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In welchem die Strömung des Glückes sich von unserem Helden abkehrt.
Sobald Joey aus der Zeugenloge entlassen war, kehrte er nach dem Gemache zurück, wo die übrigen Zeugen versammelt waren – mit wehmütiger Vorahnung, daß die Angabe seines wahren Namens Unheil herbeiführen könnte. Er war noch nicht lange da gewesen, als ein Gerichtsbeamter hereinkam und zu ihm sagte:
»Treten Sie ein wenig beiseite, wenn ich bitten darf, Sir; ich habe eine Frage an Sie zu stellen.«
Joey ging mit ihm zur Thüre hinaus, wo ihm der Gerichtsbeamte voll ins Gesicht sah und ihn also anredete:
»Ihr Name ist Joey Rushbrook; so nannten Sie sich in der Zeugenloge.«
»Ja«, versetzte Joey, »das ist mein eigentlicher Name.«
»Warum haben Sie ihn gewechselt?« fragte der Beamte.
»Ich hatte Gründe dafür«, antwortete unser Held.
»Ja, und ich will Ihnen sagen, worin diese Gründe bestanden«, entgegnete der andere. »Sie waren vor Jahren bei einem Morde beteiligt. Ein Preis wurde auf Ihre Ergreifung ausgesetzt, und Sie haben sich den Händen der Gerechtigkeit entzogen; ich sehe, daß Sie die Person sind, Ihr Gesicht sagt mir's. Sie sind mein Gefangener. Kommen Sie nur ruhig mit mir; Widerstand kann Ihnen nichts nützen, sondern Ihnen höchstens eine schlimmere Behandlung zuziehen.«
Joey stockten fast die Pulse, als der Beamte diese Worte an ihn richtete: er fühlte, daß ein Ableugnen vergeblich und nun die Zeit gekommen sei, in welcher entweder er oder sein Vater den Tod erleiden mußte. Er gab daher keine Antwort, sondern folgte ruhig dem Gerichtsdiener, der ihn am Arme hielt und nach einer Kutsche rief, in welche er Joey treten hieß und dann nachfolgte, indem er zugleich den Kutscher aufforderte, nach dem Polizeibureau zu fahren.
Sobald der Beamte dem Friedensrichter mitgeteilt hatte, wen er hier festgenommen, machte der letztere zuerst unsern Helden darauf aufmerksam, daß er keine Angabe zu machen brauche, die ihn selbst beschuldige, und fragte ihn dann, ob er wirklich Rushbrook heiße.
Joey antwortete bejahend.
»Haben Sie etwas vorzubringen, was mich hindern dürfte, Sie wegen Anklage auf Mord der Haft zu überantworten?« fragte der Friedensrichter.
»Nichts weiter, als daß ich unschuldig bin«, versetzte Joey.
»Ich habe den Haftbefehl gegen ihn schon sieben Jahre oder darüber in Händen, ohne daß es mir je gelang, ihn aufzugreifen«, bemerkte der Beamte. »Er war damals nur ein Knabe.«
»Er muß ein Kind gewesen sein, seinem gegenwärtigen Aussehen nach zu urteilen«, bemerkte der Friedensrichter, welcher die Vollmacht zur Gefangensetzung ausfertigte. »Ich erinnere mich jetzt der Sache ganz genau.«
Der Beamte nahm das Papier in Empfang, und nach einer halben Stunde war unser Held bei Verbrechern aller Art eingesperrt. Das Blut rann ihm eiskalt durch die Adern, als er sich im Bereiche dicker Mauern befand, und sobald der Schließer ihn verlassen hatte, schauderte er, das Gesicht mit seinen Händen bedeckend. Zwar hatte er einen der größten aller Trostgründe zur Stütze – das Bewußtsein seiner Unschuld; wenn er aber seinem Geiste vergegenwärtigte, wie glücklich er kürzlich noch gewesen – wenn er an Emma dachte und bei sich erwog, daß alle seine Aussichten und süßen Vorahnungen vernichtet waren, so wird man es nicht überraschend finden, daß er eine Weile in seiner stillen Einsamkeit weinte. Wem sollte er seine Lage bekannt machen? Ach! sie mußte ja nur zu bald ruchbar werden, und stand ihm dann nicht in Aussicht, daß jedermann, sogar Emma, vor dem mutmaßlichen Mörder zurückbebte? Nein, es gab jemand, bei dem er dies nicht zu fürchten hatte – auf dessen Treue er bauen konnte. Mary – gewiß, sie verließ ihn auch jetzt nicht; an sie wollte er schreiben und ihr seine Lage vertrauen. Nachdem er hierüber einen Entschluß gefaßt hatte, ließ er sich von dem Kerkermeister, der nach zwei Stunden wieder in die Zelle kam, Tinte, Feder und Papier geben und schrieb an Mary, indem er ihr seine Verhältnisse in wenigen Worten auseinander setzte und ihr mitteilte, daß er am nächsten Morgen nach Exeter gebracht werde und dem Gerichte über sich entgegensehe; zugleich drückte er den Wunsch aus, sie möchte wo möglich kommen, um ihn zu besuchen. Er beschenkte den Schließer mit einer Guinee und bat ihn, den Brief zu besorgen.
»Soll nicht fehlen, junger Herr«, versetzte der Mann. »Indes muß ich sagen, Ihr Fall ist einer der sonderbarsten, der je zu meiner Kenntnis kam«, fuhr der Schließer fort. »Wir haben mit einander darüber gesprochen. Ei, der erste Verhaftsbefehl gegen Sie wurde ja vor acht Jahren ausgestellt, und wenn man Sie jetzt ansieht – Sie können kaum mehr als siebzehn oder achtzehn sein.«
»Und doch bin ich älter«, entgegnete Joey. »Ich bin jetzt einundzwanzig.«
»Dann sagen Sie's ja niemand anders, und ich will's nicht gehört haben. Schauen's, der Jugend hält man vor Gericht viel zu gut, und man sieht dann ja, daß Sie ein wahrhaftiges Kind gewesen sein müssen, als die That geschah. Der Augenschein lehrt's, und Sie können sich drauf verlassen, daß es nicht zum Hängen kommt. Sie machen eine Reise übers Wasser, das ist alles. Deshalb nur den Mut nicht verloren, und geben Sie sich ein so junges Aussehen, als Sie nur können.«
Mary erhielt am andern Tage Joeys Brief und geriet über dessen Inhalt ganz außer sich. Sie hatte ihre Arbeit auf den Boden geworfen und weinte noch immer, als Mrs. Austin in das Ankleidezimmer kam, wo sie saß.
»Was giebt es, Mary?« fragte Mrs. Austin.
»Ich habe einen Brief von meinem Bruder erhalten, Madame. Er ist in größter Not, und ich muß bitten, daß Sie mich augenblicklich zu ihm lassen.«
»Ihr Bruder, Mary, was ist ihm denn zugestoßen?« fragte Mrs. Austin.
Mary antwortete nicht, sondern weinte nur noch mehr.
»Wenn Ihr Bruder im Unglücke ist, Mary, so will ich Sie in der That nicht aufhalten; aber Sie sollten mir doch sagen, worin dasselbe besteht – vielleicht kann ich mit Rat oder Hülfe an die Hand gehen? Ist es von sehr ernstlicher Beschaffenheit?«
»Er ist im Gefängnis, Madame.«
»Vermutlich im Schuldgefängnis?«
»Nein, Madame, er ist wegen Mord angeklagt, obgleich er nicht schuldig ist.«
»Wegen Mordes?« rief Mrs. Austin, »und nicht schuldig? Wie? wann und wo fand dieser Mord statt?«
»Vor vielen Jahren, Madame, als er noch ein Kind war.«
»Wie gar sonderbar!« dachte Mrs. Austin, nach Luft haschend und in einen Stuhl sinkend. »Aber wo, Mary?«
»Drunten in Devonshire, Madame, zu Graßford.«
Mrs. Austin fiel bewußtlos von ihrem Sessel. Mary, höchlich überrascht, eilte ihr zu Hülfe; nach einiger Zeit gelang es ihr, sie wieder herzustellen und nach dem Sofa zu führen. Mrs. Austin begrub lange ihr Gesicht in dem Kissen, während Mary neben ihr stand; endlich blickte sie auf, legte die Hand auf Marys Arm und sprach in feierlichem Tone:
»Mary, täuschen Sie mich nicht; Sie sagen, jener Knabe sei Ihr Bruder – sprechen Sie, ist das nicht falsch? Ich bin fest davon überzeugt. Antworten Sie mir, Mary!«
»Er ist nicht mein geborener Bruder, Madame, aber ich liebe ihn ebenso«, versetzte Mary.
»Antworten Sie mir noch einmal offen, Mary, wenn Sie überhaupt Liebe zu mir haben. Sie kennen seinen wahren Namen, wie heißt er?«
»Joey Rushbrook, Madame«, entgegnete Mary weinend.
»O, ich wußte es ja!« rief Mrs. Austin, in Thränen ausbrechend, »ich wußte es: der Schlag ist endlich gekommen. Gott habe Erbarmen mit mir! Was läßt sich thun?«
Und abermals gab sich Mrs. Austin den Ausbrüchen des bittersten Schmerzes hin.
Mary war erstaunt. Wie konnte Mrs. Austin etwas von Joey wissen, und warum mochte sie sich so schmerzlich darüber betrüben? Dies war ihr ein völliges Geheimnis. Sie blieb eine Weile an der Seite ihrer Gebieterin, welche allmählich ruhiger wurde. Endlich sprach sie:
»Darf ich zu ihm gehen, Madame?«
»Ja«, antwortete Mrs. Austin, »gewiß! Aber Sie dürfen jetzt kein Geheimnis mehr vor mir haben und müssen mir alles sagen. Sie sehen, daß ich an diesem jungen Mann ebenso viel Anteil nehme, als Sie selbst. Dies mag Ihnen vor der Hand zu wissen genügen. Bevor ich weiter spreche, müssen Sie aufrichtig gegen mich sein; sagen Sie mir, wie Sie mit ihm bekannt wurden – kurz alles, was Sie von seinem Leben wissen. Sie dürfen versichert sein, daß ich Ihnen und ihm nach Kräften Beistand leisten will und daß es weder an Geld noch Verwendung fehlen soll. Nach einer solchen Versicherung, Mary, hoffe ich, daß Sie nichts vor mir verbergen werden.«
»Das will ich in der That nicht, Madame«, versetzte Mary, »denn ich liebe ihn aus ganzer Seele.«
Mary begann sodann zu erzählen, wie sie anfangs in Gravesend gewohnt habe und daselbst zuerst mit Joey zusammengekommen sei. Der Beginn ihrer Geschichte geschah mit einigem Stocken, das Mrs. Austin nicht zu bemerken schien. Sie fuhr dann fort, ging auf die Nachrichten über, die sie von Furneß, dem Seesoldaten, erhalten hatte, und schloß dann mit ihrer gemeinschaftlichen Flucht und ihrer eigenen Aufnahme in Mrs. Austins Familie.
»Es war also Joey Rushbrook, der mit Ihnen in das Haus kam?«
»Ja, Madame«, versetzte Mary; »aber einer der Bedienten war unartig gegen mich, und Joey nahm sich meiner an. Mr. Austin hörte Lärm und ließ nach der Ursache fragen; die Bedienten wälzten alle Schuld auf Joey, und so wurde der arme Junge alsbald aus dem Hause gewiesen. Nach der erlittenen Behandlung weigerte er sich lange Zeit, wieder ins Schloß zurückzukommen; aber er war vor ein paar Wochen wieder da, als Sie, wenn Sie sich noch erinnern können, die Thür öffneten.«
Mrs. Austin schlug die Hände zusammen und drückte sie dann an die Stirn; nach einer Weile fragte sie:
»Und was hat er denn getrieben, seit er mit Ihnen hierher kam?«
Mary teilte ihrer Gebieterin alles mit, was sie von Joeys späterer Laufbahn wußte.
»Gut, Mary«, sagte Mrs. Austin, »Sie müssen sogleich zu ihm gehen. Sie werden Geld brauchen; aber, Mary, versprechen Sie mir, daß Sie ihm kein Wort sagen von dem, was zwischen uns vorgefallen ist, das heißt – nur vor der Hand nicht; mit der Zeit kann ich Ihnen vielleicht mehr anvertrauen.«
»Sie dürfen unter allen Umständen auf mich zählen, Madame«, entgegnete Mary, ihrer Gebieterin ins Gesicht sehend; »aber es ist zu spät, diesen Nachmittag noch zu gehen; ich will daher lieber bis morgen früh warten.«
»Thun Sie das, Mary; es freut mich, daß Sie nicht heute schon gehen, denn ich wünsche, daß Sie bei mir bleiben. Ich habe noch viele Fragen an Sie zu stellen. Jetzt, Mary, wünsche ich allein zu sein. Sagen Sie Mr. Austin, daß ich sehr unwohl sei und nicht unten speisen werde.«
»Soll ich Ihnen Ihr Essen heraufbringen, Madame?« fragte Mary.
»Ja, Sie können es bringen«, versetzte Mrs. Austin mit einem matten Lächeln.
Nie verließen sich zwei Personen mit einem so sehnlichen Wunsche, allein zu sein, als Mary und Mrs. Austin. Die erstere vollzog ihren Auftrag und kehrte dann nach ihrem eigenen Zimmer zurück, um ungestört nachdenken zu können. Was konnte der Grund von Mrs. Austins Benehmen sein? Was wußte sie von Joey Rushbrook – warum war sie so ergriffen von ihrer Geschichte? Sie hatte von den Dienstboten gehört, Mr. und Mrs. Austin seien früher in einer dürftigeren Lebenslage – der Herr nämlich ein pensionierter Offizier gewesen; das gab aber noch immer keinen Schlüssel zu dem großen Interesse, das ihre Gebieterin an Joseph Rushbrook nahm. Sie sann hin und her, stellte reifliche Erwägungen an, konnte aber zu keinem Schlusse kommen. Noch immer bemühte sie sich, das Rätsel zu lösen, als das Hausmädchen hereintrat und sagte, daß Mrs. Austin schon zweimal geklingelt habe.
Mrs. Austin war ihrerseits noch mehr verwirrt; sie konnte nicht genug Ruhe gewinnen, um sich über bestimmte Schritte zu entscheiden. Ihr Sohn im Gefängnis – er sollte das Leben verlieren wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte! Veröffentlichte er vielleicht die Wahrheit und opferte er vielleicht den Vater? Sie dachte, nein. Aber wenn er's nicht that, mußte er nicht verurteilt werden? Und in diesem Falle, konnte sie fern von ihm bleiben – oder mußte nicht sie bekannt machen, was der Sohn geheim hielt? Und wenn er wirklich die Wahrheit eingestand, war es da nicht ein leichtes, ausfindig zu machen, daß Mr. Austin und Joseph Rushbrook eine und dieselbe Person seien! War eine Möglichkeit seines Entkommens vorhanden? Mußte er nicht früher oder später erkannt werden? Wie schrecklich war ihre Lage! Dann wieder, sollte sie ihren Gatten mit der Lage seines Sohnes bekannt machen? Wenn sie es that, trat dann nicht vielleicht er vor? Ja, zuverlässig – er konnte Joey nicht sterben lassen wegen seines eigenen Verbrechens. Sollte sie es wohl ihrem Manne eröffnen? Ferner: Mary, die schon so viel wußte, die Zeuge ihrer Angst und ihres Herzeleides gewesen, die ihren Sohn so innig liebte – konnte sie ihr trauen? konnte sie überhaupt etwas anfangen, ohne ihr zu vertrauen? Dies waren die verschiedenen widerstrebenden Ideen, welche Mrs. Austin durch den Sinn gingen. Endlich beschloß sie, gegen ihren Gatten zu schweigen, Mary zu ihrem Sohne zu schicken und den Abend mit dem Mädchen noch weiter zu sprechen, um sich je nach dem Ergebnisse der Unterredung zu entscheiden, ob sie dieselbe zu ihrer Vertrauten machen wollte oder nicht. Nachdem sie soweit mit sich eins geworden, klingelte sie, um Mary vor sich zu bescheiden.
»Ist es Ihnen besser, Madame?« fragte Mary, die ganz leise in das Zimmer getreten war.
»Ja, ich danke Ihnen, Mary. Nehmen Sie Ihre Arbeit und setzen Sie sich! Ich wünsche wegen dieses jungen Menschen, wegen Joey Rushbrook, noch mehr mit Ihnen zu sprechen. Sie müssen bemerkt haben, daß ich mich für ihn interessiere.«
»Ja, Madame.«
»In Ihrer Geschichte finden sich einige Teile, Mary, die ich nicht ganz verstehe. Sie sind nun fünf Jahre bei mir, und ich habe allen Grund, mit Ihrem Benehmen zufrieden zu sein. Sie haben sich stets wie ein geordnetes, bescheidenes Frauenzimmer betragen.«
»Ich bin Ihnen für Ihre gute Meinung sehr verbunden«, sagte Mary.
»Und Sie werden zugeben, daß ich Ihnen keine harte Gebieterin war, Mary, denn im Gegenteil, ich habe Ihnen stets gezeigt, daß ich mit Ihrem Betragen zufrieden war.«
»Gewiß, Madame; und ich hoffe, Sie werden mir keinen Undank vorzuwerfen haben.«
»Ich glaube es«, erwiderte Mrs. Austin. »Nun, Mary, ich wünsche Ihr volles Vertrauen zu besitzen. Sprechen Sie – wie ging es zu, daß Sie in so kurzer Zeit mit jenem Furneß vertraut genug waren, um ihm sein Geheimnis abzulauschen? Ich möchte auch fragen, bei wem hielten Sie sich auf und wie brachten Sie sich fort, als Sie in Gravesend waren, denn Sie haben mir das noch nicht gesagt. Es kommt mir seltsam vor, daß jener Mensch so plötzlich jemand ein so wichtiges Geheimnis anvertraute, den er nur ein paar Stunden kannte.«
Mary brach in Thränen aus, gab aber keine Erwiderung.
»Können Sie mir nicht antworten, Mary?«
»Wohl, Madame«, sagte sie endlich: »aber wenn ich die Wahrheit sage – und lügen kann ich nicht – so werden Sie mich verachten, vielleicht augenblicklich aus dem Hause weisen, und wenn Sie dieses thun, was soll aus mir werden?«
»Mary, wenn Sie denken, ich beabsichtige aus einem Bekenntnisse Vorteil zu ziehen, das ich Ihnen abdrang, so thun Sie mir unrecht. Ich frage nur, weil es nötig ist, daß ich die ganze Wahrheit kenne, weil ich kein Vertrauen in Sie setzen kann, wenn Sie mir nicht zuerst vertrauen. Sprechen Sie sich unverholen aus, Mary, und fürchten Sie sich nicht.«
»Ich will Ihrem Wunsche willfahren, Madame, bitte aber zugleich, Sie möchten nicht vergessen, daß ich jetzt fünf Jahre unter Ihrem Dache bin und mich in dieser Zeit stets als ein ehrbares, anständiges Mädchen aufgeführt habe; leider muß ich bekennen, daß ich dies nicht immer war.«
Marys Wangen glühten vor Scham, und sie ließ ihren Kopf sinken.
»Wir alle sind sündige Geschöpfe, Mary«, versetzte Mrs. Austin; »und wer ist da, der sich rein nennen könnte? Die heilige Schrift sagt: ›Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein‹. Es heißt auch dort, Mary, im Himmel ist größere Freude über einen einzigen reuigen Sünder als über neunundneunzig Gerechte, die der Reue nicht bedürfen. Sollte ich also hart gegen Dich sein, mein armes Mädchen? Nein, nein, Dein Vertrauen hat mich zu Deiner Freundin gemacht; aber auch Du mußt die meinige sein, Mary, denn ich bedarf jetzt einer solchen.«
Die arme Mary fiel vor Mrs. Austin auf die Kniee nieder und küßte ihr unter heißen Thränen wiederholt die Hand. Mrs. Austin war sehr ergriffen. Als das zerknirschte Mädchen ihre Fassung wieder gewonnen hatte, stützte sich ihre Gebieterin auf den Ellenbogen, schlang ihren Arm um Marys Hals, zog sie an sich und küßte sie leicht auf die Stirn.
»Sie sind in der That eine gütige Freundin, Madame«, sagte Mary nach einer Pause, »und möge Sie der Allmächtige belohnen! Sie sind unglücklich – ich weiß zwar nicht, warum; aber ich würde in den Tod gehen, um Ihnen zu dienen. Wollte Gott, daß es Gelegenheit gäbe, Ihnen meine Treue zu beweisen!«
»Zuerst, Mary, erzähle mir so viel von Deiner eigenen Geschichte, als Dir gut dünkt; ich möchte sie kennen.«
Mary berichtete sodann die Einzelheiten von ihrer Verheiratung, das Benehmen ihres Mannes, ihre spätere Laufbahn und ihren Entschluß, ein neues Leben anzufangen, dessen Aufrichtigkeit sie durch die Aufführung der letzten Jahre bewiesen hatte. Nachdem sie ihre Erzählung beschlossen, redete Mrs. Austin sie folgendermaßen an:
»Mary, wenn Du glaubst, Du seiest durch Dein Bekenntnis in meiner guten Meinung gesunken, so bist Du sehr im Irrtum, denn im Gegenteil, ich halte jetzt mehr auf Dich als zuvor. Es giebt nur wenige, sehr wenige, die den Mut und die Standhaftigkeit haben, welche Du zeigtest, oder denen ihr Vornehmen so gelungen ist, wie Dir. Ich scheute mich zuvor, Dir zu vertrauen, jetzt habe ich aber keine Furcht mehr. Ich bitte Dich nicht, Du sollest mich nicht verraten, denn ich bin überzeugt, Du wirst es nicht thun. Nur über zwei Punkte sind meine Lippen versiegelt, und der Grund davon liegt darin, daß das Geheimnis nicht ausschließlich mein ist und ich nicht die Erlaubnis habe, es zu veröffentlichen. Daß ich die innigste Teilnahme für den jungen Menschen hege, ist gewiß, – ja, er steht sogar in einer nahen und innigen Beziehung zu mir; welcher Art aber dieselbe sei, darf ich vor der Hand noch nicht sagen. Du hast Deine Überzeugung von seiner Unschuld ausgesprochen, und ich sage Dir, daß Du recht hast. Er beging das Verbrechen nicht – ich kenne den Thäter, darf aber seinen Namen nicht nennen.«
»Das ist's gerade, was Joey auch zu mir sagte, Madame«, bemerkte Mary; »und er versicherte mich noch obendrein, er werde den Schleier nie lüften, selbst wenn es ihn das Leben kosten sollte.«
»Das sieht ihm gleich, Mary,« entgegnete Mrs. Austin, in Thränen ausbrechend. »Armer Knabe, es ist schrecklich, daß Du sterben sollst wegen einer That, an der Du keinen Anteil hast!«
»Aber, Madame, wenn man ihn auch für schuldig erklärt, so wird man ihn doch nicht hängen; er war ja noch ein ganzes Kind.«
»Das weiß ich nicht.«
»Es ist sehr sonderbar, daß sein Vater und seine Mutter so zu sagen verschwunden sind; es kommt mir sehr verdächtig vor«, bemerkte Mary.
»Du mußt Dir natürlich aus dem, was Du bereits gehört hast, Deine eigenen Gedanken gebildet haben«, erwiderte Mrs. Austin in ruhigem Tone; »aber ich sagte Dir schon, meine Lippen sind über diesen Punkt versiegelt. Was ich nun von Dir wünsche, Mary, besteht darin: Du mußt ihn anfangs nicht wissen lassen, daß ich mich für ihn interessiere oder überhaupt etwas von ihm weiß. Stelle alle möglichen Nachfragen über den wahrscheinlichen Ausgang der Sache an, und wenn Du ihn besucht hast, kommst Du wieder zurück, um mir alles zu berichten, was er sagte und was stattgefunden hat!«
»Das soll geschehen, Madame.«
»Du wirst gut thun, wenn Du morgen früh aufbrichst; einer der Reitknechte soll Dich so weit führen, daß Du auf die Postkutsche nach Exeter triffst. Damit ich's nicht vergesse, nimm hier meine Börse; Du brauchst nicht zu sparen, Mary, denn das Geld kommt jetzt nicht in Betracht. Ich bin sehr unwohl und muß zu Bette gehen.«
»So will ich das Theezeug heraufbringen, Madame; ein Täßchen Thee oder ein Glas Wein wird Ihnen gute Dienste thun.«
»Thue dies, liebe Mary; ich fühle mich sehr schwach.«
Sobald Mrs. Austin einige Erfrischungen zu sich genommen hatte, besprach sie sich weiter mit Mary und stellte hundert Fragen an sie über ihren Sohn. Da Mary jetzt nichts mehr zu verhehlen hatte, antwortete sie freimütig, und als sie ihrer Gebieterin gute Nacht wünschte, war Mrs. Austin mehr als je überzeugt, daß der edle Sinn ihres Kindes dasselbe zu einer Zierde der Gesellschaft gemacht haben würde. Dann überwältigte sie wieder das bittere Gefühl, daß er im Begriffe war, sich selbst zum Opfer zu bringen – daß er verurteilt werden sollte als ein Verbrecher – daß ihm unvertilgbare Schmach, vielleicht gar der Tod am Galgen bevorstand. Als sie sich auf ihrem ruhelosen Kissen umherwarf, rief sie aus:
»Gott sei Dank, daß er unschuldig ist – sein armer Vater leidet noch viel mehr.«