die scheinbare Unveränderlichkeit der Arten in Wahrheit eine unbegrenzte Bewegung sei, erscheint jede Individualität als eine neue Daseinsmöglichkeit, eine Erweiterung der Gattung. Denn der verschwenderische Formenreichtum der Natur, der in den niedrigeren Regionen des Lebens unzählige Varianten und Spielarten hervorbringt, gipfelt in den höchsten menschlichen Rassen als individuelle Differenzierung.

Auch die Geschichte der menschlichen Gesellschaft ist als ein Fortschreiten vom Zwang allgemeiner Gesetze zur individuellen Freiheit aufzufassen. In primitiven sozialen Verbänden wird das Individuum am meisten dem Interesse der Gesamtheit untergeordnet; je höher die soziale Organisation steht, desto reicher ist sie an Formen, desto mehr individuelle Freiheiten gewährt sie.

Allein auch die vollendetste soziale Freiheit wird das Gleichgewicht jener antagonistischen Grundkräfte zur Voraussetzung haben müssen. Das Individuum unterdrücken zugunsten der Gesellschaft, ist eine archaistische Richtung – die Gesellschaft der Willkür des unbeschränkten Individuums preisgeben, eine dekadente. Die konservative Tendenz der Mehrzahl bildet ein notwendiges und unentbehrliches Gegengewicht zu den Tendenzen der progressiven Geistigkeit, ohne welches das soziale Leben der Menschheit ebensowenig bestehen bleiben könnte, wie das Weltall ohne die Wirkung der Schwerkraft gegenüber der Flugkraft. Dauer und Stabilität wird den Zuständen der menschlichen Gesellschaft nur durch die Mitwirkung der zentripetalen Geistigkeit verliehen. In Zeiten, in denen die zentrifugalen Tendenzen das Übergewicht gewinnen, in den Zeiten der Umwandlung, des Überganges, der »Umwertung«, haben die allgemeinen Zustände etwas Haltloses, Unsicheres; alle gültigen Werte werden Problem, das Leben erschöpft sich in ephemeren Gebilden, die aufgehen und verschwinden, ohne eine dauernde Spur zu hinterlassen. Die Tradition ist ein Werk der konservativen Mehrheit; für jede Kultur aber bedeutet die Tradition die einzig zuverlässige Grundlage, das organische Prinzip, durch das sie erst ein einheitliches Gebilde wird und Kontinuität erhält.

Es ist ein sehr gewöhnlicher Fehler der freien Geister, daß sie bei der Propaganda der Freiheit die Beschaffenheit der Durchschnittsmenschen nicht berücksichtigen, daß sie in dem Philister bloß die Engherzigkeit brandmarken, ohne seiner sozialen Aufgabe gerecht zu werden.

Die verächtliche Note, die in dem Namen Philister mitklingt, verrät, daß er von dem Felde der Polemik stammt. Aber sollte auf dem Felde der Betrachtung der freie Geist nicht aufhören können, Partei zu sein? Mit einem weniger gehässigen Wort bezeichnet, darf der Philister der Normengläubige heißen.

Entspringt doch aus dem Verhältnis zu den Normengläubigen die soziale Funktion der progressiven Geistigkeit. Die Freiheit im negativen Sinn, das Freisein von Geboten und äußeren Regulativen, ist nur ein Teil von ihr; als positive Kraft ist sie schöpferisch, sie bringt aus sich Ideen hervor, deren weitere Bestimmung es ist, von anderen übernommen zu werden, für andere die Richtung anzugeben. Sie schafft neue »Ideale« – das heißt im Sinne einer von Metaphysik freien Interpretation Richtungslinien, in denen sich die Entwicklung der menschlichen Gattung fortbewegt.

Wenn der negative Teil der Freiheit das Individuum aus der sozialen Gemeinschaft loslöst, so wird es durch den positiven Teil desto inniger mit ihr verbunden. Soweit die progressive Geistigkeit sittlich schöpferisch ist, so weit ist sie, ähnlich wie die künstlerische Genialität, auf ein Publikum verwiesen. Der Gedanke, eine neue Lebensform zu schaffen, ein neues Gesetz zu verkünden, hat immer zur heroischen Stimmung der ganz Großen unter den Menschen der progressiven Geistigkeit gehört. Mit diesem Gedanken wurzeln sie in der Gattung, in dem Mysterium, das sich hinter dem Wesen der Entwicklung verbirgt. Damit bestätigen sie, daß sie der erste Ausdruck für etwas sind, das in den kommenden Generationen allgemein werden wird, die Vorläufer für andere, eine Ankündigung der Natur, daß die Gattung noch lebendig, noch in der Bildung begriffen ist. Alle die Vorstellungen, die im Bewußtsein der Gesellschaft als sittliche Normen auftreten, der ganze Gehalt an moralischen und intellektuellen Werten, die im Leben der Mehrzahl bestimmenden Einfluß haben, sie sind einmal von Einzelnen zuerst gedacht und empfunden worden. Bis zu einem gewissen Grade bildet sich die Mehrzahl nach den Idealen der Einzelnen. Ohne diese Wirkung besitzen diese Ideale keinen Zusammenhang mit der Entwicklung, sie sind eine vergängliche Laune, die mit ihrem Träger abstirbt und verschwindet.

Allerdings geht davon nur das in den allgemeinen Besitz über, was den Bedürfnissen und Fähigkeiten der Mehrheit entspricht; und der Prozeß, durch den sie, in Normen verwandelt, Gemeingut werden, spielt sich unter der Schwelle des sozialen Bewußtseins ab. Es ist eine notwendige Beschränktheit der konservativen Geistigkeit, daß sie die Genesis der Normen nicht erkennt und sie als etwas Feststehendes, nicht als etwas Gewordenes und Veränderliches betrachtet. In dieser Voraussetzung liegt die bindende Gewalt der Normen; das Bedürfnis der Normengläubigen, sich an sie zu halten als an ein unfehlbares Gesetz, wird nur durch die Vorstellung befriedigt, daß er einem höheren, nicht von Einzelnen herstammenden Willen gehorcht. Er verehrt in der Norm den Ausdruck des sozialen Willens, der Gesellschaft, der sich zu widersetzen für ihn die Vernichtung wäre, weil er für sich allein nicht bestehen könnte.

Wenn der Begriff der Entwicklung, auf die menschliche Gesellschaft angewendet, einen Sinn haben soll, so ist eine fortschreitende Hebung des Durchschnittstypus seine notwendige Voraussetzung. Undenkbar aber ist es, daß sich im Laufe der Entwicklung ein Fortschreiten der großen Mehrzahl von der Stufe der Normengläubigkeit zur Stufe der freien Geistigkeit vollziehen könnte. Zur freien Persönlichkeit muß man geboren sein wie zu einem anderen Talente, das geistige Produktivität voraussetzt. Denn auch jene freien Persönlichkeiten, deren geistige Bedeutung nicht über die private Sphäre hinausreicht, sind insofern produktiv, als sie die Intuitionen, die ihrem Handeln und Urteilen zugrunde liegen, aus sich selbst hervorbringen. Was daher niemals aus dem Leben der progressiven Geistigkeit in den Besitz der Normengläubigen übergehen, niemals »Norm« werden kann, das sind die Grundinstinkte und die ganze Gesinnung, die damit zusammenhängt. Es ist ein Vorrecht der Starken, das Leben nach eigenen Impulsen zu gestalten, allein es kann keine Maxime für die Schwachen, also für die Mehrzahl bilden.

Auf das Verhältnis zwischen der progressiven und der konservativen Geistigkeit spielt Nietzsche an, wenn er sagt: »Es würde eines tieferen Geistes vollkommen unwürdig sein, in der Mittelmäßigkeit an sich schon einen Einwand zu sehen. Sie ist selbst die erste Notwendigkeit dafür, daß es Ausnahmen geben darf: eine hohe Kultur ist durch sie bedingt.« Und er berührt die gesetzgeberische Mission des freien Geistes mit dem Worte Zarathustras: »Werdet hart, meine Freunde; denn ihr sollt eure Hand auf Jahrtausende legen« – während sein Geistesverwandter Max Stirner den Kampf gegen alle normativen Bestrebungen bis zu ihrer völligen logischen Vernichtung getrieben hat. Max Stirners Werk ist zwar eine große Tat des abstrakten Denkens, die absoluteste Äußerung der zentrifugalen Geistigkeit, aber unfruchtbar für die realen Zustände der menschlichen Gemeinschaft.

So lange die Frauenbewegung noch völlig revolutionär war, hatte sie alle Berechtigung, in dem Normengläubigen nur den Philister schlechtweg zu erblicken. Sie konnte diese ganze Art Mensch ablehnen und sich als ihr Gegensatz empfinden, wenigstens auf dem Gebiete der weiblichen Probleme. Nun ist aber der Augenblick schon gekommen, da sie aus dem revolutionären Stadium in das organisatorische übergehen, das heißt, sich in ein normatives Verhältnis zu ihren Anhängern setzen muß. Ihre Forderungen beginnen sich zu realisieren, sind zum Teil schon Rechtszustand geworden, und die wirtschaftlichen Verhältnisse bereiten die äußeren Bedingungen ihrer Verwirklichung rasch vor.

Damit verändern sich ihre Aufgaben und Perspektiven. Was früher der enthusiastische Traum weniger Einzelner war, hervorgegangen aus den Impulsen starker und ungewöhnlicher Frauen, das Bekenntnis einer über das Durchschnittliche weit hinausführenden Wesensart, soll nun Gemeingut vieler werden, es soll die neue Norm bilden, nach welcher das Leben dieser Mehrheit einzurichten wäre. Denn darunter gibt es natürlicherweise mehr Normengläubige als freie Geister, Menschen, die sich nicht dazu erheben können, ihre Eigenart in Freiheit auszuleben, unbekümmert um die Meinung und das Verhalten der Gesellschaft, der sie angehören; sie wollen diese Freiheit unter der Form eines neuen Gesetzes begreifen, als eine neue höhere Sittlichkeit, zu der sich jeder Fortgeschrittene bekennen muß.

Werden die Anschauungen der Frauenbewegung diesen Anspruch erfüllen? Oder waren sie vielleicht in ihren wesentlichen Stücken nur auf den Ausnahmefall der Weiblichkeit zugeschnitten? Müßte nicht, wenn sie sich verwirklichen sollten, eine Veränderung im Durchschnittstypus der Weiblichkeit eintreten?

Aber warum sollte eine solche Veränderung nicht auch in diesem Fall soweit möglich sein, als sie bisher bei allen sozialen Umwälzungen die notwendige Voraussetzung und Folge war? So weit als sie schon im Begriff der Entwicklung selbst enthalten ist?

Die Forderungen, welche die Frauenbewegung an die soziale Gemeinschaft stellt, beruhen auf der Annahme, daß ein großer Teil des weiblichen Geschlechtes einer Erhebung aus der Abhängigkeit und zu selbständiger Lebensführung fähig sei, sobald der Druck der äußeren Verhältnisse zugleich mit dem Druck der herrschenden Normen aufhört.

Es ist charakteristisch für die Zeiten des Überganges, daß mit einem Schlage die Anzahl der divergierenden Individuen wächst – vielleicht, weil der Druck der herrschenden Normen abgenommen hat, vielleicht, weil die suggestive Wirkung der neuen Ideen sich zu verbreiten beginnt. Alle, die zu schwach waren, sich aufzulehnen oder sich durchzusetzen, alle, die nicht die geistige Kraft besaßen, sich eine abweichende Eigenart einzugestehen, kommen aus ihrer Verborgenheit hervor und sammeln sich als Anhänger um jene, die durch ihr Auftreten mit dem Nachdruck eines mächtigen Willens und eines starken Bewußtseins weithin sichtbar das verkünden, was sich in dem Wesen der Schwächeren nur mit verwischten und undeutlichen Zügen ausspricht. Deshalb pflegt mit dem Wechsel der Lebensideale auch ein neuer Typus Mensch in den Vordergrund zu treten. Ja beinahe jede Generation hat eine andere geistigsittliche Physiognomie und unterscheidet sich mehr oder weniger von der vorhergehenden – das beweist die bekannte, stets wiederkehrende Klage der alten Leute über die Beschaffenheit der Jugend. Auch ist im jugendlichen Alter bei vielen Menschen, die später in die konservative Geistigkeit zurücksinken, das progressive Element vorherrschend.

Auf eine Umbildung des Durchschnittstypus kann zudem durch eine veränderte Erziehung hingewirkt werden – das ist durch alle Einflüsse, denen ein Individuum während seiner Entwicklungsjahre mittelst planmäßiger Veranstaltungen ausgesetzt wird; und durch ein verändertes Milieu – das ist durch alle Einflüsse, die in Gestalt äußerer Lebensverhältnisse einen bestimmenden Druck ausüben. Die wirtschaftlichen Umwälzungen, die für die soziale Stellung des weiblichen Geschlechtes so entscheidend sind, tragen wesentlich dazu bei, den Durchschnittstypus zu verändern, indem sie eine ganze Reihe von Eigenschaften unnütz oder sogar nachteilig machen, die früher für das Weib förderlich und unentbehrlich waren und daher mit allen Suggestivmitteln herangezüchtet werden mußten. Aus den neuen Aufgaben wachsen neue Fähigkeiten. Hat doch der Engländer Bury als das stärkste Argument zugunsten des Frauenwahlrechtes die Möglichkeit betrachtet, daß sich eine neue weibliche Eigenart entwickeln werde. »Eine solche Möglichkeit bot sich nicht mehr seit fast zweitausend Jahren.«

Allerdings – wenn kraft einer neuen Konvention »das Weib« künftig unabhängig, selbständig, willensstark, energisch und ähnliches sein »soll«, dann würde wieder die Tyrannei einer Norm herbeigeführt, mit aller Selbstverblendung und Heuchelei im Gefolge, die gewöhnlich unter der Herrschaft äußerlicher Vorschriften auftritt.

Aber die Forderungen der Frauenbewegung schließen eine solche Majorisierung nicht in sich, gesetzt selbst, die Hebung des Durchschnittes wäre eine zu optimistische Voraussetzung. Ihr Charakter als Freiheitsbestrebung, die Idee der freien Selbstbestimmung nach Individualität, die ihr Ausgangspunkt, ihre Grundlage und ihre Auszeichnung ist, werden sie immer zu einer Sache der Minorität machen. In der Frauenbewegung kämpft der weibliche Minoritätstypus um seine soziale Normierung; und sollte eine hochentwickelte Kulturgesellschaft, die mit allen Mitteln gesteigerter Erkenntnis ausgerüstet ist, nicht auch einer Minorität den ihr gebührenden Platz gewähren können?


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