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Prinzeß Helene saß im Neuhäuser Garten und neben ihr stand das elegante Kinderwägelchen der kleinen Leonie. Ihre Durchlaucht spielte noch immer die zärtliche Tante in der stürmischen Art, wie sie alles auffaßte, was ihr durch das Köpfchen schoß. Sie schleppte die Kleine überall mit herum, sie bemühte sich mit unermüdlicher Ausdauer, ihr geliebtes Nichtchen das Wort »Papa« zu lehren, doch die scheuen schwarzen Kinderaugen sahen sie zwar groß an, aber das trotzige Mündchen blieb geschlossen. Sie wußte nicht, daß selbst das jüngste Kind schon in den Zügen zu lesen versteht, und die Ungeduld und Leidenschaft, die aus den Blicken der Prinzessin sprühten, machten das arme kleine Wesen furchtsam. Es fing gewöhnlich nach kurzer Zeit an zu schreien.
Und dann ward es mit Inbrunst getragen, beschwichtigt, geküßt und mit unmöglichen Koseworten überschüttet, so daß Beate in ihrem Zimmer die Hände rang und mit besorgter Miene lauschte, ob nicht jemand dem unglücklichen Würmchen zu Hilfe kommen wolle. Aber wer denn? Lothar saß wie vergraben in seiner Stube, wohin er sich nach beendeter Mahlzeit zurückzuziehen pflegte, Prinzeß Thelda lag meistens auf ihrem Ruhebett, gähnte oder schrieb Briefe, und Frau von Berg – nun, die bestärkte Prinzeß Helena noch in ihren Launen und Einfallen.
Die alte Kinderfrau, die erschreckt hinzulief, ward höchstens dazu benutzt, den süßen Liebling etwas zu beruhigen und ihn seiner fürstlichen Tante wiederzugeben. Beate, die bisher nicht wußte, was Nerven zu bedeuten haben, spürte zum erstenmal in diesen Tagen ein merkwürdiges Kribbeln in den Fingerspitzen. Das war, als Lothar vor dem Fest apathisch erklärte, ihm sei es ganz gleich, wie sie es arrangieren wolle. Da stand sie nun, die sich nie im Leben um derartiges bekümmert hatte, und sollte für Konzertprogramm, Tanzordnung und Kotillon sorgen. Sie hatte nicht übel Lust, dem, der da in seinem verdunkelten kühlen Zimmer so schweigend und brütend auf und ab schritt, die Wahrheit zu sagen: »Du bist hier der Herr vom Hause, und wenn du dir Gäste einladest, so habe auch die nötige Geduld, um die Pflichten des Wirtes zu ertragen.«
Aber ehe sie noch die Lippen geöffnet, wandte er sich um, und sie blickte in ein blasses Gesicht von so sorgenvollem Ausdruck, daß sie erschrak.
»Um Gottes willen, Lothar«, sagte sie und trat zu ihm, »du bist krank?«
»Nein, nein!«
»Dann hast du Sorgen!«
»Sorgen wie ein Mann, der sein ganzes Hab und Gut, seine Hoffnung, seine Zukunft auf ein gebrechliches Schiff lud und es vom sicheren Ufer aus Sturm und Wellen preisgegeben sieht, der dasteht, ohne retten zu können, und weiß, daß der Untergang gleichbedeutend ist mit Elend und Verzweiflung«, sagte er leise.
»Aber, Lothar!« rief Beate entsetzt. Sie war es nicht gewohnt, ihn in solchen Bildern sprechen zu hören und fast flehend bat sie: »Schenke mir dein Vertrauen, Lothar, erkläre dich deutlicher, du ängstigst mich!«
»O nichts, Beate, kehre dich nicht daran, es kam mir so unwillkürlich über die Lippen. Es wird überwunden werden – dann – wenn es wieder still und einsam ist hier auf Neuhaus. Habe Nachsicht mit mir.«
Aber die Schwester wich nicht. »Lothar«, begann sie entschlossen, »ich glaube, ihr Männer seid in manchen Sachen schwer von Begriff. Ich denke, du darfst auch diesmal nur die Hand ausstrecken.«
»Nein, mein kluges Schwesterchen, diesmal nicht«, erwiderte er. »Über meine geöffnete Hand hinweg streckt sich siegesgewiß eine andere, und als ich das sah, da habe ich die meine still zurückgezogen und zur Faust geschlossen. So, und nun frage nicht mehr und laß mich allein, Beate!«
»Du bist noch immer der törichte Junge von früher«, murmelte sie und wandte sich. »Bei Gott, sie läuft dir nach wie deine Diana da –« Und sie wies auf den Hühnerhund, der mit klugen Augen jeder Bewegung seines Herrn folgte.
Sie stand dann plötzlich in der Halle und sah mit finsterer Miene, wie Prinzessin Helene im lichten Morgenkleid, gefolgt von der Komtesse, die breite Treppe herunterkam, um im Garten zu verschwinden.
Beate schüttelte den Kopf und stieg die Treppe hinauf nach der großen Dachstube, wo die Wäschespinde und Truhen standen. War es denn ein Glück, das er ersehnte in Bangen und Verzweiflung? Dieses hochgeborene leidenschaftliche Geschöpf! War denn die erste Ehe ein Glück gewesen? Warum flogen Lothars Wünsche so hoch? Sie dachte seiner Zukunft an ihrer Seite, an das verlassene schlichte Haus seiner Väter, in welchem sie einsam und allein verbleiben würde, es hütend und beschützend wie jetzt. Er würde hinausgehen mit ihr in das bewegte Leben der Residenz, auf Reisen sein, wie mit der ersten Gattin, und mitunter würde er kommen, auf ein paar Tage – allein! Was sollte die erlauchte Frau auch hier? Ihre Anwesenheit jetzt bedeutete ja nur eine Ermutigung, ihr spielendes Interesse an dem Haushalt des Stammsitzes war nur ein Beweis, daß auch sie sich gern herablassen würde, wie einst ihre Schwester sich herabgelassen hatte.
Und wenn er dann kam, würden sich Bruder und Schwester in die Augen sehen und finden, daß sie gealtert seien, der eine in der schwülen, sengenden Hofluft, die andere in der Einsamkeit und in der Sehnsucht nach eigenem Glück.
Sie erschrak selbst über den schluchzenden Ton, der sich ihr wider Willen entrungen. Sie biß die Zähne zusammen und schloß mit umflorten Augen die Truhe auf, die ihr zunächst stand, und raffte eilig Teppiche und bunte gewirkte Decken heraus. Es waren köstliche Sachen, sie wollte damit die Halle schmücken lassen. Joachim hatte sie auf seinen Reisen gesammelt, diese Smyrnagewebe und türkischen Stoffe, und bei der Versteigerung hatte sie es erstanden mit ihren eigenen Mitteln. Und während sie die stimmungsvolle Farbenpracht der wundervollen Gewebe betrachtete, rollten ihr die Tränen unaufhaltsam über das stille Gesicht.
Was war ihr nur eigentlich? Sie kannte sich gar nicht so! Mit einer energischen Bewegung wischte sie die Tropfen ab und zwang sich, an Kotillonsträußchen und Schleifen, an unzählige Porzellanteller und Tassen, an eine Friseurin, an Eis, Mandelmilch und Gott weiß an was zu denken, und zuletzt an diese unglückliche Idee der kleinen Prinzeß, ein Kostümfest mit Tanz aus dem einfachen Kaffee machen zu wollen.
Sie eilte die Treppen wieder hinunter, gab Befehle, schickte Boten fort, sprach mit Gärtner und Mamsell, und mitten in diesen Trubel kam die Absage von Klaudine und Joachim. Auf letzteren hatte man ja kaum gerechnet, aber Klaudine? Beate suchte eilenden Schrittes ihren Bruder auf. Sie fand ihn im Garten, wo er neben Prinzeß Helene und der Komtesse auf dem Tanzboden stand, der unter den Linden hergerichtet war. Die Zimmerleute waren eben fertig geworden und ein paar Gärtnerburschen bekleideten die grob behauenen Pfähle der Einfriedung mit Tannen - grün und zogen Blumengewinde von Pfeiler zu Pfeiler.
»Lothar«, begann sie, »Klaudine sagt ab. Willst du nicht selbst hinüber und sie bitten, dennoch zu kommen?«
Er sah in diesem Augenblick noch bleicher aus. »Nein!« erwiderte er kurz.
In Prinzeß Helenes Augen blitzte es auf, sie hatte dies Blaßwerden bemerkt.
»Dann werde ich hinfahren, wenn du es erlaubst«, sprach Beate.
»So wirst du deine Schritte nach Altenstein lenken müssen. Im Eulenhause triffst du sie schwerlich.«
»Heute abend, wenn sie zurückgekehrt ist«, erwiderte Beate. »Ich komme nicht ohne ihre Zusage wieder.«
»Sie scheinen Unglück zu haben, Baron«, sagte die Prinzessin mit flackernden Augen, »wie Mama mir mitteilte, wird auch der Herzog höchstwahrscheinlich dem Feste seine Gegenwart versagen. Ihre Hoheit teilte es Mama tiefbetrübt mit.«
Auf der Stirn des Barons schwoll eine Ader. Sonst veränderte sich kein Zug seines Gesichtes, er sah gespannt den Gärtnern zu, welche rot-weiße Fähnchen an den Säulen befestigten. »Es sieht gut aus«, bemerkte er gelassen, »meinen Durchlaucht nicht auch?«
Die kleine Durchlaucht nickte.
»Warum nicht auch die Farben Ihres Hauses?« fragte sie bezaubernd liebenswürdig. »Abwechselnd das Gelb und Blau mit dem Purpur und Weiß?«
»Ich liebe diese Zusammenstellung nicht«, erwiderte er. »Es sind gesuchte Kontraste.«
Beate, die sich eben zurückziehen wollte, wandte sich erschreckt ab. Aber die Prinzessin lächelte, sie mochte einen anderen Sinn herausgehört haben als Beate.
Klaudine stand am Nachmittag dieses Tages, sich verabschiedend, am Schreibtisch ihres Bruders.
»Meine Absage ist doch besorgt?« fragte er.
Sie nickte. »Deine und meine. Leb wohl, Joachim!«
»Deine?« fragte er bestürzt.
»Ja! Ich sehne mich nicht nach derartigen Festen, sei nicht böse, Joachim!«
»Böse? Ich verstehe dich nur nicht, du wirst Beate sehr betrüben.«
Über das schöne Gesicht der Schwester flog ein leiser schelmischer Zug.
»O, ich denke, ich werde sie wieder versöhnen, Joachim, laß mich doch hier, du hast keine Ahnung, wie ich mich auf diesen Tag freue, auf den Nachmittag unter der Steineiche, auf den Abend mit dir.«
Er reichte ihr die Hand. »Wie du willst, Klaudine. Du weißt, alles ist mir recht, was du tust.«
Und Klaudine ging hinunter, küßte das Kind zum Abschied und schaute in Fräulein Lindenmeyers Zimmer. Die schlief im Lehnstuhl. Leise machte Klaudine die Tür zu und schlüpfte durch den Hausflur in den Garten hinaus, vor dessen Pforte der fürstliche Wagen hielt. Nach kaum einer halben Stunde saß sie unter den Eichen des Altensteiner Gartens und las der Herzogin vor aus Joachims Werk »Frühlingstage in Spanien«. Die Geschichte seiner Liebe war in die wundervollen landschaftlichen Schilderungen anmutig mit eingewebt.
»Klaudine«, unterbrach die Herzogin die Lesende, »sie muß sehr reizend gewesen sein, diese kleine Schwägerin! Beschreibe sie mir!«
Das Mädchen heftete ihre blauen Augen auf die fürstliche Frau. »Sie glich dir, Elisabeth«, sagte sie.
»O du Schmeichlerin!« drohte die Herzogin, »aber da bringst du mich auf eine Idee – verzeih, daß mich die interessante Lektüre zu einer Toilettefrage anregt. Wie war's, Klaudine – ich nehme Fächer und Mantille und komme einmal >spanisch< nach Neuhaus? Es ist ein guter Gedanke, meine ich. Und du, Dina?«
»Ich habe abgesagt, Elisabeth.«
Über das Gesicht der Herzogin flog ein betrübter Zug. »Wie schade!« sagte sie langsam und nachdenklich. »Auch der Herzog hat abgesagt.«
Klaudines blasses Antlitz flammte plötzlich im Rot des Erschreckens. Die Augen der fürstlichen Freundin hefteten sich fragend auf die ihren.
»Ist dir heiß?«
»Aber weshalb will Seine Hoheit nicht teilnehmen?« erkundigte sich Klaudine ausweichend.
»Er hat mir keinen Grund angegeben«, war die Antwort.
»Elisabeth«, sagte das schöne Mädchen hastig, »wenn du es befiehlst, nehme ich meine Absage zurück, ich kann das leicht, Beate gegenüber.«
»Ich befehle es nicht, aber ich würde mich freuen«, sagte die Herzogin mit dem alten Lächeln.
»So beurlaube mich eine Stunde früher, ich möchte Beate selbst meinen geänderten Entschluß mitteilen.«
»Natürlich! So schwer es mir auch wird, dich zu missen. Aber berichte mir, warum wolltest du nicht nach Neuhaus? Ich kann mir nicht denken, Klaudine, daß du die Kleinigkeit mit Prinzeß Helene so ernsthaft genommen hast, um es deine Verwandten entgelten zu lassen.«
Die Herzogin hatte während dieser Worte die Hand der Freundin erfaßt und suchte mit ihrem Blick nach den blauen Augen.
Aber die langen blonden Wimpern hoben sich nicht und unter ihnen flammte wieder die heiße Röte auf von vorhin.
»Nein, nein!« stieß sie hervor, »das ist es nicht. Ich hatte Joachim einen stillen Abend versprochen. Ich glaubte, du würdest mich nicht vermissen in dem Glanz und Lärm des Festes.«
»Ich fühle mich nie einsamer als unter vielen Menschen«, erwiderte die Herzogin leise und hielt Klaudines Hand fest, die sie ihr entziehen wollte.
»Ich komme ja mit, Elisabeth.«
»Gern? Ich lasse dich nicht früher los.«
»Ja«, klang es zögernd und ihre Wange neigte sich gegen die der Herzogin. »Ja!« wiederholte sie noch einmal, »weil ich dich unsagbar lieb habe.«
Die Herzogin küßte sie. »Ich dich auch, Dina! Seit meiner Brautzeit habe ich nicht wieder das frohe, beglückende Gefühl gehabt wie jetzt neben dir. Und was so gut ist, in der Freundschaft kann man nicht so leicht Enttäuschungen erleben wie in der Liebe, sie gewährt ein ruhigeres Glück!«
Klaudine sah forschend in die Züge der Herzogin.
»Ja, ja, die Liebe, die Ehe bringen mancherlei mit sich, Schätzchen«, lächelte diese, »kleine Kränkungen, kleine Enttäuschungen. Denke doch, Klaudine, mit welchem Idealismus tritt so ein achtzehnjähriges Mädchen vor den Altar! Aber darum, mein Kind, bin ich doch die glücklichste Frau, denn er liebt mich. Sich geliebt zu wissen, fest auf die Liebe und Treue des Mannes zu vertrauen, darin liegt alles, was es für ein Weib gibt – und dieses Vertrauen verlieren würde für mich gleichbedeutend sein mit Sterben!«
Sie plauderte leise weiter von dem ersten Sehen des Geliebten, von jener innigen Liebe, die sie sogleich für ihn hegte, von dem Taumel, der sie ergriffen, als man ihr mitteilte, daß er um sie geworben hatte. Wie sie die Hände gefaltet und mit zitternden Lippen gefragt habe: »Mich? Mich will er?« Sie erzählte, wie sie täglich während des kurzen Brautstandes an ihn schrieb, wie sie mit einem Glücksgefühl, einem Stolz ohnegleichen nach der Vermählung mit ihm auf den Balkon des väterlichen Schlosses trat, um ihren schönen ritterlichen Gemahl den Tausenden von Menschen zu zeigen, die den großen Platz dort unten füllten, und wie sie dann so heimlich beide in dem unscheinbaren Wagen durch die Frühlingsnacht nach dem stillen Schlößchen in der Nähe der Residenz fuhren, wo sie ihr erstes junges Glück verbergen wollten.
Sie war beim Aussteigen mit der Schleppe am Wagen hängen geblieben und ihrem jungen Gatten buchstäblich zu Füßen gefallen, beide hatten sie gelacht, und weil ihr der Fuß schmerzte, hatte er sie in seinen Armen die Treppe hinaufgetragen, durch die menschenleeren Korridore, auf denen nur dämmernd die Lampen brannten, bis in ihre Zimmer, und dort hatten sie am offenen Fenster gesessen und die Nachtigallen im Parke gehört und die Lichter des Schlosses auf dem Weiher sich spiegeln sehen. Die feuchte warme Luft war voller Veilchenduft gewesen.
Die dunklen Augen der Erzählerin schimmerten in der Erinnerung jenes Glückes, und als jetzt eben die schlanke Gestalt des Herzogs im tadellosen eleganten Sommeranzug um das nächste Gebüsch bog, da flog ein wunderbar verklärender Glanz über ihr krankes, schmales Gesicht.
Er grüßte näher kommend, war aber offenbar nicht in rosiger Stimmung.
»Störe ich die Damen?« fragte er. »Ohne Zweifel werden Toiletteangelegenheiten erörtert? Tolle Idee, ein Kostümfest!«
»Mein Himmel, ja!« rief die Herzogin. »Klaudine, wo werden Sie nun in aller Eile noch eine Toilette her bekommen?«
»Ich habe ein ganzes Spind voll alter prächtiger Sachen von Großmama«, erwiderte sie, »es wird sich wohl etwas darunter finden, denke ich.«
»Die Fracks der Herren werden sich recht malerisch neben diesen Zigeunerinnen und Rokokodamen ausnehmen«, spottete der Herzog. »Natürlich, eine Laune von Helene, das ist klar.«
»Warum kommst du nicht, Adalbert? Tue es doch. Weshalb willst du Gerold diese Gunst versagen? Du hast ihn früher in jeder Weise verwöhnt«, bat die Herzogin.
Er zuckte die Achseln. »Es wird sich nicht einrichten lassen«, sagte er kurz und begann von etwas anderem zu reden.
»Nun, Klaudine, so werden wir uns miteinander trösten, ich als Spanierin und Sie?«
»In einer der unkleidsamen Trachten des Empire, Hoheit, kurze Taillen, enge Röcke und –«
»Verzeihung! Unkleidsam ist die Tracht nicht«, fiel der Herzog ein, »im Gegenteil. Aber es gehört ein tadelloser Wuchs und eine gewisse Grazie dazu. Denken Sie an das entzückende Bild der Königin Luise und an das Bild meiner eigenen Großmama, der Herzogin Sidonie, in der Galerie unseres Schlosses. Sie war reizend, diese Mode.«
Klaudine schwieg. Die Herzogin sprach noch einiges, dann empfahl er sich, und Klaudine las weiter.
Es war gegen neun Uhr und der letzte Tagesschein lag noch über den Bergen, als sie nach Neuhaus fuhr. Herr von Palmer stand an seinem Fenster hinter dem Vorhang und hörte das Gefährt vom Schloßhofe rollen. Er drehte seinen langen, sorgsam gefärbten Schnurrbart mit den wachsbleichen Fingern. Er wußte ja, der Pfeil lag auf der Sehne, der Bogen war gespannt, es bedurfte nur eines Anstoßes, dann war ein armes Menschenherz zu Tode getroffen – »unmöglich gemacht« nannte es Herr von Palmer. Es war nötig, es war sogar die höchste Zeit, die Freundschaft nahm überhand; die Herzogin behandelte ihn jetzt erbärmlich, noch schlechter als früher, er wußte, woher dieser Wind wehte. Wenn der Pfeil auch sie streifte – es geschah ihr recht. »Lächerlich, daß die Berg sagt, die kleine Prinzeß fürchte für Ihre Hoheit. Diese Naturen sind zähe.
Wundervoller Gedanke, die kleine eifersuchtstolle Durchlaucht auszuwählen, diejenige zu sein, die das Geschoß abdrücken sollte. »Großartig, großartig!« sagte er und ging im Zimmer auf und ab. »Das konnte auch nur ein Weiberkopf aussinnen. Es gibt einen Knalleffekt, einen riesigen, schöne Klaudine! Die Säle des Residenzschlosses sehen dich nicht wieder. Lothar denkt sowieso nicht an sie, dieser Hochmutsnarr mit seinen fürstlichen Freiereien. Wie die Berg darauf kommt, ist mir rätselhaft. Der Herzog aber mag an sie denken, so viel er will, hat Ihre Hoheit erst Verdacht, dann hilft es Euer Liebden nichts, geschieden muß sein! Wer nachher vor Euren herzoglichen Augen Gnade finden soll, das wird von mir abhängen. Die Berg ist noch schön genug und – alte Liebe rostet nicht. Sie liebt ihn auch noch immer und würde doch dabei mit dem größten Verständnis auf meine Pläne eingehen.«
Eine endlose Reihe glänzender Geschäfte entwickelte sich vor den Augen des Mannes, zunächst aber winkte der verlockende Titel »Hofmarschall«. Die alte kopfwackelnde Exzellenz von Elbenstein, die zugleich das Amt des Oberstallmeisters vertrat, und deren Geschäfte er, Palmer, bereits seit Monaten versah, konnte unmöglich noch lange leben. Seine Hoheit hatte auch bereits ein verheißungsvolles Wort gesprochen.
Er nahm seinen Hut und ging zur Tafel, wo eben der Rittmeister eine Pfirsichbowle braute, die ersten köstlichen Früchte aus den herzoglichen Treibhäusern waren angelangt.
Klaudine ließ den Wagen am Eingang der Neuhäuser Lindenallee halten, sie wollte unbemerkt ins Haus, in Beates Stube treten. Die Halle vermeidend, gelangte sie ungesehen durch die Hintertür, huschte leise durch den Flur und pochte kaum hörbar an die Wohnstube. Ein Schritt kam durch das Zimmer und die Tür wurde geöffnet.
»Ich bin es, Beat«, flüsterte sie, »störe ich dich nicht? Nur einen Augenblick.«
»Also wirklich, du!« rief die Cousine und zog das Mädchen in das noch finstere Gemach und zu einem Sessel.
»Laß nur, laß«, wehrte Klaudine, »ich wollte dir nur sagen, daß ich übermorgen dennoch komme, wenn du erlaubst.«
Beate lachte herzlich und küßte sie.
»Nun«, rief sie in die Dunkelheit hinein, »wer hat denn recht, Lothar? Mein Gang ist gar nicht einmal nötig.«
Klaudine erschrak. Am Fenster hatte sich eine Gestalt erhoben. Um ihre Stirn flatterte es heiß. »Die Herzogin befahl«, sagte sie stotternd.
»Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihrer Hoheit«, sprach er, und seine Stimme klang sonderbar heiser. »Soeben erwies auch Seine Hoheit mir die Ehre, die bereits erfolgte Absage zurückzuziehen.«
Klaudine griff in das Polster des Sessels, sie zitterte plötzlich, aber sagte kein Wort. Welch peinlicher Zufall!
»So setze dich doch«, drängte Beate, »man sieht und hört ja jetzt nichts mehr voneinander. Ich habe begreiflicherweise wenig Zeit, aber da du einmal hier bist, hilf mir die Tischplätze ordnen. Ich kenne ja alle diese Menschen nicht, die da eingeladen sind und zugesagt haben.«
»Verzeih, Beate, ich habe etwas Kopfweh und der Wagen wartet draußen«, sagte Klaudine ablehnend und wandte sich zum Gehen. »Laß doch losen«, setzte sie dann hinzu, als empfinde sie die Unart, Beate diese kleine Gefälligkeit zu versagen.
»Natürlich!« pflichtete Lothar bei. »Mitunter bringt der Zufall das große Los und erhört fromme Wünsche. Darf ich mir gestatten, Sie zu Ihrem Wagen zu geleiten?«
Beate schmollte wirklich ein wenig, sie blieb zurück. Lothar schritt neben dem erregten Mädchen durch die erleuchtete Halle in den Garten hinaus. Sie sprachen nicht miteinander.
Im Schlosse war die ganze Fensterreihe des ersten Stockes erleuchtet, Prinzeß Helene liebte viel Licht. Sie hatte sich früh von der Tafel zurückgezogen, um Kostüme anzuprobieren. Der Schein, der von dort herniederfiel, verbreitete sich noch bis unter das Dunkel der Bäume. Die Lindenblüte duftete betäubend, es war ein warmer feuchter Sommerabend, der Mond verbarg sich hinter dunkeln Wolken.
Sie kamen raschen Schrittes nebeneinander daher, vor ihnen huschte ein Schatten hinter einen der riesenhaften Bäume, ein zweiter folgte nach. Er hatte es wohl nicht bemerkt, Klaudine aber war unwillkürlich stehen geblieben. »Sehen Sie nichts?« fragte sie ängstlich.
»Nein!« erwiderte er.
»So war es wohl eine Sinnestäuschung?« entschuldigte sie sich.
Und nun ging sie rascher vorwärts bis zu dem Wagen, neigte den kleinen Kopf mit einem kühlen »Gute Nacht!« und schlüpfte hinein.
Das Rollen verklang in dem schweigenden Garten. Der Mann dort, der dem Wagen nachgeschaut hatte, schritt nun langsam auf dem Fußwege außerhalb der Parkmauer dahin, dem Walde zu, als wollte er sich auf einsamen Pfaden Ruhe erwandern.
»Alice«, flüsterte leidenschaftlich Prinzeß Helene und kam hinter dem Baumstamm hervor, »Alice, er ist mit ihr gefahren!«
»Durchlaucht, nur eine Ritterpficht.«
»O, ich kann das aber nicht ertragen, Alice. Was tut sie hier? Was wollte sie? Alice, so sagen Sie doch ein Wort!«
Das erregte Flüstern der Prinzeß war in heftiges Sprechen übergegangen.
»Aber, mein Gott, Durchlaucht«, begann die schöne Frau, als könne sie vor schmerzlichem Staunen nicht Worte finden, »was soll ich sagen? Ich bin selbst überrascht und fassungslos!«
Die Prinzeß eilte vorwärts bis zum Parktore. Dort stand eine alte Sandsteinbank und sie kniete hinter derselben im Dunkeln zur Erde und wartete, wartete mit fiebernden Pulsen auf seine Wiederkehr. Frau von Bergs Stimme erschallte vergeblich durch den dunkeln schwülen Garten. Sie ging endlich hinauf und lächelte in ihren großen Stellspiegel, indem sie um ihr volles Haar das kokette Tuch schlang, das sie übermorgen tragen wollte als Italienerin. Die Prinzessin kam erst nach Stunden zurück, mit bleichem Gesicht und verweinten Augen. Sie schlief nicht einen Augenblick in dieser Nacht.