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In welchem sich unser Held einer falschen Richtung zuwendet.
Obgleich es ganz in der Ordnung sein mag, wenn uns eine Kränkung zugefügt wird, zu zeigen, daß wir dieselbe empfinden, so trifft sich's doch oft, daß wir uns zu viel von dem Impulse des Augenblicks leiten lassen und die Maßregel aufs äußerste treiben. Dies empfand auch unser Held, als der Wagen weiter rollte und jede Sekunde die Entfernung zwischen ihm und Emma vergrößerte. Wohl zwanzigmal fühlte er sich geneigt, eine Postchaise zu nehmen und wieder zurückzukehren; aber sein Wankelmut wäre dann so augenfällig gewesen, daß schon die Scham ihn daran hinderte. Er fuhr daher weiter, bis er London erreichte, und daselbst angelangt wußte er nichts Besseres zu thun als zu Bette zu gehen. Am andern Tage ließ er sich für die morgige Postkutsche nach Manstone einschreiben; dann hielt er es für passend, Major und Mrs. M'Shanes Wohnung aufzusuchen und ihnen, nun er Furneß nicht länger zu fürchten hatte, kund zu thun, daß er noch am Leben sei. Er begab sich demgemäß nach Holborn und fand das Speisehaus noch an demselben Platze, und wie sonst stiegen verlockende Düfte durch das Gitterfenster auf, welches der Küche Licht und Luft zugänglich machte. Er bemerkte jedoch, daß sich an der Nebenthüre nicht länger der Name M'Shane befand; er trat in das Kaffeezimmer, und als er nach der Stelle hinblickte, wo Mrs. M'Shane gewöhnlich die Schinken zerlegte, entdeckte er eine in ähnlicher Weise beschäftigte Person, deren Gesicht er nicht kannte; in der That konnte es auch unmöglich Mrs. M'Shane sein, denn es war ein Mann. Unser Held ging auf ihn zu und fragte, ob die M'Shanes noch immer das Geschäft führten, erhielt aber die Antwort, sie hätten es vor einiger Zeit verkauft. Seine nächste Erkundigung lautete, was aus ihnen geworden sei, hatte aber bloß ein ungeduldiges »ich weiß nicht« zur Folge. Unter solchen Umständen blieb unserem Helden weiter nichts zu thun übrig als Platz zu nehmen und ein Stückchen Fleisch zu essen oder das Haus zu verlassen. Er zog das letztere vor und befand sich bald wieder in seinem Hotel, wo er den Rest des Tages der Erinnerung an seine alten Freunde weihte, weil es nicht im Rate des Schicksales gelegen hatte, daß er sie sehen sollte.
Am andern Morgen brach Joey mit einer Postkutsche auf und langte ein wenig vor Einbruch der Dunkelheit in Manstone an. Er blieb in dem Hauptwirtshause des Ortes, der benachbarten Herrschaft zu Ehren ›Austins Wappen‹ genannt, betrachtete sich die verschiedenen Felder auf dem Wirtsschilde, ohne entfernt daran zu denken, daß sie auch ihm angehörten, bestellte sein Abendessen, sah durch ein Fenster des ersten Stockes hinaus und bemerkte in nicht großer Entfernung, etwas weiter unten in der einzigen Straße, aus der das Dorf bestand, das kleine Bierhaus, wo er früher mit Mary zusammengekommen war. Unser Held fühlte nicht länger den Stolz der Armut; die Behandlung, welche ihm als einem armen, freundlosen Knaben im Schlosse zuteil geworden, hatte ihm wehe gethan, aber nun war seine Lage eine andere geworden; er überwand jetzt die Gefühle der Empfindlichkeit und nahm sich vor, am andern Tage nach dem Schlosse zu gehen und nach Mary zu fragen. Er war nun gut gekleidet und hatte ganz die Außenseite und die Manieren eines Gentleman; auch war er außerdem so daran gewöhnt, von den Dienstboten respektiert zu werden, daß ihm die Möglichkeit einer andern Behandlung gar nicht zu Sinne kam. Er begab sich deshalb am andern Tage nach dem Herrenhause hinauf, klopfte an das Thor und sagte, sobald es geöffnet wurde, dem wohlgepuderten Domestiken, daß er Miß Atherton auf ein paar Worte zu sprechen wünsche, wenn sie anders noch in Mrs. Austins Diensten sei. Seine Außenseite wurde von dem Gentleman aus der Bedientenhalle hinreichend respektiert, so daß sich derselbe veranlaßt sah, ihn in ein Besuchszimmer zu weisen und nach Mary zu schicken, welche nach ein paar Minuten herunterkam und ihn zärtlich umarmte.
»Ich würde Dich kaum mehr erkannt haben, mein lieber Junge«, sagte sie, und Thränen glänzten in ihren Augen: »Du bist ja ganz ein Mann geworden. Wie Du jetzt vor mir stehst, kann ich mir kaum vorstellen, daß Du der kleine Joey bei Mrs. Chopper warst.«
»Dieser guten Frau verdanken wir unser ganzes Glück«, versetzte Joey. »Du mußt nämlich wissen, Mary, Dein Geld hat sich so schnell vervielfältigt, daß ich fast wünsche, Du würdest es wieder an Dich nehmen, damit es nicht durch irgend einen Unfall verloren gehe. Ich habe Dir einen Rechenschaftsbericht mitgebracht.«
»Laß mich lieber einen Bericht über Dich selbst hören, lieber Bruder«, entgegnete Mary; »ich brauche kein Geld, denn ich fühle mich hier wohl und glücklich.«
»Das muß wohl der Fall sein, denn Du siehst so jung und schön aus, wie zur Zeit, als ich Dich das letzte Mal sah, Mary. Wie geht es Deiner Gebieterin?«
»Sie ist gesund und würde, glaube ich, glücklich sein, wenn Mr. Austins sonderbare Krankheit nicht wäre. Er schließt sich ganz ab und ist nicht zu bewegen, über die Thore des Parks hinauszugehen. Er ist stolzer und hochmütiger geworden als je, so daß kein Diener um ihn bleiben mag.«
»Nach dem, was vorgefallen ist, als ich früher hier war, hege ich nicht den Wunsch, ihn zu sehen. Ich kann von keinem Menschen Unverschämtheiten ertragen, nicht einmal in seinem eigenen Hause«, erwiderte unser Held.
»Sprich nicht so laut; sein Lesezimmer ist nebenan und nur durch diese Thür von uns getrennt«, sagte Mary. »Er würde zwar zu Dir nichts sagen, aber die Sache mir zur Last legen.«
»Dann ist's wohl besser, Du besuchst mich in ›Austins Wappen‹, wo ich abgestiegen bin.«
»Ich will diesen Abend hinkommen«, versetzte Mary.
In diesem Augenblicke ging die Thür, welche zu dem Lesezimmer führte, auf, und eine Stimme ließ sich vernehmen:
»Mary, ich wünschte, Sie unterhielten sich für die Zukunft mit Ihren Liebhabern in einer geziemenderen Entfernung.«
Joey vernahm die rauhe, hohle Stimme, erkannte sie aber nicht; er mochte sich nicht umwenden, um Mr. Austin ins Auge zu fassen, sondern blieb stehen, ihm den Rücken zukehrend, während die Thür krachend wieder zuging.
»Nun«, bemerkte Joey, »das ist ebenfalls ein hübsches Pröbchen von dem Wesen des Mannes. Warum sagtest Du ihm nicht, daß ich Dein Bruder sei?«
»Weil es besser war, nichts zu sagen«, versetzte Mary; »er wird nicht wieder hereinkommen.«
»Gut, ich verlasse Dich jetzt«, sagte Joey, »und erwarte Dich heute Abend; Du wirst doch nicht fehlen?«
»O nein, gewiß nicht«, versetzte Mary; »bst! ich höre meine Gebieterin mit Mr. Austin reden. Ich wollte, Du könntest sie sehen; sie würde Dir sehr gefallen.«
Die äußere Thür des Lesezimmers war geschlossen, und nun wurde die Thüre des Zimmers, in welchem die beiden sprachen, geöffnet, aber alsbald wieder zugedrückt.
»Wer war das?« fragte unser Held, der sich nicht umgewandt hatte, um sich zu überzeugen.
»Mrs. Austin; sie blickte eben herein, und als sie sah, daß ich Besuch habe, winkte sie mir nur, vermutlich um mir anzudeuten, daß sie mich brauche, und ging dann wieder fort«, antwortete Mary.
»Es ist besser, Du gehst jetzt; ich werde auf den Abend zuverlässig eintreffen.«
Unser Held verließ das Schloß; er hatte sich in der unmittelbaren Nähe seiner Eltern befunden, ohne sie zu kennen, und das einfach deshalb, weil er zufälligerweise bei beiden Gelegenheiten sein Gesicht der falschen Richtung zugekehrt hatte; er zog so weise ab, als er gekommen war. Sobald unser Held das Schloß verlassen hatte, verfügte sich Mary zu ihrer Gebieterin.
»Was steht zu Befehl, Madame?« fragte Mary, als sie in Mrs. Austins Gemach anlangte.
»Nichts Besonderes, Mary; mein Mann hat nach mir geschickt, weil er sich darüber ärgerte, daß Sie eine fremde Person im Hause hätten, und trug mir auf, sie fortzuschicken.«
»Es war mein Bruder, Madame«, versetzte Mary.
»Ihr Bruder? Es thut mir sehr leid, Mary, aber Sie wissen, wie angegriffen Mr. Austin ist, und gegen Krankheit helfen keine Gründe. Ich hätte gern Ihren Bruder wohl auch sehen mögen; wenn ich mich recht erinnere, so sagten Sie mir, er habe in Portsmouth sein gutes Auskommen – ist's nicht so?«
»Ja, Madame; er ist jetzt der Associé eines der ersten dortigen Häuser.«
»Ei, Mary, da wird er Sie vermutlich bald als Haushälterin brauchen, und ich werde Sie verlieren? Freilich, Sie eignen sich mehr für eine solche Stelle als für Ihre gegenwärtige, und es freut mich, wenn Sie sich verbessern können.«
»Er denkt nicht daran, ein eigenes Haus zu führen, Madame«, versetzte Mary, »und auch mir kommt es nicht in den Sinn, Sie zu verlassen; mein gegenwärtiger Platz ist mir ganz recht. Ich habe ihm versprochen, ihn diesen Abend in ›Austins Wappen‹ zu besuchen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Gewiß nicht«, entgegnete Mrs. Austin; und damit hatte die Unterhaltung ein Ende.
Unser Held blieb zwei Tage in dem Gasthause; einen Teil derselben verbrachte er in Marys Gesellschaft, und dann machte er sich nach Dudstone auf den Weg. Er weihte Mary nicht in das Geheimnis seiner Liebe zu Emma Philipps ein, obschon er ihr den Tod des Schulmeisters und die Erleichterung, die ihm dadurch zu teil geworden, mitteilte. Ehe er sich von ihr trennte, versprach er ihr, vor seiner Rückkehr nach Portsmouth wieder einzukehren und sie zu besuchen.
Joey langte ohne irgend einen weiteren Zufall in der alten Stadt Dudstone an, wo er sich in einem gewöhnlich von Kaufleuten besuchten Hotel einquartierte. Sein einziger Zweck war, den Zustand seiner Wohnung zu besichtigen, denn er hatte in den ersten zwei Jahren der Hauseigentümerin regelmäßig die Miete bezahlt, war aber in der letzten Zeit nicht mehr von ihr angegangen worden, obschon sie seine Adresse wußte, und so hatte denn unser Held, der von wichtigeren Geschäften in Anspruch genommen wurde, die Sache ganz vergessen oder, wenn sich dieselbe zufälligerweise seinem Gedächtnisse aufdrängte, nicht Zeit gehabt, der flüchtigen Erinnerung die That folgen zu lassen. Er verfügte sich nach dem Hause und klopfte an die Thüre, halb und halb vermutend, die alte Frau sei tot und sein Eigentum verkauft; indes erwies sich das erstere unrichtig, denn die frühere Besitzerin erschien selbst an der Thüre, erkannte aber unseren Helden nicht, und erst als er den Schlüssel zu seinem Zimmer hervorzog, fühlte sie sich überzeugt, daß er der rechtmäßige Eigentümer von dessen Inhalte sei. Sie sagte ihm, sie könne selbst nicht schreiben, und die Person, welche früher ihre Korrespondenz nach Portsmouth geführt, sei tot. Indes habe sie keinen Augenblick daran gezweifelt, er werde seiner Zeit zurückkehren und mit ihr abrechnen; freilich fürchte sie, die Möbel würden, weil so lange nicht gelüftet werden konnte, Not gelitten haben, was nicht nur sehr wahrscheinlich, sondern, als die Thür geöffnet wurde, auch wirklich der Fall war; sie fügte noch bei, sie hätte für ihn Geld daraus ziehen können, wenn er ihr erlaubt hätte, die Wohnung als möbliert zu vermieten, da deshalb mehrere Anfragen gestellt worden seien. Unser Held trat in seine Wohnung, die allerdings sehr mottenfräßig und moderig aussah. Sobald ein Feuer angezündet war, sammelte er alles, was er für sich zu behalten wünschte, die Bücher, das Silber und einige andere Gegenstände, die ihm als Erinnerungszeichen an Spikeman wert waren, packte alles in eine Kiste und erteilte Auftrag, daß man dieselbe nach seinem Gasthofe schaffen möge. Nach einigen Erwägungen glaubte er mit dem Überreste nichts Besseres anfangen zu können, als daß er der alten Frau ein Geschenk damit machte, was er denn auch nach Bezahlung der rückständigen Miete that und dadurch eine einzige Person für eine Weile im höchsten Grade glücklich machte, was in dieser unserer armseligen Welt wohl etwas wert ist.
Sobald Joey nach dem Wirtshause zurückkam, setzte er sich nieder, um an Spikeman, desgleichen auch an Mr. Small nach Portsmouth zu schreiben. Er besorgte die Briefe auf die Post, und da er erst am andern Morgen abzureisen gedachte, beschloß er, seinen früheren Bekannten, Miß Amelia und Miß Ophelia, einen Besuch zu machen. Er klopfte an die Thüre, welche, wie gewöhnlich, von Miß Amelia geöffnet wurde; sie hatte jedoch ein Kind auf dem Arme, und ein Geschrei in dem kleinen Wohnstübchen legte Zeugnis ab von einem weiteren Ehesegen. Unser Held mußte sich selbst bekannt machen, denn die junge Frau sah ihn mit großen Augen, wie einen ganz Fremden, an; dann wurde er aber auf der Stelle bewillkommnet und ersucht, in das Wohnzimmer zu treten. In ein paar Minuten war die ganze Familiengeschichte mitgeteilt. Die Mutter war vor drei Jahren gestorben, und nach ihrem Tode fand sich jede der jungen Damen im Besitze von tausend Pfund. Diese tausend Pfund bewiesen, daß sogar zu Dudstone und in seiner Umgebung Männer zu finden waren. Miß Amelia hatte vor zwei Jahren einen Baumeister geheiratet, der reichlich beschäftigt war, freilich nicht sowohl mit Erbauung neuer Häuser in Dudstone, sondern mit Ausbesserung der alten; es ging ihr gut, und sie hatten zwei Kinder. Ihre Schwester war mit einem jungen Landwirte verehelicht; sie konnte jeden Tag ihr Geld in der Gestalt von Rindern und Schafen auf dem Pachtgute vor Augen sehen; auch ihr Schwager hatte sein anständiges Auskommen. Joey verweilte eine Stunde; Mrs. Potts wollte ihn noch länger aufhalten, damit er ihr sagen könne, wie ihm ihr Mann gefalle; aber unser Held lehnte dies ab, trug ihr freundliche Grüße an ihre Schwester auf, sagte ihr Lebewohl und trat am andern Morgen den Weg nach London an.