Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ich habe mich in diesem Buche nach meiner Weise mit den Problemen der Frauenbewegung beschäftigt. Wenn ich auch in einigen Punkten nicht mit ihr übereinstimme, so halte ich doch die Frauenbewegung für eine jener Erscheinungen, durch welche sich die Gegenwart vor allen vorhergehenden Epochen menschlicher Geschichte vorteilhaft unterscheidet – noch mehr: sie scheint mir eine der höchsten Auszeichnungen einer Zeit zu sein, die im übrigen durch ihre Verarmung an Idealen, an hochgestimmten Gefühlen, an gläubigem Enthusiasmus den Charakter des Niedergangs trägt.
Vieles in meinen Ausführungen mag schon oft ausgesprochen worden sein – die ersten Aufzeichnungen sind fünfzehn Jahre alt, und der Anstoß dazu reicht in meine frühesten Jugenderlebnisse zurück – aber den Kenner der einschlägigen Literatur werden die neuen Gesichtspunkte, die hier aufgerollt sind, für die bekannten entschädigen, die er mit in den Kauf nehmen muß; und die Nichtkenner, die ja gegenüber den Ideen der Frauenbewegung immer noch die erdrückende Mehrzahl sind, müssen zufrieden sein, wenn sie ein möglichst umfassendes Bild davon gegeben finden. Auch die Wiederholungen, welche die lose Form der Aneinanderreihung mit sich brachte – zum Teil sind diese Essays schon in Zeitschriften veröffentlicht worden – dürfen denjenigen nicht verdrießen, der weiß, daß gewisse Dinge nicht oft genug wiederholt werden können, weil das Selbstverständliche nicht das Herrschende, das Bewiesene nicht das Anerkannte ist.
Die Bestrebungen der Frauenbewegung lassen sich auf drei verschiedene Ursachen zurückführen, und sie zielen nach drei verschiedenen Richtungen, die meines Erachtens nicht miteinander verwechselt werden dürfen, wenn sie auch auf das innigste zusammenhängen und erst in ihrer Gesamtheit das Wesen der Frauenbewegung ausmachen. Diese dreifache Wurzel ist die ökonomische, die soziale und die ethisch-psychologische.
Während der letzten Jahre, in denen die Bewegung aus dem theoretischen Stadium in das realpolitische überzugehen begann, haben die ökonomischen und sozialen Probleme den Vordergrund behauptet; das ethisch-psychologische ist daneben mehr zurückgetreten. Ich meinesteils habe das ökonomische gar nicht, das soziale nur vorübergehend behandelt. Wenn ich auch keineswegs verkenne, daß ohne die ungeheuere wirtschaftliche Umwälzung, die durch die Maschine hervorgerufen wurde, die ideellen Forderungen der Frauenbewegung schwerlich eine Verwirklichung erfahren könnten, so lege ich doch ein besonderes Gewicht darauf, daß es nicht die materielle sondern die ideelle Seite der Frage war, die historisch ihren Ausgang gebildet hat; und wie hoch man auch praktisch den Einfluß ökonomischer Momente bewerten muß, die ideellen Postulate der Frauenbewegung sind doch ihr wichtigster Bestandteil. Denn alle wirtschaftlichen Errungenschaften würden sehr wenig an dem innerlichen Verhältnis der Geschlechter ändern, und der selbständige Erwerb wäre nur eine neue Form der Abhängigkeit für die Frau, wenn nicht ganz andere Entwicklungseinflüsse zu ihren Gunsten wirksam werden.
Nicht von der »Großmut und Gerechtigkeit der Männer«, wie der alte Hippel meinte, kann das weibliche Geschlecht die Anerkennung der Gleichberechtigung erwarten. Obwohl ich persönlich unbedingt glaube, daß diese Eigenschaften die Auszeichnung der edlen Männlichkeit bilden, so bin ich doch der Meinung, daß die Welt durch elementare Vorgänge und nicht durch Großmut und Gerechtigkeit bewegt wird. Wie für die ökonomischen Lebensbedingungen gilt das auch für die ethisch-psychologischen Beziehungen der Geschlechter zueinander.
Ich hebe das ausdrücklich hervor, um mich im vorhinein gegen den Vorwurf zu verwahren, als wollte ich für das weibliche Geschlecht gegen das männliche Partei ergreifen. Der Frage, ob einem von beiden Geschlechtern der Vorzug gebühre, bin ich aus dem Wege gegangen. Um da ohne Voreingenommenheit Richter zu sein, dürfte man keinem von beiden angehören. Wenn ich ganz privatim und unverbindlich meinen subjektiven Geschmack bekennen sollte, so würde ich wohl dem männlichen Geschlechte den Vorzug geben – aber das scheint eben eine weibliche Voreingenommenheit zu sein, die mit dem Geschlechte zusammenhängt.
Von der Majorität der Männer wie der Frauen gilt leider, was Kant von der Menschheit im allgemeinen sagte: »fragt man, ob die Menschheit als eine gute oder schlimme Rasse anzusehen sei, so muß ich gestehen, daß damit nicht viel zu prahlen sei.« Gewiß! Mit dem gewöhnlichen Weibe ist so wenig zu prahlen wie mit dem gewöhnlichen Manne; und man sollte endlich aufhören, dem einen oder dem anderen Geschlecht als Ganzes eine Zensur auszustellen. Diese Methode der Generalbewertung ist eine der plebejischen geistigen Gewohnheiten der Gegenwart; denn durch sie wird gerade das ausgezeichnete Individuum, der Mensch, der den Durchschnitt überragt, mit der großen Menge zusammengeworfen.
Der Durchschnittsmensch – gleichviel, ob sein Leben sich im Salon oder in der Fabrik abspielt – ist keine interessante Erscheinung; und durch die typischen Geschlechtsmerkmale wird seine Psyche nicht im geringsten anziehender. Erst dort, wo er von dem gewöhnlichen Typus seines Geschlechtes abweicht, wo er etwas Individuelles für sich hat, wo er aus dem Geleise des Herkömmlichen heraustritt, vermag er Interesse einzuflößen. Damit erhält sein Leiden und sein Glück persönliche Schicksalstiefe: es ist nicht mehr gattungsmäßig, also nicht mehr vulgär.
Man könnte den Vorwurf gegen dieses Buch erheben, daß es zu sehr auf den Ausnahmefall der Weiblichkeit und Männlichkeit hinziele; weil hie und da ein atypisches Individuum vorkommt, sei man noch nicht berechtigt, die Geschlechtsdifferenzierung der ganzen Breite nach anzuzweifeln.
Aber was wissen wir von der psychosexuellen Beschaffenheit der Menschen, die wir kennen? Wie schwer ist es überhaupt, die menschliche Psyche in ihrer Nacktheit zu überraschen! Wie ungern läßt sie sich berühren, wie gewandt maskiert sie sich hinter konventionellen Ausflüchten, sobald sie merkt, daß sie beobachtet wird! Und wie plump, wie ungeschlacht sind die Ausdrucksmittel, mit denen wir diesem zarten, flüchtigen, vielgestaltigen Wesen beikommen wollen!
Wird denn ein Mensch, der in seinem Empfinden von dem gewöhnlichen abweicht, verstanden? Teilt er sich denn jenen mit, von welchen er sich unterscheidet? Kann er sich denn beim besten Willen mitteilen? Nur die Oberfläche und das Konventionelle tritt im Verkehr der Menschen untereinander hervor; das Innerliche und Eigenartige enthüllt sich nur dem Gleichgestimmten. Darin liegt mit ein Grund, warum das Atypische so oft unsichtbar bleibt, und das Durchschnittliche den Anschein einer viel größeren Ausbreitung erhält, als es in Wirklichkeit besitzt.
Ohne die Aussagen derjenigen, die in ihren Werken ihr Selbst der Welt geschenkt haben, was wüßten wir von der menschlichen Natur? Solche Aussagen sind das Material, das ich im zweiten Teile dieses Buches auf seine symptomatische Bedeutung hin betrachte. Deshalb hat dieses Buch mehr einen Erkenntniswert als einen propagatorischen. Gegner zu überzeugen, erwarte ich nicht, denn das würde heißen, Andersgeartete zu bekehren. Und ich glaube nicht an eine Verständigung durch intellektuelle Mittel unter Personen von ursprünglicher Wesensverschiedenheit. Auch wenn sie intellektuell einander gleichstehen, werden sie sich gegenseitig durch verstandesmäßige Argumente nicht nähern können, da alle Überzeugungen – zum mindesten die echten – nur Äußerungen der Wesenheit sind. Im Grunde genommen reden wir nicht, um zu überzeugen, sondern um das zu sagen, was die Natur uns aufgetragen hat. Wer in den Künsten des Denkens bewandert ist, weiß, daß sich alles behaupten und beweisen, und alles bezweifeln und widerlegen läßt. Der Kampf der Meinungen, mit welchen Methoden, wie gründlich und sachlich er auch geführt wird, bleibt ein müßiges Spiel, sobald er nicht den Ausdruck für Grundtriebe bedeutet, die in der Individualität des denkenden Subjektes lebendig sind.
Möge dieses Buch jenen, die zu mir gehören, weil sie ähnlich empfinden wie ich, in die Hände gelangen und ihnen die Freude bereiten, die uns erfüllt, wenn wir unser Inneres im Spiegel der Erkenntnis erblicken.
Wien, am letzten Dezember 1904
Rosa Mayreder