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Achtundvierzigstes Kapitel.

In welchem alles in Bewegung zu sein scheint, nur unser Held nicht.


Mary brach mit Postpferden auf und langte zur Zeit der Morgendämmerung im Schlosse an. Sie blieb in ihrem Stübchen, bis der Briefträger anlangte, und bemächtigte sich zuerst der Zeitungen, ehe der Kellermeister sie noch geöffnet, indem sie vorgab, ihre Gebieterin sei bereits wach und habe schon darnach verlangt. Dieselbe Vorsicht beobachtete sie auch bei den Nachmittagsblättern, so daß Mr. Austin keinen Bericht zu Gesicht bekam, was um so leichter anging, da er selten eine Zeitung las. Zu gewohnter Stunde stellte sich Mary ihrer Gebieterin vor und teilte ihr das traurige Ergebnis der Gerichtssitzung mit. Mrs. Austin trug Mary auf, den Dienstboten zu sagen, daß sie in der Nachbarschaft eine Freundin besuchen wolle, die gefährlich krank sei, und wahrscheinlich die nächste Nacht, vielleicht auch, wenn es schlimm gehe, die zweite nicht zurückkommen werde. Sobald die Vorbereitungen für die Reise beendigt waren, brach sie mit Mary gegen Abend nach Exeter auf.

Wenn aber auch Mr. Austin die Zeitungen nicht zu Gesicht bekam, so wurden sie doch von anderen gelesen, und unter diesen befand sich Major M'Shane, der, eben von einem Ausfluge zurückgekehrt, mit O'Donahue und den beiden Frauen in dem Bibliothekzimmer seines Hauses saß, als die Post anlangte. Der erste Blick brachte dem Major Rushbrooks Namen zu Gesicht; er las den Artikel und stieß einen Laut der Überraschung aus.

»Was giebt es, lieber Mann?« fragte Mrs. M'Shane.

»Einen Mord giebt es, mein Schatzkind,« sagte der Major; »aber unterbrich mich jetzt nicht, denn die Überraschung hat mir ganz den Atem benommen.«

M'Shane las den ganzen Bericht über die Gerichtsverhandlungen wie auch das Verdikt, worauf er, ohne ein Wort zu sprechen, das Blatt O'Donahue hinreichte. Sobald der letztere damit zu Ende gekommen war, winkte ihm M'Shane aus dem Zimmer.

»Ich mochte meine Frau nichts davon wissen lassen, da sie es sich allzusehr zu Herzen nehmen würde«, begann M'Shane. »Aber was ist jetzt anzufangen? Du siehst, der Junge hat auf seinen Vater nichts aussagen wollen und ist nun selbst verurteilt. Die Auffindung des armen Knaben würde meiner guten Frau, die sein Andenken zärtlicher liebt, als sie ein Dutzend kleiner M'Shanes lieben würde, wenn ihr der Himmel so viele beschert hätte – ein jämmerlicher Trost sein, wenn sie zugleich erfahren müßte, daß er übers Wasser geschickt wird. Es ist daher vor der Hand besser, wir schweigen darüber; aber was läßt sich machen?«

»Nun, ich glaube, es wird gut sein, wenn wir alsbald nach Exeter aufbrechen«, versetzte O'Donahue.

»Ja, wir wollen ihn besuchen«, entgegnete der Major.

»Ehe ich jedoch zu ihm gehe, M'Shane, möchte ich zuvor seinen Verteidiger sprechen und ihm sagen, was Du von seinem Vater weißt; ich will ihm dann unsere Mutmaßungen oder, wie ich vielmehr sagen möchte, unsere Überzeugung mitteilen. Der kann uns wohl am besten sagen, welche Schritte wir einschlagen müssen, um allenfalls seine Begnadigung zu erwirken.«

»Das gefällt mir nicht übel; und nun, wie entschuldigen wir unsern Ausflug?«

»Was meine Gattin betrifft«, erwiderte O'Donahue, »so kann ich ihr wohl die Wahrheit sagen, denn sie wird verschwiegen sein; und die Deinige glaubt alles, was Du ihr zu sagen beliebst.«

»Ja, wohl glaubt sie alles, das gute Geschöpf, und das ist's eben, warum ich's nicht über mich gewinnen kann, sie in irgend einem Falle zu hintergehen; aber im gegenwärtigen geschieht's zu ihrem eigenen Besten. Ich denke, Du sagst meiner Frau, Du müssest wegen einer wichtigen Angelegenheit nach London, und es wäre Dir lieb, wenn ich Dich begleite.«

»Es sei so«, erwiderte O'Donahue; »laß einstweilen die Pferde einspannen, während ich die Sache mit den Frauenzimmern ins reine bringe.«

Das war bald geschehen, und in einer halben Stunde befanden sich die beiden Männer auf dem Wege nach Exeter. Sie langten dort spät am Abende an und quartierten sich im ersten Gasthofe ein.

Inzwischen waren auch Mrs. Austin und Mary angekommen und in einem anderen Hotel abgestiegen, wo die erstere weniger bemerkt zu werden glaubte. Es war jedoch zu spät, den Gefangenen noch an demselben Abende zu besuchen; früh am andern Morgen begaben sie sich nach dem Gefängnis, ungefähr um dieselbe Zeit, als M'Shane und O'Donahue sich bei Mr. Trevor befanden.

Es ist vielleicht besser, wir überlassen die Scene des Wiedersehens, welche nun zwischen unserm Helden und seiner Mutter stattfand, der Einbildungskraft unseres Lesers, da wir in dem letzteren Teile unserer Geschichte schon zu viele schmerzliche Auftritte geschildert haben. Die Freude und der Schmerz des Wiederfindens und der ewigen Trennung – der gewaltige Kampf zwischen Pflicht und Liebe – die blutenden Herzen einer zärtlichen Mutter, eines treuen Sohnes, einer aufopfernden Dienerin und Freundin – alles dies bleibt besser der Phantasie als der Feder anheim gegeben. Aber ihr Gram erreichte seinen Höhepunkt, als Joey, von den Mutterarmen umschlungen, seine Erlebnisse erzählte und das Bekenntnis ablegte, daß noch ein anderer Schmerz in seinem Innern wohne, der das Maß seiner Leiden übervoll mache – nämlich das Scheiden von dem Gegenstande seiner frühesten Neigungen.

»Mein armer, armer Sohn, das ist in der That ein bitterer Kelch!« rief Mrs. Austin. »Möge Gott in seiner Barmherzigkeit auf Dich niederschauen und Dich trösten!«

»Das wird er, Mutter; und wenn ich weit hinweg bin, aber früher nicht – erst wenn es ohne Gefährde geschehen kann – versprich mir, zu Emma zu gehen und ihr zu sagen, daß ich nicht schuldig bin. Alles kann ich eher ertragen als den Gedanken, daß sie mich verachtet.«

»Es soll geschehen, mein Kind, es soll geschehen, und ich will sie zärtlich lieben um Deinetwillen. Doch fahre fort in Deiner Geschichte, mein Kind!« –

Wir müssen unsern Helden jetzt verlassen, um zu M'Shane und O'Donahue zurückzukehren, die sich gleich nach dem Frühstücke nach Mr. Trevors Wohnung begaben. M'Shane, welcher den Sprecher machte, ging alsbald auf das Anliegen über, das sie an Ort und Stelle geführt hatte.

Mr. Trevor sprach von der Hartnäckigkeit seines Klienten und der Unmöglichkeit, ihn gegen die Verurteilung zu bewahren, indem er zu gleicher Zeit bemerkte, daß in der ganzen Geschichte ein Geheimnis obwalte, das er nicht zu ergründen vermöge.

M'Shane nahm es auf sich, das Rätsel zu lösen, denn er war, wie wir schon früher bemerkt haben, scharfsinnig genug, um den Schlüssel dazu zu finden; er berief sich dabei auf O'Donahue, der die Ansicht seines Freundes über den Charakter des alten Rushbrook bekräftigen mußte.

»Und dieser Vater hat sich gänzlich aus dem Gesichte verloren, sagen Sie?« bemerkte Mr. Trevor.

»Ja, es ist mir rein unmöglich gewesen, ihn aufzuspüren«, sagte M'Shane.

»Ich bemerkte gegen seine Schwester –« sagte Mr. Trevor.

»Er hat keine Schwester«, fiel ihm M'Shane ins Wort.

»Doch, ein junges und sehr liebenswürdiges Frauenzimmer – sie kam zu mir nach London, stellte sich mir als seine Schwester vor und ersuchte mich, seine Verteidigung zu übernehmen.«

»Das ist sonderbar«, versetzte M'Shane nach einigem Nachsinnen.

»Indes, daß ich auf das frühere zurückkomme«, fuhr Mr. Trevor fort, »ich bemerkte gegen dieses junge Frauenzimmer, wie seltsam es sei, daß ich, als ich den Namen Rushbrook zum ersten Male zu Gesicht bekam, in einem Falle zu handeln hatte, welcher nach der Meinung der Welt als das höchste Glück gilt, während meine zweite Befassung mit demselben Namen zu einem so jammervollen Ende führte.«

»Wie meinen Sie das?« fragte M'Shane.

»Ich setzte eine Person, welche Rushbrook hieß, in den Besitz eines großen Vermögens. Als ich die Schwester unseres jungen Freundes fragte, ob sie nicht mit dem Gedachten verwandt sei, antwortete sie verneinend.«

»Ich weiß gewiß, der junge Rushbrook hat keine Schwester«, unterbrach ihn M'Shane.

»Ich erinnere mich jetzt«, fuhr Mr. Trevor fort, »daß der Mann, auf welchen jenes Vermögen überging, früher Offizier in der Armee war.«

»Da verlassen Sie sich darauf, es ist Rushbrook selbst, der sich auf eigene Faust ein Offizierspatent ausgestellt hat«, entgegnete M'Shane. »Wo ist er jetzt?«

»In Dorsetshire drunten«, antwortete Trevor. »Er erbte die Güter des verstorbenen Austin und hat dessen Namen angenommen.«

»Er ist's! er ist's! ich will darauf schwören«, rief M'Shane. »Hoho! Mord und Irland! Wir haben jetzt den Verbrecher. Kein Wunder, daß dieser Ehrenmann meinen Besuch nicht erwidern wollte und sich ganz abgeschlossen hat. Ich bitte um Verzeihung, Mr. Trevor, aber wie sieht der Mann, den Sie meinen, aus? denn, wie gesagt, ich habe diesen Mr. Austin nie gesehen.«

»Ein schöner, großer Mann von militärischer Haltung; etwas rauh, möchte ich sagen, aber doch nicht gemein – schwarze Haare und Augen und, wenn ich mich recht erinnere, eine Adlernase –«

»Das ist der Rechte«, rief O'Donahue.

»Und seine Gattin – haben Sie diese nicht gesehen?« fragte M'Shane.

»Nein«, antwortete Mr. Trevor.

»Nun, Mrs. Austin ist mir sehr gut bekannt«, erwiderte M'Shane, »und sie scheint mir ein recht sanftes Wesen zu sein. Ich bin in meinem Leben nie in ihrem Hause gewesen, sondern fuhr nur eben vor und ließ meine Karte dort, habe sie aber mehrere Male getroffen; indes gleichviel, da Sie dieselbe nicht kennen – und nun, Mr. Trevor, was glauben Sie, daß wir thun sollen?«

»Ich bin in der That für den Augenblick nicht vorbereitet, Ihnen zu raten, denn es ist ein äußerst schwieriger Fall. Übrigens glaube ich, es dürfte gut sein, wenn Sie den jungen Rushbrook besuchen und sehen, was Sie von ihm herausholen können. Kommen Sie dann morgen früh wieder her; ich will mir bis dahin die Sache überlegen.«

»Ganz nach Ihrem Gefallen, Sir. Ich will zuerst meinen Freund besuchen, aber, so wahr ich M'Shane heiße, hintendrein auch seinen Vater.«

»Ich bitte, hüten Sie sich vor Übereilung,« bemerkte Mr. Trevor. »Vergessen Sie nicht, daß Sie mich um einen Rat angegangen haben und deshalb gehalten sind, wenigstens anzuhören, was ich Ihnen vorzuschlagen habe, ehe Sie handeln.«

»Sie haben recht, Mr. Trevor. Nun denn, ich bezeuge Ihnen inzwischen meinen Dank und behalte mir die Ehre vor, Sie morgen wieder zu besuchen.«

M'Shane und O'Donahue begaben sich sofort nach dem Gefängnis und baten um Erlaubnis, unsern Helden besuchen zu dürfen.

»Es sind eben zwei Damen bei ihm«, sagte der Kerkermeister; »da jedoch ihr Besuch schon drei Stunden gewährt hat, so werden sie vermutlich nicht mehr lange bleiben.«

»So wollen wir warten«, versetzte O'Donahue.

Nach einer Viertelstunde erschienen Mrs. Austin und Mary; die erstere war dicht verschleiert, als sie in das Wohnzimmer des Kerkermeisters trat, in welchem O'Donahue und M'Shane harrten. Mrs. Austin war nicht willens gewesen, einzutreten, aber Kummer und Aufregung hatten sie dermaßen überwältigt, daß sie kaum zu gehen vermochte, weshalb Mary ihr zusprach, sie möchte hineingehen und sich ein Glas Wasser reichen lassen. Die Herren standen bei ihrem Eintritt auf. Sie erkannte M'Shane augenblicklich, und der Schreck über die möglichen Folgen dieser unverhofften Begegnung übte einen so erschütternden Eindruck auf sie, daß sie ohnmächtig auf einen Stuhl sank.

Mary eilte nach Wasser fort, während M'Shane und O'Donahue der Ohnmächtigen Beistand leisteten. Sie entfernten den Schleier, und natürlich wurde sie alsbald von ihrem Nachbar erkannt, der jetzt völlig überzeugt war, daß er in Austin und Rushbrook mit einer und derselben Person zu thun hatte.

Sobald sie wieder einige Lebenszeichen blicken ließ, beobachtete M'Shane die Schonung, sich zu entfernen, indem er dem Kerkermeister einen Wink gab und sich dann mit O'Donahue nach der Zelle unseres Helden verfügte. Beiderseitig fand eine warme Begrüßung statt. M'Shane brachte alsbald sein Anliegen zur Sprache und bemerkte gegen Joey, daß er wisse, wer den Mord begangen habe. Ja, er sagte es ihm unverholen heraus, daß sein Vater der Verbrecher sei. Joey wollte jedoch, wie früher, nichts eingestehen; er war zufrieden, daß sie an seine Unschuld glaubten, hatte sich aber bereits in sein Schicksal ergeben und war durchaus nicht zu bereden, die Wahrheit zu enthüllen. M'Shane und O'Donahue verließen endlich die Zelle, gegenseitig unter sich zu Rate gehend, daß keine Aussicht vorhanden sei, ihn seinem traurigen Geschicke zu entziehen, wenn nicht ohne sein Vorwissen entschiedene Schritte eingeschlagen würden. Von Bewunderung erfüllt über den Mut unseres Helden und dessen Selbstaufopferung für einen unwürdigen Vater, hatten sie ihm mit dem einfachen Versprechen Lebewohl gesagt, zu seinen Gunsten alle ihre Kräfte aufzubieten.


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