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Neuntes Kapitel

Wer sich durch Reue nicht beschwicht'gen läßt.
Gehört nicht Erde oder Himmel an.
Denn selbst des Ew'gen Grimm versöhnt die Reue.

Shakspeare.

Mr. Ramsdens Diener traf in Overton ein und berichtete, daß er den Doktor nicht zu Hause getroffen und deshalb Mrs. Forster sammt dem Briefe in der Anstalt zurückgelassen habe. Die Wärter hatten die Zeit von Doktor Beddingtons Abwesenheit nicht namhaft gemacht, und Mr. Ramsden, welcher glaubte, der Doktor sei wahrscheinlich nur für den Abend ausgegangen, stellte keine weitere Nachfragen an, weil er nach ein paar Tagen selbst nach dem Irrenhause zu gehen und Mrs. Forster mit sich zurückzubringen gedachte. Am dritten Tage nach ihrer Entfernung brach er nach der Anstalt auf und als er von Mrs. Forsters Zustand hörte, bereute er bitterlich, daß er sich hatte zu einem Schritte verleiten lassen, der mit so ernstlichen Resultaten drohte. Sie fortzuschaffen war unmöglich, und gegen die Wärter mochte er sich nicht so weit blosstellen, daß er ihnen erklärte, sie sei wirklich gesunden Geistes; er nahm daher seinen Brief an Doktor Beddington, dessen Urlaub noch vierzehn Tage dauerte, wieder an sich und kehrte mit schwerem Herzen wieder nach Overton zurück. – Auch Miß Dragwell war sehr erschüttert über die Kunde von dem unglücklichen Ausgang ihres Schwankes und faßte den festen Entschluß, dem sie auch treu blieb, sich nie wieder einen praktischen Spaß zu Schulden kommen zu lassen.

In der Zwischenzeit hatte sich Newton Forster möglichst beeilt und kehrte, einige Tage nach dem Abgange seiner Mutter in's Irrenhaus, mit der Schindelnladung zurück. Er war noch nicht zehn Minuten am Lande, als man ihm schon die traurige Nachricht von ihrem angeblichen Wahnsinn und ihrer Versorgung in einer Heilanstalt mittheilte. Er eilte nach Hause, wo er seinen Vater in tiefer Schwermuth antraf; letzterer empfing seinen Sohn unter einem Strom von Thränen und schien ganz in Trauer über seinen verwaisten Zustand vertieft zu sein. Am nächsten Morgen brach Newton nach der Irrenanstalt auf, um nach seiner Mutter zu sehen; er wurde eingelassen und fand sie in einem Zustande wüthenden Deliriums auf dem Bette liegen; sie kannte ihn nicht. Ihr Irrsinn war ihm nach dem Gesehenen und nach den Versicherungen der Wärter nicht mehr zweifelhaft; er gab letzteren die Hälfte seiner kleinen Finanzen, um sie zu einer freundlichen Behandlung der Kranken zu veranlassen, und kehrte nach Overton zurück, wo er sich die ganze Zeit mit seinem Vater einschloß. Ein paar Tage später verkündigte der Ausrufer, daß die Waarenvorräthe des Optikers Mr. Nicholas Forster zu öffentlicher Versteigerung ausgesetzt seien.

Nicholas Forster ging es, wie vielen andern Gatten, denn obgleich ihn sein Weib ohne Unterlaß geärgert und gequält hatte, war er doch so sehr an sie gewöhnt worden, daß er sich nach ihrer Entfernung aus dem Hause elend fühlte. Die Gewohnheit ist sogar mächtiger, als die Liebe, und manches Ehepaar fährt fort, in Folge dieses bindendsten von allen menschlichen Gefühlen, gemächlich mit einander zu leben, nachdem die zartere Empfindung längst verschwunden ist. Nicholas beschloß, Overton zu verlassen, und Newton, welcher bemerkte, daß das Glück seines Vaters dabei auf dem Spiele stand, fügte sich unverweilt in seinen Wunsch. Als der alte Mann sich vornahm, aus der Stadt zu ziehen, die er so lange bewohnt hatte, war er über seine künftigen Pläne durchaus noch nicht mit sich im Klaren, da vorderhand in seinem Innern blos der Gedanke die Oberhand behauptete, einen Schauplatz zu meiden, der für ihn so viele schmerzliche Erinnerungen barg. Newton, welcher glaubte, sein Vater habe sich bereits einen Lebensplan entworfen, mochte ihn nicht mit Fragen über seine Absichten aus seiner tiefen Trauer wecken, obschon Nicholas nie auch nur einen Augenblick dieser wichtigen Frage geweiht hatte. Als Alles bereit war, fragte Newton seinen Vater, in welcher Weise er zu reisen gedenke.

»Je nun, ein Außenplatz der Postkutsche wird das Wohlfeilste sein, Newton, denn wir haben kein Geld übrig. Es wird gut sein, wenn du uns schon für diesen Abend einschreiben lässest.«

»Wohin, Vater?« fragte Newton.

»Das weiß ich in der That selbst nicht, Newton,« versetzte Nicholas, der jetzt erst aus seinen Träumen erwachte.

Diese Antwort führte zu einer Berathung, und nach vielen Für- und Widerreden wurde beschlossen, daß Nicholas nach Liverpool ziehen und sich daselbst niederlassen solle. Die Schaluppe, welche Newton kommandirte, war im Sterne schadhaft erfunden worden, und da die Wiederherstellung eine Weile in Anspruch nahm, so erhielt Newton einige Tage Urlaub, um seinen Vater auf der Reise begleiten zu können. Der aus dem Meere aufgelesene Koffer war zu schwer, weshalb derselbe mit der weniger werthvollen Habe Mr. Dragwells Obhut anvertraut wurde, während Newton den Rest an sich nahm, bis er für Unterbringung der Gegenstände einen sichern Ort auffinden konnte.

Mit wenig Geld und ohne Bekanntschaft in Liverpool angelangt, miethete Nicholas einen kleinen Laden, und Newton blieb bei seinem Vater, um es ihm gemächlich zu machen, bis sein Urlaub abgelaufen war, nach welcher Zeit er zu der Schaluppe zurückkehrte, um ihre Führung wieder aufzunehmen. Zuerst aber begab er sich nach dem Irrenhause, wo man ihm mittheilte, seine Mutter sei zwar weniger ungestüm, aber in einem so schwachen Zustande, daß er nicht vorgelassen werden könne. Doktor Beddington war noch nicht zurückgekehrt, aber ein Arzt, der in dessen Abwesenheit die Anstalt besorgte, bemerkte Newton, er zweifle nicht, die Patientin werde sich aus ihrem jetzigen Zustand von Erschöpfung wieder erholen;, auch sei Hoffnung zu Wiederherstellung ihres Verstandes vorhanden. Newton kehrte mit erleichtertem Herzen nach Overton zurück und segelte am andern Tage in seiner Schaluppe nach Bristol aus. Widrige Winde hielten ihn mehr als vierzehn Tage auf seiner Fahrt auf, und da bei seiner Ankunft die Ladung noch nicht bereit war, so unterhielt er sich damit, daß er die Stadt und ihre Umgebung betrachtete. Endlich war die Ladung an Bord, und Newton, der sich sehnte, über den Zustand seiner Mutter Gewißheit einzuziehen, beeilte sich, seinen Clarirungsschein nebst anderen Papieren auf dem Zollhause in Empfang zu nehmen. Es wurde spät, bis er mit dem Hause, dessen Ladung die Schaluppe übernommen hatte, in's Reine kommen konnte; da aber Wind und Fluth günstig war, dergleichen der Mond am Himmel stand, so beschloß er, noch in derselben Nacht auszufahren. Er hatte seine Papiere sorgfältig in seinen Rock eingeknöpft und war eben im Begriffe, nach dem Boote in dem Hafendamme zu gehen, als er von zwei Männern, welche von hinten auf ihn zustürzten! ergriffen wurde, und noch ehe er Zeit hatte, sich nach der Ursache umzusehen, streckte ihn ein Streich besinnungslos zu Boden.

Der Leser wird wahrscheinlich ein wenig verdrießlich sein über das Unglück, das unsern Helden zustieß, und möchte vielleicht den Grund kennen, der zu dieser grausamen Behandlung Anlaß gab. Mich dagegen freut nichts mehr, als wenn ich meinen Haupthelden in einem Zustande von Erledigung weiß, und belasse ihn mit der größten Gleichgültigkeit darin, da etwas der Art meiner Bequemlichkeit zusagt.

Im gegenwärtigen Falle habe ich Gelegenheit, wieder zu Mrs. Forster und andern untergeordneten Personen meiner Erzählung zurückzukehren; sintemal nun Newton auf dem Boden liegt und hors de combat ist, so mag er denn liegen bleiben, bis ich ihn wieder brauche.

Bei Doktor Beddingtons Rückkehr hatte sich Mrs. Forster noch lange nicht von ihrem schweren Anfalle erholt. Wie sich denken läßt, fand er sie vollkommen vernünftig, aber dennoch setzte er keinen Zweifel in die Versicherungen ihrer Wärter, daß sie zur Zeit, als sie von Mr. Ramsden in die Anstalt geschickt wurde, wirklich geisteskrank war. Letzterer hielt sich fern, bis sich Mrs. Forsters Krankheit entschieden hätte, und gedachte, bei einem günstigen Ausgange Doktor Beddington zu besuchen und ihm die näheren Umstände auseinanderzusetzen – wenn die Kranke aber stürbe, über die ganze Sache zu schweigen. Mrs. Forsters Wiedergenesung ging nur langsam vor sich; ihr Geist war mit Kummer und – was noch unendlich wichtiger ist – mit tiefer Reue beladen. Mr. Spinney's muthmaßlicher Tod war durch ihre Heftigkeit herbeigeführt worden, und sie sah mit eben so großer Unruhe in die Zukunft, als sie mit Gewissensbissen auf die Vergangenheit zurückblickte. Wenn sie sich ihr gefühlloses Benehmen gegen ihren Gatten in's Gedächtniß rief, – wenn sie bedachte, wie viele Jahre der Bitterkeit sie ihm bereitet, – wie sie ihr eheliches Gelübde, das feierliche Versprechen vor Gott, ihn zu lieben, zu ehren und ihm zu gehorchen, täglich und stündlich verletzt hatte, – wenn sie sich ihren ungerechten Haß gegen ihren Sohn, den gänzlichen Mangel an Liebe gegen Andere und die Vernachlässigung ihrer Pflichten vergegenwärtigte, während sie nur den selbstsüchtigsten und boshaftesten Leidenschaften den Scepter ließ, – so erkannte sie mit Thränen bitterer Reue und Selbstzerknirschung an, daß ihre Strafe gerecht war. Mit strömenden Augen, gerungenen Händen und gebeugten Kniee flehte sie Den um Gnade und Vergebung an, der sich nie vergeblich bitten läßt. Das wüthende Regiment der Leidenschaften war vorüber – ihr Herz geändert!

Gegen Doktor Beddington kam nie ein Laut der Klage oder der Erklärung über ihre Lippen. Sie wünschte blos, sobald ihre Gesundheit hergestellt wäre, die Anstalt zu verlassen, um ihrem Gatten durch künftiges gutes Benehmen die Aufrichtigkeit ihrer Bekehrung zu beweisen. Als sie sich im Zustande der Convalescenz befand, ging sie auf Doktor Beddingtons Rath in dem Garten spazieren, der den harmloseren Bewohnern des Irrenhauses zur Leibesübung angewiesen war. Am ersten Tage setzte sie sich auf eine Bank in der Nähe der Wärter, welche die Patienten überwachten, und hörte ein Gespräch derselben mit an, das sich auf sie selbst bezog.

»Ei, Tom, sage mir, weißt du nicht, was sie toll gemacht hat?«

»Es heißt, sie sei in ihrem ganzen Leben nie besser gewesen,« versetzte der Andere; »keine Ratte mochte mit ihr in demselben Hause leben. In einem von ihren Sparfanteleien hätte sie beinahe den alten Spinney, den Küster von Overton, ermordet. Das Gerücht verbreitete sich, daß er todt sei, und da hat wahrscheinlich das Gewissen oder etwas der Art mit ihrem Verstande Reißaus genommen.«

»So war er also nicht todt?«

»Nein, nein; ich sah und hörte ihn am vorletzten Sonntag, als ich meinen alten Vater besuchte. Ich muß bei dieser Gelegenheit zur Kirche gehen, denn der alte Herr ist so gar besonder.«

»Und was ist aus ihrem Manne oder aus dem schönen jungen Burschen, ihrem Sohne, geworden?«

»Ich kann weder über den einen, noch über den andern Auskunft geben. Der alte Mann war eine so würdige alte Seele, wie nur je eine athmete (um so mehr Schande für das alte Fell, daß sie ihm ein solches Leben bereitete!); er wurde ganz unglücklich und melancholisch, und wollte nicht mehr im Orte bleiben. Da verkauften sie nun Alles und Beide zogen mit einander fort, ohne daß Jemand wüßte, was aus dem Alten geworden ist.«

»Und der Junge?«

»Oh, der kam wieder und übernahm das Kommando der Schaluppe. Er war zweimal hier, um sich nach dem Befinden seiner Mutter zu erkundigen. Der arme Mensch! Es war zum Erbarmen, mitanzusehen, wie trostlos er sich wegen des alten Drachen benahm. Er gab mir und Bill jedem eine Guinee, damit wir sie freundlich behandelten, aber vor drei Tagen lief die Schaluppe ohne ihn im Hafen ein. Man glaubt, er sei über den Bristoler Hafendamm hinuntergefallen und ertrunken, denn man sah ihn gegen das Boot herunterkommen; seit dieser Zeit hat man aber nichts mehr von ihm gehört.«

»Wie stehts aber jetzt, Tom; ist's mit der Alten wieder ganz richtig?«

»Ja, so ziemlich; aber wo auch ihr Gatte oder ihr Sohn sein mögen, so viel ist gewiß, daß sie keine Gelegenheit mehr hat, sie zu quälen.«

Die Empfindungen, welche Mrs. Forster nach dem Schlusse dieses Gesprächs erfüllten, lassen sich nicht leicht schildern. Eine schwere Last war ihr wenigstens von dem Herzen – daß nämlich Mr. Spinney noch lebte; aber wie viel hatte sie nicht dennoch zu beklagen? Sie sah jetzt, daß sie hinterlistigerweise von denen entführt worden war, welche ihr Benehmen verabscheuten, aber doch kein Recht hatten, sie zu bestrafen. Das freundliche und gefühlvolle Benehmen ihres Gatten und Sohnes, die Abreise des Einen und der muthmaßliche Tod des Andern – dies waren Schläge, welche sie beinahe überwältigten. Sie wankte in einem so aufgeregten Zustande nach ihrer Zelle zurück, daß das Fieber wiederkehrte und sie viele Tage ihr Bette nicht verlassen konnte.


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