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Am anderen Mittag zog ein starkes Gewitter hinter den Bergen empor und entlud sich über dem Paulinental. Der alte Heinemann sah seufzend, wie seine Nelken vom Sturme zerzaust wurden und wie das Wasser auf den Beeten floß, die zarten Wurzeln der frisch gepflanzten Gemüse lockerte und wohl gar dieselben wegschwemmte.
»O Jesus!« seufzte er in der Küche, wo er die Abwäsche besorgte wie ein richtiges Küchenmädchen, »sehen Sie nur, gnädiges Fräulein, das regnet sich fest.« Und er zeigte durch das Fenster nach den tannenbewaldeten Bergen hinüber, wo an einigen Stellen eine weiße Dunstsäule aus den Wipfeln emporstieg. »Der Hirsch raucht sein Pfeifchen, vor drei Tagen hört es nicht auf zu regnen, darauf können Sie sich verlassen. Wenn's dann nur vorbei ist! Aber mitunter regnet es sich so in aller Gemütlichkeit ein. und dann ist's hier trübe.«
Und richtig, so kam es, ein echter Gebirgsregen begann. Auf der abschüssigen Landstraße rieselte das Wasser langsam hinunter, der kleine Waldbach drüben zwischen den Tannen glich einer schmutzigen Lehmbrühe und alle Blumen hingen die Köpfchen.
Die Kleine stand mit ihrer Puppe am Fenster von Fräulein Lindenmeyers Zimmer, drückte sich das Näschen platt an den Scheiben und fragte, wann es wieder aufhöre naß zu sein da draußen. Im Garten sei es schöner. Und die alte Dame saß eifrig strickend daneben und wandte gewohnheitsgemäß den Kopf, um durch die Scheiben nach Vorübergehenden zu spähen, aber vergeblich.
Klaudine machte in der Wohnstube Studien auf der Nähmaschine und bekam vor Freude rote Wangen, als sie die erste tadellose Naht fertig hatte. Ja, die Arbeit, auch die verachtete mechanische weibliche Handarbeit, ist doch ein Segen, sie führt über manche Stunde des Kummers hinweg. Joachim aber saß ganz vertieft über seinen Büchern. Es sei ein rechtes Wetter um zu schaffen, sagte er bei Tische, und sobald er gespeist hatte, ging er wieder an sein Manuskript und hörte und sah nichts mehr.
Am folgenden Tage regnete es noch immer, und am dritten noch mehr. Im Altensteiner Herrenhause sah es ebenso mißmutig aus wie in der Natur, die Herzogin fühlte sich matt und angegriffen und hustete. Das trübe Wetter brachte ihr trübe Zukunftsgedanken. Sie hatte versucht, dieser Stimmung Herr zu werden, indem sie an ihre Schwester Briefe schrieb, aber da waren plötzlich Tränen auf das Papier gefallen, und sie wollte doch nicht, daß die schwergeprüfte junge Witwe in dem Gedanken noch bekümmerter würde. Sie war dann hinunter gestiegen, wo in dem großen Mittelsaal ihre beiden ältesten Söhne Fechtstunde erhielten, und einen Augenblick hatte das kecke Draufgehen der schönen blondhaarigen Knaben sie mit Entzücken erfüllt, dann kam wieder die alte Schwäche über sie und Frau von Katzenstein mußte sie nach ihrem Ruhebette zurückführen. Sie ließ sich nach einem Weilchen den jüngsten Prinzen bringen, ein prachtvolles, gesundheitstrotzendes Kerlchen, das ihr durch sein Erscheinen auf dieser Welt den letzten Rest ihrer Kraft genommen hatte, und sie sah ihm mit seliger Lust in die lachenden blauen Augen. Wie glich er dem Vater, diesem über alles geliebten Manne! Und plötzlich erhob sie sich und schritt, das Kind auf dem Arme, durch das Zimmer der Tür zu.
Frau von Katzenstein und die Kammerfrau stürzten herbei und wollten ihr den kleinen Prinzen abnehmen, sie wehrte lächelnd: »Ich möchte den Herzog überraschen, bleiben Sie, bitte.« Und auf den Zehen schlich sie sich über das spiegelnde Parkett des Salons, der ihre Zimmer von den seinen trennte, und stand hochatmend vor der Tür seines Gemaches.
Es war doch schön, ihn hier in Altenstein so nahe zu haben, zu ihm eilen zu können, wie jede andere glückliche Frau, die dem Vater das Kind zuträgt. Sie nahm das Händchen des Kleinen und ließ es pochen an das Getäfel der Tür. »Papa!« rief sie, »lieber Papa, mach auf, wir sind hier, die Liesel und der Adi!«
Dort innen wurde ein Kasten zugeschoben und gleich darauf die Tür geöffnet. Der Herzog, im schwarzen Samthausrock, erschien auf der Schwelle, offenbar verwundert über diesen Besuch. Am Schreibtisch stand Palmer, er hatte Papiere in der Hand, und auf der Platte des Tisches lagen verschiedene Blätter ausgebreitet.
»O, ich störe, Adalbert?« sagte die junge Frau unter Hüsteln. Das Zimmer durchwogte ein starker bläulicher Rauch türkischer Zigaretten.
»Wünschest du etwas, Elise?« fragte er. »Entschuldige diesen Rauch, er reizt dich zum Husten. Aber komm, ich will dich hinüber geleiten, es ist hier kein Aufenthalt für dich.«
Sie schüttelte langsam das dunkle Köpfchen: »Ich wollte nichts –« und mit einem Blick auf Palmer verschluckte sie die Worte: »ich wollte dich nur sehen, dir das Kind bringen.«
»Nichts?« wiederholte er, und eine leise spöttische Ungeduld sprach sich aus in der Bewegung, mit der er ihr den Kleinen abnahm. »Aber, vor allen Dingen komm hier fort!«
Nach ein paar Minuten saß sie wieder auf ihrem Ruhebett allein. Er hatte zu arbeiten, er ließ sich jetzt einen Vortrag halten über den Bau einer neu zu gründenden herzoglichen Forstakademie in Neurode, es war so wichtig. Auf ihre Frage: »Trinkst du nicht den Fünfuhrtee bei mir, Adalbert?« war nur ein zerstreutes: »Vielleicht, meine Teure, wenn ich Zeit finde. Warte nicht auf mich«, die Antwort gewesen.
Nun schlug es fünf Uhr, und sie wartete doch, aber da rollte eben unter den Fenstern ein Wagen über den Kies der Gartenwege. Das war der Herzog. Er fuhr aus, und bei dem Wetter! O ja, sie hatte es nur vergessen, er sprach schon gestern davon, nach Waldlust zu fahren, dem alten herzoglichen Jagdschloß, das renoviert werden sollte. Traurig legte sie den Kopf zurück an die Polster. Wie öde war es doch in den fremden Gemächern mit dem rieselnden Regen vor den Fenstern, und so allein! Das Kind spielte längst in seinem Zimmer mit der Erzieherin, der Herzog wollte nicht, daß sie es länger behielt, weil dessen Lebhaftigkeit sie zu sehr angreifen würde. Freilich, der Arzt verbot ihr täglich, sich anzustrengen, aber es ist doch hart, ein solches Verbot, wenn man Mutter ist! Sie griff wieder zu dem Buche, das ihr entglitten war, aber die Augen schmerzten, sie vermochte nicht weiter zu lesen. Es war auch eine so schaurige Erzählung, und wenn man selbst so traurig ist, und wenn draußen der Regen so einförmig niederrauscht, so als ob es nimmer wieder licht werden sollte, da darf man nichts lesen, was noch trüber stimmt. Ja, wenn man eine Seele hätte, mit der man sprechen könnte, so, wie sie einst daheim mit ihrer Schwester sprach, so recht vom Herzen weg! Ja, dann ist es heimlich, wenn draußen das Wetter tobt, die Dämmerung das Zimmer umspinnt und im Kamin ein leichtes Feuer brennt.
Und auf einmal stand eine Gestalt vor ihren Augen – Klaudine von Gerold in ihrem einfachen Kleide, das Schlüsselkörbchen am Arm, anmutig waltend in der kleinen, dürftigen Häuslichkeit des Bruders. Wie ruhig sie erschien, wie glücklich und beglückend! Klaudine hatte schon immer so vorteilhaft abgestochen gegen die anderen Hofdamen. Um die Welt hätte sie nicht die kleine Gräfin H. mit dem übermütigen Wesen um sich haben mögen hier im stillen Altenstein, ebensowenig wie Fräulein von X., die fast nie die Augen aufschlug, niemals lächelte. Aber Klaudine, Klaudine Gerold! Und plötzlich ergriff sie eine förmliche Sehnsucht nach diesem stillen Mädchen mit den ernsten blauen Augen. Sie drückte auf den Knopf der silbernen Glocke, die ihr zur Seite stand, und dann ging sie zum Schreibtisch und warf in fliegender Eile einige Zeilen auf das Papier.
»Diesen Brief an Fräulein von Gerold! Ein Wagen soll hinüber, sie zu holen. Aber eilen Sie!«
Nun ergriff sie eine fieberhafte Unruhe. Eine Stunde konnte es dauern, in einer Stunde würde sie hier sein können. Sie befahl Feuer im Kamin zu machen und ließ den Teetisch herrichten in der Nähe der spielenden, zuckenden Flammen.
Dann wanderte sie im Zimmer umher, trat zuweilen ans Fenster und sah in die regennasse Landschaft hinaus. Eine Stunde verrann, noch immer kam sie nicht. Da – horch – ein Wagen! Sie trat vom Fenster zurück, als zu ihrem Erstaunen Baron Gerold gemeldet wurde, »den Hoheit befohlen«. Sie hatte das ganz vergessen. Heute? Ja, es mußte wohl so sein! Richtig, sie hatte ihn gebeten, ihr einige Nachrichten über die angeblich große Armut von Wahlerode, dem nahe gelegenen Dorfe zu bringen.
Sie freute sich, ihn zu sehen, und fragte eingehend nach allem, aber zwischendurch horchte sie immer wieder in die Ferne.
»Sie werden mich zerstreut finden, Baron. Ich erwarte nämlich Besuch«, sagte sie lachend, als sie sich inmitten einer Auseinandersetzung, den Bau eines Gemeindearmenhauses betreffend, rasch zum Fenster wandte. »Raten Sie, wen? Aber nein, raten Sie lieber nicht, dann wird es eine Überraschung für Sie. Also, mein lieber Gerold, wenn Sie sich des Baues annehmen wollen, so können Sie auf meine Hilfe völlig rechnen.«
»Hoheit sind, wie immer, die Güte selbst«, sprach Lothar und erhob sich.
»Seine Hoheit«, scholl plötzlich die Stimme der Frau von Katzenstein, und gleich darauf trat der Herzog ein.
»O, wie gemütlich, Liesel«, sagte er heiter, die zarte Frauenhand küssend, die sich ihm entgegenstreckte. »Und Sie, lieber Baron, wissen Sie, dass ich eben meinen Jäger zu Ihnen schickte? Ich dachte an eine Partie L'hombre heute. Zum L'hombrespielen just das rechte Wetter, wie?«
»Hoheit wollen über mich befehlen.«
Der Herzog verbarg ein leises Gähnen und nahm Platz am Kamin. Die alte Hofdame war am Nebentische beschäftigt den Tee zu bereiten, ein Diener ging mit behutsamen Schritten ab und zu und stand jetzt wie ein Schatten an der Tür, des Augenblicks gewärtig, wo er die Tassen reichen könne. Die Dämmerung war rasch heruntergesunken, man unterschied nur undeutlich noch die Gesichter der Anwesenden. Hier und da zuckte ein Flämmchen im Kamin empor und warf ein flüchtiges Streiflicht auf den Herzog. Er sah abgespannt aus und seine große weiße Hand strich in regelmäßiger Wiederholung durch den blonden Vollbart.
»Es ist doch sehr einsam hier an solchen Tagen«, begann er endlich, »wir sind faktisch auf dem ganzen Wege, ausgenommen Ihr Fräulein Schwester, lieber Gerold, keiner Seele begegnet. Die resolute Dame ging mit Regenschirm und Wettermantel so vergnügt auf der einsamen nassen Straße dahin, als sei es der wonnigste Maimorgen. Vermutlich steuerte sie nach dem Eulenhause, denn sie schlug den Weg nach rechts ein.«
»Sicher, Hoheit, sie lässt sich so leicht durch kein Wetter abhalten ihrer Cousine einen Besuch zu machen.«
Der Herzog nahm eben eine der wappengeschmückten Tassen. »Beneidenswert!«, sagte er halblaut und tat ein riesiges Stück Zucker in den duftenden Trank.
»Die Gesundheit, meinen Hoheit? In der Tat, die Gerolds wissen sämtlich nicht, was Nerven sind, sie haben Nerven wie Stahl und Knochen wie Elfenbein.«
»Allerdings, das meinte ich«, klang es aus dem Munde des Herzogs. Und hastig die Tasse leerend, fragte er: »Ist es jetzt Mode bei dir, im Dunkeln zu sitzen, Liesel? Früher mußtest du Licht haben um jeden Preis.«
»Fräulein Klaudine von Gerold!« sagte plötzlich die alte Hofdame, und zugleich tönte das Rauschen eines seidenen Gewandes. Durch die tiefe Dämmerung schritt eine Gestalt, und eine leicht vibrierende klangvolle Frauenstimme sprach: »Hoheit haben befohlen!«
»Ach, meine liebe Klaudine!« rief die Herzogin erfreut und winkte nach einem Sessel, »meine ungeduldige Bitte hat Sie doch nicht gestört?«
In diesem Augenblicke flammten die Lampen unter der Decke auf, und ein durch mattes Glas gedämpftes Licht erhellte das Gemach und tauchte die kleine Gruppe der am Kamin versammelten Menschen in einen milden weißen Schein.
Der Herzog hatte sich, wie auch Baron Gerold, erhoben, und beide sahen zu dem schönen Mädchen hinüber; beide mit dem nämlichen Ausdruck der Überraschung. In den Augen Seiner Hoheit blitzte es einen Augenblick auf, dann wurde der Ausdruck wieder genau so apathisch wie vorher. Auf des Barons Stirn lag eine düstere Falte, doch auch sie verschwand blitzgeschwind. Dort neben dem Sofa der Herzogin stand sie, die schwarze einfache Seidenrobe hob ihre schlanke, ebenmäßige Gestalt prächtig hervor. Sie hatte kaum einen Hauch von Farbe auf ihren Wangen und sah nach einer tiefen Verbeugung vor Seiner Hoheit mit stillem Gesichtsausdruck zu der fürstlichen Frau hinunter.
Die Herzogin wies auf einen Sessel, den man hingeschoben hatte, und sprach von einem gemütlichen Plauderabend, und ob Klaudine auch wohl sei, sie sehe so blaß aus. Und mit eigener Hand reichte sie der jungen Dame ein Kristallfläschchen: »Nur ein paar Tropfen, liebste Klaudine, etwas Arrak macht warm nach der kalten Fahrt.«
Der Herzog hatte nicht wieder Platz genommen, er lehnte am Kamin und sah augenscheinlich mit größtem Interesse auf die Bewegungen der alten Freiin, die eben mit einem Körbchen voll bunter Wollsträhne sich ihrer Gebieterin näherte und auf die abweisende Handbewegung der eifrig Sprechenden sich wieder entfernte. Mit keinem Worte beteiligte er sich an der Unterhaltung, in welche die fürstliche Frau auch Lothar hineinzog. Dieser stand hinter dem Sessel Klaudines, dem Herzog gegenüber, und antwortete mit eigentümlichem Tonfall, als ob eine Gemütsbewegung ihn am fließenden Sprechen hinderte.
»Ich meine, der L'hombretisch wird uns erwarten«, sagte der Herzog plötzlich, indem er leicht die Stirn seiner Gemahlin küßte und mit einer flüchtigen Verbeugung gegen Klaudine hinausschritt, gefolgt von Lothar.
»Liebste Katzenstein«, bat die Herzogin, »ich weiß, Sie wollen Briefe schreiben, lassen Sie sich nicht stören! Sie sehen, ich bin in der allerliebenswürdigsten Gesellschaft. Lassen Sie die Vorhänge zuziehen, die Spuren des Teetisches beseitigen und meinen Liegesessel hierherschieben. Ich finde es so behaglich am Kamin, obgleich heute der sechste Juni im Kalender steht. Und, liebste Katzenstein, die Lampen an den Flügel. Sie singen doch ein wenig?« wandte sie sich an Klaudine.
»Wenn Hoheit befehlen.«
»O, ich bitte darum. Aber zunächst plaudern wir!«
Die lebhafte junge Frau, auf dem Ruhebette liegend, versuchte durch die bezauberndste Liebenswürdigkeit ihre stille Gefährtin zu diesem »Plaudern« zu bewegen, und es lag doch wie ein Bann auf dem Mädchen. Es war ihr, als müsse sie ersticken in diesem künstlich erwärmten Raume, in den Erinnerungen an vergangene Zeiten, die sich aus jedem Winkel lösten, aus jeder Stuckarabeske auf sie herniederschwebten. Hier in diesem schönen großen Gemach war ihnen als Kindern immer zu Weihnacht beschert worden, Joachim und ihr, hier hatte die kleine Ballfestlichkeit stattgefunden, ihrem jungen achtzehnjährigen Dasein zu Ehren, hier hatte sie weinend in tiefer Trauer den heimkehrenden Bruder und sein junges schönes Weib empfangen, während dort unten im Erdgeschoß die Leiche des Vaters aufgebahrt lag. Damals war jener Erker in einen Garten verwandelt gewesen, unter blühenden Granatbäumen hatten Sessel gestanden, damit Joachims Weib die nordische Heimat nicht gar so traurig erscheine. Die purpurroten Blüten sollten ein Gruß sein aus dem fernen Vaterlande, hatte Klaudine gemeint, und sie hatte doch nur erreicht, daß die schönen Augen der jungen Schwägerin sich mit Tränen füllten. »O, wie klein sind diese Blüten, wie sehen sie krank aus!« hatte sie geklagt. Ach, wie schwer war doch diese Zeit gewesen!
Klaudines Blicke kehrten wie aus tiefen Träumen in die Gegenwart zurück. Die Stimme der Herzogin hatte sie geweckt, und so bang und tränenschwer waren diese Blicke, daß die fürstliche Frau verstummte; aber eine zaghafte Hand griff nach der des Mädchens und hielt sie fest.
»Ach, ich vergaß, daß es Sie traurig machen muß, fremde Menschen in Ihrem Vaterhause zu sehen.«
Es klang so innig, so weich, und Klaudine wandte den Kopf, um die Tränen zurückzudrängen, die ihre Augen verschleierten.
»Weinen Sie doch, es erleichtert«, sagte die Herzogin einfach.
Klaudine schüttelte den Kopf und bemühte sich gewaltsam, ihre Fassung wiederzugewinnen, doch wollte es ihr nicht recht gelingen. Was tobte und stürmte nicht alles in ihrer Seele, und nun auch noch die Güte dieser Frau!
»Verzeihung, Hoheit, Verzeihung!« stieß sie endlich hervor. »Gestatten Hoheit, daß ich mich bald zurückziehe. Ich fühle, ich kann heute nicht die Gesellschaft sein, die Hoheit wünschen.«
»O nimmermehr, meine liebe Klaudine! Ich lasse Sie nicht! Denken Sie, ich vermöchte Sie nicht zu verstehen? Mein liebes Kind, auch ich habe heute schon geweint.« Und der erregten leidenschaftlichen Frau lief eine stille Träne um die andere über das fieberheiße Gesicht. »Ich habe einen traurigen Tag heute«, sprach sie weiter, »ich fühle mich so krank, ich muß immerfort ans Sterben denken, mir kommt das schreckliche Erbbegräbnis unter der Schloßkirche unserer Residenz nicht aus dem Sinn, und dann denke ich an meine Kinder und an den Herzog. Warum muß man solche Gedanken haben, wenn man noch so jung ist und so glücklich wie ich? O, sehen Sie mich nur an, liebste Klaudine, ich bin glücklich – bis auf meine Krankheit. Ich habe einen Gatten, dem ich über alles teuer bin, und so liebe, liebe Kinder, und doch diese schwarzen, diese schrecklichen Beängstigungen! Mir wird heute das Atmen so schwer.«
»Hoheit«, sagte das junge Mädchen bewegt, »es ist die schwüle Luft.«
»O, natürlich! Ich bin nervös, und es geht vorüber, ich weiß es. Seit Sie hier sind, ist es auch schon besser. Kommen Sie nur oft, recht oft! Ich will Ihnen gestehen, meine liebe Klaudine, ich hege, seit ich Sie gesehen, ein so großes Verlangen, Sie in meiner Umgebung zu haben. Mama war aber selbst so entzückt von Ihnen, daß sie nichts von einer Trennung wissen wollte. Ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Der Herzog selbst bat für mich, aber sie schlug es rund ab.«
Klaudine rührte sich nicht, nur ihre Augen senkten sich, und ihr Antlitz überflog einen Augenblick eine Purpurglut.
»Es ist wunderbar, die gute Mama versagt mir sonst nichts! Ja, und nun, liebe Klaudine, komme ich zu meiner Bitte: Bleiben Sie bei mir, wenigstens für die Zeit unseres hiesigen Aufenthaltes!«
»Hoheit, es ist unmöglich!« stieß Klaudine fast schroff hervor. Und wie flehend setzte sie hinzu: »Mein Bruder, Hoheit, sein Kind!«
»O, ich lasse das gelten, aber Sie müssen mindestens einige Stunden täglich für mich erübrigen, Klaudine, ein paar Stunden nur! Geben Sie mir die Hand darauf. Nur ein paar Lieder dann und wann! Sie wissen gar nicht, wie wohl mir wird bei Ihrem Gesang.«
Das schmale fiebernde Gesichtchen der fürstlichen Frau beugte sich vor, und die unnatürlich glänzenden Augen schauten bittend in die des Mädchens. Es sprach eine so rührende Mahnung an das verlöschende Leben aus diesem Antlitz. Warum mußte diese Frau so bitten? Und was erbat sie sich von ihr? Wenn sie ahnen könnte – aber nein, sie durfte es nicht ahnen!
»Hoheit!« stammelte Klaudine.
»Nein, nein! So leicht bin ich nicht abzuweisen, ich wünsche mir eine Freundin und eine edlere, bessere, treuere als Sie, Klaudine, finde ich nicht. Warum lassen Sie mich so bitten?«
»Hoheit!« wiederholte das Mädchen überwältigt und beugte sich auf die Hand, die noch immer die ihre hielt. Aber die Herzogin hob ihr Gesicht empor und küßte sie auf die Stirn.
»Meine liebe Freundin!« sagte sie.
»Hoheit! Um Gottes willen, Hoheit!« zitterte es durch das Gemach. Aber die Herzogin hörte es nicht, sie hatte den Kopf der alten Kammerfrau zugewandt, die meldete, daß der Herzog mit den Herren im Salon neben dem Spielzimmer soupieren werde, und fragte, wo Ihre Hoheit zu speisen befehle.
»Im kleinen Salon hier oben«, befahl die Herzogin, und enttäuscht blickte sie Klaudine an. »Ich hatte mich doch so gefreut auf den heutigen Abendtisch! Wir hätten eine so nette Partie Karree gehabt, der Herzog, Ihr Vetter und wir!« Und scherzend fügte sie hinzu: »Ja, ja, meine liebe Klaudine, wir armen Frauen müssen das Herz unserer Männer immer noch mit einigen Passionen teilen, die Jagd und das L'hombre, sie haben mir schon manche Träne ausgepreßt, aber – wohl der Frau, die nicht um ein Mehr zu weinen braucht!«
Es wurde neun Uhr, bevor Klaudine die Erlaubnis erhielt heimzufahren. Als sie, von der Kammerfrau der Herzogin geleitet, die breite, wohlbekannte Treppe hinunterschritt, begegnete ihr ein Diener mit zwei silbernen wappengeschmückten Champagnerkühlern. Sie wußte, daß Seine Hoheit kleine Spielpartien liebte mit sehr viel Sekt und sehr viel Zigaretten, man saß dort oft, bis der Morgen graute. Gott sei Dank, daß es auch heute so war!
Auf leisen Sohlen huschte Klaudine vollends die mit einem Purpurteppich belegten Stufen hinuter. Am Eingang stand der alte Diener ihres Vaters, Friedrich Kern, jetzt in herzoglicher Livree, und sein ehrliches Gesicht zog sich vor Freude in tausend Falten. Sie nickte ihm freundlich zu und eilte hinaus. Mit einem erleichternden Aufatmen sank sie in die seidenen Kissen des Wagens. Sie hatte sich gefürchtet wie ein Kind, es könne ihr noch jemand auf dem Korridor, auf der Treppe entgegentreten, jemand! Nein, Gott sei Dank, sie saß allein in dem fürstlichen Wagen, und der Wagen trug sie ihrer Heimat zu. Oh, niemals hatte sie eine solche Sehnsucht nach dem einfachen kleinen Stübchen empfunden wie heute. Eine Weile überließ sie sich dem Gefühl, ohne zu denken, dann öffnete sie plötzlich das Fenster und fuhr sich über die Stim. Dieser Duft der parfümierten Wagenkissen machte alte peinvolle Erinnerungen aus der Residenz lebendig. Es war das Lieblingsparfüm des Herzogs. Sie ballte plötzlich die Hand, und alles Blut strömte ihr zum Kopfe.
Sie öffnete auch noch das andere Fenster und saß im Zugwind, den die rasche Fahrt schuf, die Lippen aufeinandergepreßt und tränenfunkelnden Auges. Sie war doch wieder über diese Schwelle gegangen, gezwungen worden, darüber hinwegzutreten! Was hatte ihr die Flucht genützt? Nichts! Gar nichts! Wollte er sein Wort wahr machen, er werde sie überall zu finden wissen?
Die Gedanken verwirrten sich hinter ihrer Stirn, sie kam sich schlecht vor. Hätte sie nicht die Hand der fürstlichen Frau zurückweisen müssen, so schroff, wie Beate es getan hatte? Ach, Beate! Wie schritt die so eben und klar ihren Weg! Und da schimmerten eben die Fenster des Neuhäuser Wohnhauses aus dem Geäste der Linden, eine plötzliche Sehnsucht nach der aufrichtigen, schlichten Weise ihrer Cousine erfaßte sie. Sie zog die seidene Schnur, die um den Arm des Dieners befestigt war, und befahl, nach dem Neuhäuser Schlosse zu fahren.
In dem weiten Hausflur kam just Beate daher, das klirrende Schlüsselbund in der Hand und hinter sich ein Mädchen, das einen Stoß frisch aus dem Spinde genommenen Leinenzeugs trug.
»Wie, du bist das?« rief Beate, daß es sich schallend an den Wänden brach. »Herr des Himmels, wo kommst du denn heute abend noch her?«
Klaudine stand unter der schwankenden, schmiedeeisernen Hängelampe. Aus dem schwarzen Spitzentuch, das sie um den Kopf trug, sah ihr Gesicht fast marmorbleich hervor. »Ich wollte dir guten Abend sagen im Vorüberfahren«, sprach sie.
»Ei, da tritt ein! Woher kommst du? Sicher aus Altenstein, deiner feierlichen Kleidung nach? Ich hatte eigentlich die Absicht, euch heute aufzusuchen, aber da begegnete mir in der Nähe eures Hauses die Berg mit der Kleinen, und rate, wer noch im Wagen saß? Herr von Palmer! Na, das machte mich neugierig, ich pfiff dem Kutscher und bat um die Erlaubnis, bei dem schlechten Wetter gleichfalls unsere Kutsche benutzen zu dürfen. Die beiden Herrschaften waren natürlich sehr entzückt, wie mir schien. Höre, Klaudine, auf Liebesgeschichten verstehe ich mich schlecht, mir fehlt jegliche Erfahrung, aber hier, ich lasse mich köpfen, die werden ein Paar.«
Sie hatte während dieser Erzählung die Cousine in die Wohnstube geleitet und in einen der steifen, mit braunem Rips bezogenen Lehnstühle gedrückt. »Aber, sag doch«, rief sie von der anderen Ecke des Zimmers her, wo sie am Nähtischchen Schere, Zwirn und Nadel suchte, »kommst du von Altenstein? Und ist der herzogliche Wagen etwa draußen? Ja? Aber, mein liebes Kind, dann schicken wir ihn doch fort! Unser Lorenz macht sich ein Vergnügen daraus, dich nachher hinüberzufahren.« Sie warf einen Blick auf die Uhr über dem Sofa, die zwischen den Bildern ihrer Eltern hing. »In fünf Minuten halb zehn. Bis zehn Uhr kannst du doch bleiben?« Und schon war sie am Glockenzug neben der Tür und rief ihre Befehle dem herbeieilenden Hausmädchen zu. »Hast du Lothar nicht gesehen?« fragte sie dann, »der Jäger des Herzogs war hier, um ihn nach Altenstein zu bitten. Dich haben sie wohl auch holen lassen?«
Klaudine nickte.
»Du machst ja ein recht erbauliches Gesicht dazu, Schatz!« sagte Beate lachend.
»Ich bin nicht ganz wohl, ich wäre lieber daheim geblieben.«
»Warum sagtest du das nicht ehrlich?«
Klaudine wurde rot. »Ich glaubte es nicht sagen zu dürfen. Die Herzogin schrieb so liebenswürdig.«
»Na, ja, Klaudinchen, eigentlich kannst du es auch so nicht«, erwiderte Beate und wichste den Faden, mit dem sie eben einen abgerissenen Henkel an ein grobes Leutehandtuch nähte. »Sie sind doch immer sehr gütig gegen dich gewesen«, fuhr sie fort, »und diese kleine Herzogin ist trotz ihres aufgeregten Wesens doch eine Seele von einer Frau, und so krank! Nein, weißt du, es wäre geradezu eine Unart, wolltest du ihr nicht ein so geringes Opfer bringen. Wenn du dir etwa Sorgen machst, daß eure Wirtschaft unter deiner Abwesenheit leide, so beruhige dich nur, Kindchen, das übernehme ich.«
Sie stand bei diesen Worten auf und machte sich wieder am Nähtisch zu schaffen, als wollte sie Klaudine nicht ansehen.
»Du bist so freundlich«, murmelte das Mädchen. Auch die Ausrede, daß sie ihre Pflicht daheim nicht lassen könne, ward ihr genommen. Es war, als ob sich alles gegen sie verschwöre.
»Aber du hast mir noch nicht gesagt, war Lothar in Altenstein?« fragte Beate zurückkommend.
»Er spielt mit Seiner Hoheit L'hombre.«
»O jemine, das soll immer sehr lange dauern! Wer sind denn die anderen Mitspieler?«
»Vermutlich der Adjutant oder der Kammerherr und – irgendeiner, vielleicht Palmer.«
»Ah – der! Richtig! Er sagte, er habe es eilig, als er sich von mir im Wagen verabschiedete. Ich bot ihm an, nach Altenstein zu fahren, aber er dankte, er sei gerade auf einem Spaziergang begriffen gewesen – bei diesem Regen, Klaudine – als er Frau von Berg getroffen habe. Er ziehe es vor zu gehen. Auch gut, sagte ich und ließ ihn laufen. Mir machte nur das Gesicht der guten Berg Spaß, als ich in den Wagen schneite. Kutscher und Kinderfrau erzählten mir nachher, Herr von Palmer sei schon öfter >zufällig< mit Frau von Berg zusammengetroffen, und die letztere fügte hinzu: ›Dann sprechen sie ja wohl Welsch‹, – womit sie ›Französisch‹ meint – ›denn ich verstehe kein Wort.‹ Aber mein Gott, da kommt ja Lothar schon! Sieh doch den Hund!«
Der prachtvolle Hühnerhund hatte sich erhoben und stand nun wedelnd vor der Stubentür. Ein rascher, elastischer Schritt näherte sich, und gleich darauf trat der Baron ein. Er sah einen Augenblick ganz bestürzt auf Klaudine, die sich erhoben hatte und ihr Spitzentuch wieder über den Kopf band.
»Ah! Meine gnädige Cousine«, sagte er, sich verbeugend, »und ich glaubte Sie noch in den Altensteiner Salons. Seine Hoheit brachen das Spiel so plötzlich ab, daß ich annahm, Sie wollten noch ein gemütliches Abendstündchen bei der Frau Herzogin verleben. Hoheit hatten übrigens entschiedenes Unglück im Spiel«, fuhr er fort, »indessen, das nahm er sichtlich für ein gutes Zeichen, er ist abergläubisch, wie alle großen Geister. Wenigstens nannte er mich mit Vorliebe heute abend ›Vetter‹, und das geschieht immer nur, wenn das Barometer sehr hoch steht.«
Er hatte bei diesen Worten den Hut aus der Hand gelegt und streifte die Handschuhe ab.
»Gib mir einen Trunk ehrlichen kühlen Bieres, Schwester«, bat er dann mit veränderter Stimme, »dieser süße französische Sekt und diese süßen Zigaretten sind mir entsetzlich zuwider. Aber wollen Sie schon fort, Cousine?«
»Bleib doch noch!« sagte Beate, und zu Lothar gewendet, fügte sie hinzu: »Sie ist freilich nicht ganz wohl, aber da die Herzogin ihr den Wagen gleichsam in die Stube schickte, blieb ihr nichts weiter übrig, als hinzufahren.«
Herr von Gerold lächelte und nahm das schäumende Glas, das ein Diener ihm brachte. »Allerdings«, sagte er und trank.
Klaudine, die während seines Sprechens aufgestanden war und das Tuch um ihre Schultern gezogen hatte, ward, als sie dieses Lächeln sah, bleich wie der Tod. Und plötzlich stand sie vor ihm, hoch aufgerichtet und stolz.
»Allerdings«, wiederholte sie mit zuckender Lippe, »ich konnte die Aufforderung Ihrer Hoheit nicht zurückweisen. Ich bin heute zu ihr gegangen und werde morgen wieder gehen und übermorgen und alle Tage, wenn Hoheit es befiehlt! Ich weiß, ich handle auch im Sinne Joachims, wenn ich einer Kranken ein paar Leidensstunden vergessen helfe, sei es nun die Herzogin oder das arme Weib, welches Taglöhnerdienste in unserem Garten versieht.«
Sie hielt plötzlich inne.
»Laß den Wagen vorfahren, Beate«, bat sie dann, »es ist hohe Zeit, ich muß heim.«
Einen Augenblick war das Lächeln von seinem Antlitz gewichen, jetzt aber zuckte es schon wieder um seinen Mund. Er verbeugte sich tief und wie zustimmend. »Gestatten Sie, daß ich Sie begleite«, sagte er nun und griff nach seinem Hut.
»Ich danke Ihnen, ich möchte allein sein!«
»Ich bedaure, daß Sie meine Gegenwart noch eine Viertelstunde ertragen müssen, aber ich lasse Sie nicht allein fahren.«
Sie faßte Beate um den Hals und küßte sie.
»Was hast du?« fragte diese. »Du zitterst ja?«
»Oh nichts, Beate.«
»Also laß es mich wissen, Klaudine, wenn du nicht daheim bist, ich hole mir dann die Kleine.«
Wieder fuhr sie in den schweigenden Wald hinein. Sie lehnte in der Ecke des Wagens, ihr Kleid hatte sie dicht an sich gezogen und mit ihrer Hand fest in die Falten gegriffen, als wollte sie irgend etwas zerdrücken, um ihre innere Empörung zu beschwichtigen. Neben ihr saß Lothar. Der Schein der Wagenlaterne streifte seine Rechte, an welcher der breite goldene Ehering blitzte. Kein Wort ward geredet in diesem lauschigen, seidengepolsterten kleinen Raum, der zwei Menschen abschloß von dem Unwetter und den Schrecken der Nacht. In dem Herzen des Mädchens wogte ein Sturm von Zorn und Schmerz. Was glaubte dieser Mann von ihr, was war sie in seinen Augen?
Sie vermochte es nicht auszudenken, denn schreckhaft klangen ihr die eigenen Worte in die Ohren: »Und morgen werde ich wieder hingehen, und übermorgen und alle Tage!«
Nun war der Würfel gefallen, was sie gesagt hatte, das tat sie, und sie tat das Rechte.
Sie beugte sich vor. Gottlob, dort schimmerte das Licht aus Joachims Fenster. Nun hielt der Wagen und der Schlag wurde aufgemacht. Baron Gerold sprang hinaus und bot ihr die Hand zum Aussteigen. Sie übersah es und ging der Pforte zu. Mit einer stolzen Wendung des Kopfes streifte sie ihn noch einmal, und da glaubte sie beim Scheine der Laterne, die der alte Heinemann mit hocherhobener Hand hielt, zu sehen, daß er ihr mit einem bekümmerten Ausdruck nachschaute. Aber das war wohl nur Einbildung gewesen.
Sie kam fast atemlos in das Haus, und hinter sich hörte sie das Rollen des Wagens, mit dem er nach Neuhaus zurückkehrte.
»Sie schlafen schon alle«, wisperte der alte Mann, indem er seiner Herrin die Treppe hinaufleuchtete, »nur der gnädige Herr arbeiten noch. Die Kleine hat bei Fräulein Lindenmeyer gespielt, und dann haben wir Erdbeeren mit Milch gegessen, es ging alles wunderschön. Das gnädige Fräulein brauchen gar nichts mehr zu tun, von Rechts wegen.«
Sie nickte ihm zu mit ihrem ernsten, blassen Gesicht und schloß die Tür ihres Stübchens hinter sich. Dort sank sie auf den ersten besten Stuhl und schlug die Hände vor das Gesicht. So saß sie lange, lange.
»Er ist nicht besser als die anderen«, sagte sie endlich und schickte sich an zu Bette zu gehen, »auch er glaubt nicht mehr an Frauenehre, an Frauenreinheit!«
Was hatte sie ihr genutzt, ihre Flucht? Glaubte nicht gerade er das schlimmste von ihr? Sein Lächeln, die Reden heute abend hätten es ihr gezeigt, auch, wenn sie es nicht schon längst gewußt hätte. Oh, die ganze Welt mochte denken von ihr, was sie wollte, wenn nur ihr Herz, ihr Gewissen rein blieb! Sie allein würde dafür sorgen, daß sie den Blick nicht niederzuschlagen brauchte.
Sie preßte die Lippen aufeinander. Wohl, sie würde ihm zeigen, daß eine Gerold selbst den trübsten, schlammigsten Weg zu gehen vermag, ohne sich auch nur die Schuhsohlen zu beschmutzen!
Sie erhob sich, zündete Licht an und blickte sich in ihrem Stübchen um; wie sah es hier aus! Die Spuren ihrer in Unordnung geratenen Gedanken zeigten sich erschreckend deutlich in dem sonst so zierlichen Raum, dort die Schranktür weit geöffnet, auf der Kommode Schleifen, Nadeln, Kämme in wirrem Durcheinander, verschiedene Kleider auf Betten und Stühlen, alles spiegelte so klar die Stunde der Unentschlossenheit wieder, die sie durchlebt hatte, ehe sie nach Altenstein fuhr. Sie wollte nicht, nein, sie wollte nicht gehen und fand doch nicht den Mut, sich mit einer Lüge entschuldigen zu lassen. Draußen hatten die Pferde ungeduldig gescharrt vor dem fürstlichen Wagen und eine Viertelstunde nach der anderen war verstrichen, bis Joachim zuletzt kam: »Aber, Schwester, bist du noch nicht fertig?«
Da war sie gegangen.
Sie begann aufzuräumen. Wie erleichtert atmete sie auf, als wieder Ordnung um sie herrschte. Ja, es war nun überhaupt alles geordnet, sie selbst hatte die Entscheidung getroffen in einem Augenblick des Zornes, des bittersten Wehes. Aber war es wirklich das Rechte?