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Ja, Klaudine fuhr zu Hofe. Sie saß da in dem Wagen mit dem stillen, stolzen Ausdruck, den ihre Züge gewöhnlich zeigten. Sie hatte heute früh ihren Haushalt besorgt und war dann nach Tisch aus ihrem Aschenbrödelgewand geschlüpft, um das ebenso einfache wie elegante Kleid aus dunkelblauer weicher Seide anzulegen, das sie noch einige Tage, bevor sie um ihre Entlassung gebeten, von dem Schneider zugeschickt bekommen hatte. Es war keine Eitelkeit von ihr, sie war gezwungen, dieses Kleid zu wählen; denn Ihre Hoheit hatte gestern gesprächsweise erwähnt, daß sie schwarze Kleider nicht liebe.
Als Klaudine, um Abschied zu nehmen, zu ihrem Bruder in das Turmzimmer trat, betrachtete er sie verwundert.
»Wie schön du aussiehst!« sagte er stolz und küßte sie auf die Stirn.
Und sie blickte ihn ängstlich und verwirrt an; »ich habe kein anderes Kleid, Joachim.«
»Ich mache dir doch keinen Vorwurf«, erwiderte er freundlich, »ich freue mich nur über die harmonische Wirkung deiner blonden Haare mit dem tiefen Blau. Leb wohl, Schwesterchen, geh ohne Sorgen, Elisabeth ist gut aufgehoben bei Fräulein Lindenmeyer, und ich schreibe. Was zögerst du denn noch, Liebling? Hast du Kummer?«
Sie war wie schwankend ein paar Schritte zu ihm hinübergetreten, und ihre Lippen bewegten sich leise, als wollte sie sprechen. Dann wandte sie sich rasch, murmelte ein »Leb wohl!« und ging. Ihm, dem Träumer mit dem wedchen Gemüt, durfte sie ihre Sache nicht zur Entscheidung vorlegen. Selbst handeln, das ist der einzig richtige Weg.
Aber was in aller Welt sollte sie zunächst tun? Die Herzogin rief, und sie mußte kommen. Wenn sie nicht krank lag, hatte sie keinen einzigen Grund abzulehnen, eine Lüge wollte sie nicht sagen, und die Wahrheit durfte sie ihr gegenüber nicht aussprechen. Und war sie denn nicht am sichersten neben der fürstlichen Gemahlin? In dem Gemache der Gattin durfte keiner der heißen flehenden Blicke sie streifen. Sie drückte das Batisttuch an die pochende Schläfe, als könne sie den Schmerz dämpfen, der dort schon den ganzen Tag wühlte.
Dort unten tauchten jetzt die hochgiebligen Dächer des Altensteiner Schlosses aus den Gipfeln der Bäume, und gerade in diesem Augenblick brach nach langen düsteren Regentagen der erste Goldblitz der Sonne aus den lichter gewordenen Wolken und ließ den vergoldeten Knauf des Turmes aufleuchten.
»Ihre Hoheit haben schon mit Ungeduld gewartet«, berichtete flüsternd die alte Frau von Katzenstein in dem Vorzimmer, »Hoheit wollen von Ihnen ein neues Lied von Brahms hören und haben diesen Morgen zwei Stunden an der Klavierbegleitung geübt. Sie sind schrecklich nervös und aufgeregt, liebste Gerold, es hat einen kleinen Wortwechsel mit Seiner Hoheit gegeben.«
Das junge Mädchen sah fragend in das Gesicht der Hofdame.
»Unter uns, liebste Gerold«, flüsterte diese, »Hoheit wünschten, daß der Herzog heute nachmittag den Tee bei ihr nehme, und er lehnte es rundweg und mit einer Kürze ab, die fast unfreundlich genannt werden kann. ›Wir wollen musizieren‹, sagte Ihre Hoheit schüchtern, ›und ich glaubte, mein Freund, du habest dich gerade im letzten Winter sehr für Gesang interessiert? Ich meine, du hast die kleinen musikalischen Abende bei Mama niemals versäumt?‹ Seine Hoheit antwortete darauf: ›Ja, ja, gewiß, meine Teure, aber augenblicklich – ich habe Palmer zu einem Vortrag befohlen, und da das Wetter besser geworden ist, so will ich mit Meerfeld auf den Anstand heute abend.‹«
Klaudine drehte ihr Notenheft in den Händen; sie war rot geworden und unendlich peinlich berührt durch diesen Bericht. »Wollen Sie mich Ihrer Hoheit melden?« fragte sie.
»Sogleich, liebstes Geroldchen, lassen Sie mich Ihnen nur noch erzählen. Die Herzogin wandte ihm den Rücken und sagte ganz leise: ›Du willst nicht, Adalbert!‹ Und dann ist er ohne Antwort fortgegangen, und sie ist zu tausend Tränen aufgelegt.«
Die fürstliche Frau saß an ihrem Schreibtisch, als Klaudine eintrat, und streckte ihr die Hand entgegen. »Es ist, als ob der Sonnenstrahl, der eben da draußen aufleuchtet, mit Ihnen in mein Zimmer geflogen käme, beste Klaudine«, sprach sie liebenswürdig mit ihrer matten klanglosen Stimme. »Sie glauben nicht, wie einsam man sich bisweilen fühlen kann unter Menschen, selbst unter denjenigen, die uns alles sein sollen. Ich habe vorhin in beängstigender Unruhe mein Tagebuch geholt und darin geblättert, da ist mir leichter geworden. Ich habe doch schon viel, sehr viel Glück erlebt, das tröstet mich und macht mich dankbar. Nehmen Sie Platz. Sind das die Lieder, von denen ich sprach?« Sie ergriff die Noten und blätterte darin. »Ah, richtig – Liebestreue! Sie sollen es mir nachher singen, liebstes Fräulein von Gerold, jetzt möchte ich bitten, eine kurze Spazierfahrt mit mir zu machen, ich sehne mich unaussprechlich nach frischer Luft.«
Als die Damen nach einer Stunde zurückkehrten, nahmen sie den Tee, und dann trat Klaudine an den Flügel.
Ihre schöne weiche Altstimme schwebte durch den leicht dämmerigen Raum. Sie sang mit einer traurigen Lust. Der kostbare Flügel stand merkwürdigerweise in dem nämlichen Zimmer, an der nämlichen Stelle, wo einst ihr Instrument gestanden hatte. Das volle süße Glück ihrer Jugend ward lebendig in dieser Umgehung, sie wußte nicht, wie es kam, daß Joachims Lieblingslied von ihren Lippen floß:
»Aus der Jugendzeit, aus der Jugendzeit
Klingt ein Lied mir immerdar –
O wie liegt so weit, so weit,
Was mein, was mein einst war –«
Sie sang die traurige einfache Weise mit innigem Gefühl, und dann brach sie inmitten der letzten Strophe mit einem Tone ab, der wie gebrochen klang, und nach ein paar falschen Akkorden, welche die begleitende Hand noch mechanisch griff, ward es still.
Dann scholl es aber weich und leise durch das Gemach: »Adalbert, ich wußte ja, du würdest kommen!«
Klaudine hatte sich erhoben und starrte zu der hohen Gestalt hinüber, die sich eben zu einem Kuß auf die Hand der Gattin herabneigte. Nun verbeugte sie sich und faßte nach der Lehne ihres Sessels, als müßte sie sich stützen.
»Singen Sie weiter, Fräulein von Gerald«, bat der Herzog, »es ist lange her, seit ich die Freude hatte, Sie zu hören.«
Er saß im tiefen Schatten neben dem Lager seiner Gemahlin, den Rücken dem Fenster zugewandt. Klaudine sah sein Gesicht nicht, sie wußte aber, daß der letzte rosige Schein der Abendsonne sie streifte. Das machte sie noch verwirrter. Sie suchte sich gewaltsam zu fassen, aber als sie einsetzte, klang die Stimme verschleiert und kraftlos, es war, als schnüre ein Krampf ihr die Kehle zu. Sie stammelte eine Entschuldigung und erhob sich.
»Wie eigentümlich!« sagte die Herzogin. »Haben Sie schon früher daran gelitten, liebste Klaudine?«
»Niemals, Hoheit!« stotterte sie der Wahrheit gemäß.
»Es gibt derartige nervöse Erscheinungen«, bemerkte der Herzog ruhig, »vielleicht hast du Fräulein von Gerold bereits zu sehr angestrengt?«
»Oh, das wäre möglich. Verzeihen Sie, meine liebe Klaudine, und ruhen Sie sich aus«, rief sichtlich erschreckt die Herzogin. Sie winkte das junge Mädchen zu sich auf das kleine Sesselchen, von dem soeben der Herzog aufgestanden war, um fast unhörbaren Schrittes im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Setzen Sie sich so, daß ich Ihr Gesicht erblicken kann«, bat sie. »Wirklich, Sie sehen angegriffen aus, aber jetzt kommt Ihre Farbe wieder. Mein Gott, ich glaube fast, Sie haben sich vor dem plötzlichen Eintritt des Herzogs erschreckt! Adalbert!« lachte sie und bemühte sich, ihren Kopf zu wenden – er stand in diesem Augenblick hinter ihrem Sofa. »Du wirst schuld an diesem Verstummen sein. Oh du böser Mann, was richtest du für Sachen an!« Unwillkürlich hatte Klaudine die Augen zu dem Angeredeten erhoben, um sie im nächsten Augenblick tödlich erschreckt zu senken – da war er ja wieder, dieser heiße, flehende Blick! Über das Haupt der Gattin hinweg war er zu ihr geflogen, indes seine Stimme so ruhig erklang: »Es sollte mir leid tun, gnädiges Fräulein, ich kann mir aber nicht denken, daß mein Erscheinen hier etwas schreckendes, ungewöhnliches haben soll. Ich –«
»O gewiß nicht, Hoheit«, erwiderte Klaudine laut und richtete sich empor, »ich war in dem Augenblick ermüdet, ich hatte ein wenig Kopfschmerz. Es ist mir jetzt viel besser.«
»Um so besser!« lächelte die Herzogin, »und nun wollen wir plaudern. Du bist so stumm, Adalbert. Wie kam es, daß du dein Jagdvergnügen aufgabst? Erzähle! War es wirklich nur, weil du diesen Abend bei mir sein wolltest?« Sie folgte ihm, wenn er wieder an ihr vorüberschritt, mit glückseligen Augen, und ohne eine Antwort abzuwarten, plauderte sie weiter: »Denke dir, Adalbert, der Erbprinz hat ein Gedicht gemacht, seine ersten Verse, der Doktor ließ es mir heute zugehen, er hat es in seinem Lateinheft gefunden. Willst du es lesen? Liebste Klaudine, dort, auf meinem Schreibtisch unter dem Briefbeschwerer – nein, dort unter dem mit der Statuette des Herzogs. Danke sehr. Würden Sie es uns vorlesen? Es ist so kindlich geschrieben und so ernst empfunden.«
Klaudine nahm das Blatt, trat zum Fenster und las beim sinkenden Tageslicht die großen kindhaften Schriftzüge:
»Wenn ich ein Mann erst werde sein,
Hab' ich ein Wörtlein mir erkoren –
Das schreibe ich ins Herz mir ein,
Daß niemals werde es verloren:
Treu will ich sein, das ist mein Wort,
Treu meinem Volk, treu meinem Gott,
Treu meinen Freunden immerfort,
Treu meiner Pflicht, mir selber treu,
Daß treu stets meine Treue sei!«
Klaudine konnte das Gesicht der Herzogin nicht erblicken, aber sie sah, wie sie die Hand nach dem Gatten ausstreckte, und hörte, wie eine leisbebende Stimme flüsterte: »Dein Sohn, Adalbert!« Und laut fragte sie: »Ist es nicht köstlich?«
Er hatte sein Umherwandern eingestellt. »Ja, es ist köstlich, Elise. Möge der liebe Gott ihn so führen, daß es ihm niemals schwer falle, die Treue zu halten.«
»Das kann nicht schwer fallen, Adalbert, niemals!«
»Niemals?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Niemals! Was sagen Sie, Klaudine?«
»Hoheit, es kann Fälle geben«, begann das schöne Mädchen, »wo es einen schweren Kampf kostet, die Treue zu halten.« –
»Aber dann ist's keine Treue, die durch Liebe bedingt wurde«, unterbrach die fürstliche Frau und ihre Wangen wurden heiß, »dann ist es eine künstliche Treue.«
»Ja«, sagte der Herzog halblaut. Sie klang eigentümlich, diese einfache Bestätigung.
»Dann ist es eben keine Treue, dann ist es Pflichtgefühl«, erklärte die Herzogin eifriger.
»Treue in der Pflicht ist vielleicht der höchste Grad der Treue, Hoheit«, sprach Klaudine sanft.
»Ach, das ist ja ein Streiten um des Kaisers Bart, bestes Kind«, unterbrach abermals die Herzogin. »Eine Treue, die erst mit sich kämpfen muß, hat überhaupt ihre Bedeutung verloren. Wenn zum Beispiel – wenn der Herzog«, sie stockte einen Augenblick und ein schalkhaftes Lächeln glitt über ihr Gesicht, »wenn – nun, wenn er mit seinen Gedanken zuweilen – sagen wir einmal – bei Ihnen, Klaudine, wäre, dann würde doch seine Gattentreue keinen Wert mehr haben, und wäre er tatsächlich der tadelloseste Ehemann. Hörst du, Adalbert? – Dann hättest du, nach meiner Ansicht, überhaupt schon die Treue gebrochen.«
Der Herzog hatte sich umgewendet und schaute zum Fenster hinaus, Klaudine saß mit fast entstellten Zügen da. Die Herzogin bemerkte es nicht, sie lachte jetzt, es war ein so drolliger Gedanke, den sie eben ausgesprochen hatte. Und sie lachte weiter, so kindlich glücklich, wie nur der zu lachen versteht, der ein großes Glück sein eigen nennt und spielend von einem möglichen Verlust spricht, weil er sicher weiß, daß dies niemals sein kann.
»Klaudine!« rief sie dazwischen, »wie sehen Sie aus! Ängstigen Sie sich nicht, es ist kein Hochverrat. Nicht wahr, Adalbert, du weißt, wie ich oft necke? Mein Gott und nun tut mir die Brust weh – o das Lachen. – Klaudine! Klaudine!« Das Wort erstarb in einem heftigen Hustenanfall. »Wasser! Wasser!« stieß sie hervor.
Das erschreckte Mädchen war aufgesprungen und zu dem Tischchen geeilt, das stets eine Wasserflasche trug. Frau von Katzenstein, die in das Zimmer gestürzt war, hielt die nach Atem Ringende in den Armen. Der Herzog stand mit finsterer Miene neben dem Ruhebett, die Leidende hatte seine Hand wie im Krampf erfaßt.
Sie war wie geschüttelt von dem Husten und vermochte nicht zu trinken. Mit leisem Schritte kam der herbeigerufene Arzt durch das Zimmer. Klaudine trat zur Seite und gab dem alten liebenswürdigen Herrn Raum.
»Lieber Doktor Westermann!« stieß die Kranke hervor, »es wird schon besser, es geht vorüber. Oh mein Gott, ich atme wieder!«
Die allerletzte graue Dämmerung füllte das Zimmer. Klaudine hatte sich in die Fensternische zurückgezogen, sie stand wie auf glühenden Kohlen und sah, fast abwesend, auf die Gruppe inmitten des Gemaches.
Jetzt trat der Herzog zurück, und die Leidende fragte mit matter Stimme: »Habe ich dich sehr erschreckt, Adalbert? Vergib mir!«
»Hoheit müssen sich sogleich niederlegen«, erklärte der Arzt.
Der Herzog, der sich bereits der Tür genähert hatte, kam plötzlich zurück. Frau von Katzenstein stützte die Kranke, die sich gehorsam erheben wollte. Sie winkte freundlich zu Klaudine hinüber: »Auf Wiedersehen! Ich werde Sie bald rufen lassen, Liebste! Gute Nacht, mein Freund«, wendete sie sich dann zum Herzog, »morgen bin ich wieder ganz wohl.«
Der Arzt trat, nachdem die Kranke hinter dem Vorhang verschwunden war, zum Herzog.
»Hoheit, es ist nichts ängstliches, nur muß die hohe Kranke sehr geschont werden – keine aufregenden Gespräche, keine geistlichen Debatten, wie Ihre Hoheit es lieben. Das Temperament Ihrer Hoheit spielt mir ohnehin schon böse Streiche, ebenmäßig langweilig soll die Kranke leben.«
»Bester Herr Medizinalrat, Sie kennen ja die Herzogin. Eben hat sie übrigens bloß ein wenig gelacht.«
»Ich erlaube mir nur, Eure Hoheit nochmals darauf aufmerksam zu machen«, erwiderte der alte Mann sich verbeugend.
Der Herzog winkte sichtlich zerstreut und ungeduldig mit der Hand. »Guten Abend, lieber Westermann.«
Klaudine erschrak. Sie preßte sich tiefer hinein in die Dämmerung der Fensternische und blickte dem sich entfernenden Arzte mit seltsam bangen Augen nach. Sie war allein, allein mit dem Herzog. Das, was sie stets klug zu vermeiden gewußt, was er unverkennbar gesucht, heiß gesucht hatte, war geschehen. Aber vielleicht hatte er ihre Gegenwart vergessen, denn er schritt so erregt auf und ab im Zimmer. O, er würde sie nicht bemerken, das einzige Licht des Armleuchters genügte kaum, den nächsten Umkreis des Kamins zu erhellen, und sie stand geborgen hinter dem seidenen Vorhang der Fensternische.
In atemloser Angst verharrte sie, wie ein verfolgtes Reh, das dem Jäger nicht mehr zu entrinnen weiß. Sie hörte das Klopfen ihres Herzens so deutlich, wie seine gedämpften Schritte dort auf dem weichen Teppich. Dann zuckte sie empor, die Schritte näherten sich. Eine hohe Gestalt war unter den Vorhang getreten und eine Stimme, welche von einer leidenschaftlichen Aufregung seltsam klanglos gemacht wurde, nannte ihren Namen: »Klaudine«.
Sie trat furchtsam einen Schritt seitwärts, als wollte sie eine Gelegenheit erspähen, um zu fliehen.
»Klaudine«, wiederholte er und bog sich herab zu ihr, so daß sie trotz der tiefen Dämmerung den flehenden Ausdruck seiner Augen sehen mußte. »Die Szene tat Ihnen weh? Sie war nicht meine Schuld, ich möchte Sie um Verzeihung bitten.«
Er wollte nach ihrer Hand fassen, sie barg sie in den Falten ihres Kleides. Kein Wort kam aus ihrem fest geschlossenen Munde. So stand sie in stummer Abwehr, mit den schönen zornigen Augen ihn anblickend.
»Wie soll ich das verstehen?« fragte er.
»Hoheit, ich habe den Vorzug, die Freundin der Herzogin zu sein!« sagte sie dann voll Verzweiflung.
Ein trauriges Lächeln flog einen Augenblick über sein Gesicht. »Ich weiß es! Sie sind im allgemeinen nicht dafür, von heute auf morgen Freundschaft zu schließen. Indessen – Sie meinen, man müsse alles benutzen?« »So scheinen Eure Hoheit zu denken!«
»Ich? Auf Ehre nicht, Klaudine! Aber Sie, Sie haben sich mit wahrer Sturmeseile hinter die Schranke geflüchtet, die diese Freundschaft zwischen Ihnen und mir errichtet.«
»Ja!« sagte sie ehrlich, »und ich hoffe, daß Hoheit diese Schranke achten, oder –«
»Oder? Ich ehre und anerkenne Ihre Zurückhaltung, Klaudine«, unterbrach er sie. »Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen wie ein verliebter Page nachschleichen werde. Nichts soll Sie daran erinnern, daß ich Sie liebe, so leidenschaftlich, wie je ein Mann ein Mädchen geliebt hat. Aber erlauben Sie mir, daß ich in Ihrer Nähe sein darf, ohne dieser eisigen Kälte begegnen zu müssen, die Sie mir gegenüber zur Schau tragen, lassen Sie mir die – Hoffnung auf eine Zukunft, in der die Sonne auch für mich scheinen wird, nur diese Hoffnung, Klaudine.«
»Ich liebe Sie nicht, Hoheit!« sagte sie stolz und kurz und richtete sich auf, »gestatten Sie, daß ich mich zurückziehe.«
»Nein! Noch ein Wort, Klaudine! Ich verlange kein Zugeständnis Ihrer Neigung, es ist weder die Zeit dafür noch der Ort. Sie haben recht, mich daran zu erinnern! Daß ich die Herzogin nicht aus Liebe gewählt habe, daß meine erste innige Liebesleidenschaft Ihnen gehört, kann ich dafür? Ich meine, das geschieht Besseren als mir! Es kommt ohne unser Zutun, ist da und wächst mit jeder Stunde, je mehr wir dagegen ankämpfen. Ich weiß nicht, ob Sie so fühlen wie ich? Ich hoffe es nur und will ohne diese Hoffnung nicht leben.« Er trat näher und bog sich zu ihr nieder. »Nur ein Wort, Klaudine«, bat er leise und demütig, »darf ich hoffen? Ja, Klaudine? Sagen Sie ja! und kein Blick soll verraten, wie es um Sie und mich steht.«
»Nein, Hoheit! Bei der Liebe zu meinem Bruder schwöre ich Ihnen, ich fühle nichts für Sie!« preßte sie hervor und wich zurück bis an das Fenster.
»Für einen anderen, Klaudine, für einen anderen? Wenn ich das sicher wüßte!« tönte es leidenschaftlich.
Sie antwortete nicht.
Er wandte sich mit einer verzweiflungsvollen Bewegung und ging zu der gegenüberliegenden Tür. Dann kam er noch einmal zurück.
»Glauben Sie denn, daß nicht allen Rücksichten der Ehre genügt werden würde? Glauben Sie, ich könnte Sie erniedrigen?« fragte er, »glauben Sie –«
»Hoheit beginnen bereits damit«, unterbrach sie ihn, »indem Sie mir in dem Zimmer Ihrer kranken Gemahlin von Liebe sprechen.«
»Wenn Sie die Sache so auffassen«, sagte er schmerzlich.
»Ja, das tue ich, Hoheit, bei Gott, das tue ich«, rief das schöne Mädchen.
»Klaudine, ich bitte Sie!« flüsterte er. Wieder schritt er hastig im Zimmer auf und ab und abermals trat er vor sie. »Sie wissen, daß mein Bruder, der Erbprinz, plötzlich starb, kurz vor meines Vaters Tode, vor nunmehr zwölf Jahren?« fragte er.
Sie neigte bejahend den Kopf.
»Nun, Sie wissen aber nicht, daß damals seitens unseres Hofes mit dem Kabinett zu X. Unterhandlungen stattgefunden hatten über das Projekt einer Heirat der Prinzessin Elise mit dem Erbprinzen, meinem Bruder. Man war fast zum Abschlüsse gelangt, das heißt, mein Bruder sollte wie von ungefähr nach X. zur Brautschau kommen – da starb er und mit den Rechten, die ich übernahm, übernahm ich auch die Pflichten. Nach beendeter Trauerzeit reiste ich nach X. und freite die Braut.«
»Es ist freier Wille gewesen, Hoheit!«
»Mitnichten! Mir war diese Heirat eine schwere Bürde mehr zu der, die mir ohnehin die Krone brachte. Prinzessin Elise, die mich ahnungslos empfing und mich mit ihren großen Kinderaugen anstarrte, war von der Bewerbung meines Bruders so wenig unterrichtet, wie von der Absicht, mit der ich ihr entgegentrat. Sie läßt sich leicht begeistern, und mit wenig Mühe gewann ich ihr Herz. Mir waren die Frauen höchst gleichgültig zu jener Zeit, ich kannte die besten nicht, die anderen schienen mir langweilig. Prinzessin Elisabeth war mir unbequem im Anfang, ich vertrage es nicht, wenn Frauen beständig in höheren Regionen schweben. Ich hasse alles exaltierte, dieses himmelhoch jauchzende, zum Tode betrübte, ich konnte anfänglich rasend werden bei ihren Tränenergüssen. Später wurde mir das, was mich anfangs abstieß, im höchsten Grade gleichgültig. Ich bin ihr stets ein aufmerksamer Gatte gewesen und von einer gewissen nachsichtigen Schwäche gegen ihre Launen, seit sie krank ist. Ich ehre und achte sie als die Mutter meiner Kinder, aber mein Herz blieb ruhig und ward immer ruhiger, je inniger ihre Neigung zu mir wurde. Ich kann nicht dafür, es wird auch nicht anders durch Betrachtungen darüber. Da sah ich Sie. Ich weiß, ja, ja, ich weiß, Sie beurteilen das vom herkömmlichen Standpunkte und flüchteten vor dieser Neigung in Ihr Waldidyll, aber mich trieb es nach im alten heißen Sehnen, und ich finde Sie unnahbarer als je, finde Sie als die Freundin der Herzogin.«
Es zuckte unsicher in seinem Gesicht. »Gut, Klaudine, ich werde für jetzt mich bescheiden«, fuhr er fort, »nur die eine Bitte noch, sagen Sie mir, lieben Sie einen anderen?«
Sie schwieg. Eine Purpurglut floß über ihr Antlitz. Stumm senkte sie das blonde Haupt.
»Sagen Sie ›nein‹!« flüsterte der Herzog leidenschaftlich.
»Hoheit wünscht, Fräulein von Gerold möge mit den Aventiureliedern von Scheffel in das Schlafzimmer kommen, um Hoheit vorzulesen«, sagte Frau von Katzenstein eintretend.
Klaudine war erschreckt zusammengefahren und sah ihn an, wie um Erbarmen flehend.
»Ja – oder nein, Klaudine, ist Ihr Herz schon gebunden?« flüsterte er.
Sie trat zurück und verbeugte sich tief. »Ja!« sagte sie fest und schritt hochaufgerichtet an ihm vorüber, in der Hand das Buch, das sie mechanisch vom Tisch genommen hatte. Vorlesen jetzt? Sie war halb betäubt.
Die Herzogin lag in ihrem mächtigen französischen Himmelbette, dessen schwere seidenen Purpurvorhänge zurückgenommen waren. Das ganze Gemach zeigte das tiefe satte Rot, die Lieblingsfarbe seiner Bewohnerin. Unter der Decke hing eine Ampel aus Rubinglas. Neben dem Bette stand ein niedriges, mit roter Seide bezogenes Tischchen, darauf eine Lampe mit ebenfalls rotem Lichtschirme; in einem zusammenlegbaren Juchtenrahmen die Photographie des Herzogs und der Prinzen. An der gegenüberliegenden Wand hing in schweren Goldrahmen eine wundervolle Kopie der Madonna della Sedia, der erste Blick der Erwachenden mußte dieses schöne Bild treffen.
Die fürstliche Frau schien sich ganz erholt zu haben, sie lag mit einer gewissen Behaglichkeit unter ihrer Purpurdecke und lächelte der Eintretenden entgegen. »Setzen Sie sich auf den Hocker hier und lesen Sie mir die Thüringer Lieder, liebe Klaudine. War der Herzog noch bei Ihnen?« fragte sie dann, »ist er sehr geängstigt über den Hustenanfall? Es tut mir so leid, wenn ich in seiner Gegenwart husten muß. War er sehr traurig?«
Die Kranke sah forschend in die bewegten Züge des schönen Mädchens, welches nicht wußte, was sie antworten sollte. Sie nahm Platz und bückte sich nach ihrem Taschentuch zur Erde, um Zeit zu gewinnen. Wie furchtbar war doch ihre Lage!
»Klaudine«, sagte die Herzogin, »ich glaube, ihr haltet mich alle für sehr krank, für kränker, als ich bin. Lesen Sie nur, ich will keine Antwort. Dort, wo das Zeichen liegt.«
Und Klaudine las mit bebender Stimme:
»Denn das ist deutschen Waldes Kraft,
Daß er kein Siechtum leidet
Und alles, was gebrestenhaft,
Aus Leib und Seele scheidet – «
»Hören Sie?« unterbrach die Herzogin, »hören Sie? Auch ich werde hier genesen! Und morgen wird die Sonne scheinen, und wir wandern hinaus in die Tannen und atmen Gesundheit, Oh meine geliebte Heimat!«
Als Klaudine abends die Treppe hinabstieg, um heimzufahren, trat ihr Herr von Palmer entgegen und begleitete sie vollends hinunter. Er gab hinter Klaudines Rücken der Kammerfrau einen Wink, die sogleich verschwand.
»Mein gnädiges Fräulein«, begann er mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Ehrfurcht – »Seine Hoheit hat mich mit dem schmeichelhaften Auftrage betraut, ein Schreiben in Ihre Hände zu legen, was ich hiermit tun möchte.«
Er hielt ihr ein Briefchen hin, mit dem herzoglichen Wappen gesiegelt. »Es betrifft Ihre Hoheit, die Frau Herzogin, und Antwort sei nicht nötig, sagten Hoheit. Darf ich bitten?«
Sie mußte es nehmen, obgleich sie die Hand des Menschen am liebsten zurückgestoßen hätte. Wie konnte der Herzog so unvorsichtig sein, ihr durch diese Kreatur einen Brief, einen verschlossenen Brief zu senden! Sie riß den Umschlag in seiner Gegenwart auf und las. Es waren nur wenige Zeilen:
»Klaudine!
Sie sind ein ungewöhnlicher Charakter und werden dementsprechend auch das Ungewöhnliche richtig beurteilen. Nach Ihrem letzten Wort – habe ich nur noch eine Bitte: bleiben Sie der Herzogin auch trotzdem eine Freundin, geben Sie meinem Bekenntnis nicht die Folge, Altenstein zu meiden! Sie haben es nicht nötig, Klaudine! Bei meinem Wort, Sie dürfen mir vertrauen!
Adalbert.«
Sie ging rasch, Brief und Umschlag in der herabhängenden Rechten tragend, weiter. Herr von Palmer folgte ihr und half ihr dienstbeflissen in den Wagen, er ließ es sich sogar nicht nehmen, behutsam die Schleppe ihres Kleides zusammenzulegen, und trat erst mit tiefer Verbeugung zurück, als der Diener die Wagentür schloß.
»Auf Wiedersehen!« sagte er, als jetzt der Diener zum Kutscher auf den Bock sprang und die Pferde anzogen. Dann nahm er mit lächelnder Miene aus seinem rechten Ärmel ein Papier. »Man muß derartiges fester halten, schöne Klaudine«, murmelte er und überflog die Zeilen beim Scheine der Türlaterne.
Er nickte befriedigt und ging, eine Operettenmelodie vor sich hinsingend, in das Schloß zurück, um sein Zimmer im Erdgeschoß aufzusuchen. Dort zündete er sich eine Havanna an, warf sich auf die Ruhebank und überlas das Schreiben noch einmal.
»Seine Hoheit scheinen einen etwas stürmischen Anlauf genommen zu haben«, murmelte er, »und sie hat ihn in tugendhafter Entrüstung abgewiesen, gedroht, nicht wieder zu kommen. Und nun bittet er, der Herzogin wegen, diesen grausamen Vorsatz aufzugeben, und verspricht Besserung. Zeit gewonnen, alles gewonnen! denkt er. Es entwickelt sich sehr logisch, es ist gar nichts dagegen zu sagen – hm! Sie ist klug, sie wird sich nie begnügen, Seiner Hoheit die Stirn mit Rosen zu bekränzen, sie wird regieren helfen wollen. Diese Damen glauben ja alle, ihre schiefe Stellung durch sogenannte gute Taten zu sühnen, sie wollen den Unglücklichen, den sie in ihrer Macht haben, veredeln, wollen dem Volk zeigen, daß sein geliebter Herrscher keiner Unwürdigen in die Hände fiel, es soll anbetend vor ihnen auf den Knieen liegen und sie >des Landes guten Engel< nennen. Und auch die Klügsten sehen nur das, was ihnen zunächst vor Augen steht, und dieses Nächste könnte möglicherweise im vorliegenden Falle – ich sein!«
Er blies den Rauch seiner Zigarre zur Decke empor und betrachtete die Stuckgewinde dort oben.
»Sie kann mich nicht leiden«, sprach er weiter, »es geht ihr mit mir, wie es weiland dem unschuldigen Gretchen mit Mephisto erging, und es ist klar, daß sie eines Tages zu ihrem fürstlichen Faust sagen wird: ›Der Mensch, den du da bei dir hast, ist mir in tiefer innerer Seele verhaßt‹ – und so weiter. Das möchten wir am Ende doch verhindern! Ich will es nicht darauf ankommen lassen, ob der Herzog ihr glaubt oder nicht. Einstweilen freilich aufpassen! Die Berg wird helfen, sie hat eine hervorragende Begabung für Intrigen, mir selbst graut zuweilen vor diesem Weibe.«
»Das Abendessen ist bereit«, meldete der Diener. Herr von Palmer erhob sich ohne allzu große Eile, schloß sorgsam das Briefchen in einen riesigen alten Schreibtisch, dessen Täfelung das Geroldsche Wappen zeigte, ordnete vor einem großen Stehspiegel sein spärliches Haar, wusch sich mit einer wahren Flut von Kölnischem Wasser die mageren feinen Hände, gähnte herzhaft, nahm Hut und Handschuhe von dem ehrerbietig harrenden Diener, und nachdem er noch einen Blick auf die Uhr geworfen, welche die zehnte Stunde anzeigte, ging er nach dem kleinen Speisezimmer, wo die Herren, die der Herzog für seinen hiesigen Aufenthalt gewählt, bereits versammelt waren, der alte Kammerherr von Schlotbach, der Adjutant von Rinkleben, der den Rang eines Rittmeisters besaß, und der Jagdjunker von Meerfeld, ein Kerl wie ein junger Hund – wie Herr von Palmer ihn bezeichnete. Der letztere schien sich im allgemeinen der Freundschaft dieser drei Herren auch nicht besonders zu erfreuen. »Verzeihung«, sagte er zu den in einer Gruppe Versammelten, »ich ließ warten, war im Allerhöchsten Dienste beschäftigt, und ein reizender Dienst, meine Verehrtesten! Ich hatte auf Befehl Seiner Hoheit die schöne Klaudine von Gerold in den Wagen zu heben.«
»Donnerwetter, sie war schon wieder hier?« rief der Jagdjunker mit ungeheucheltem Erstaunen.
»Soeben verließ sie die herzoglichen Gemächer.«
»Sie wollen sagen: ›die Gemächer Ihrer Hoheit‹, mein Herr von Palmer«, berichtigte nicht ohne Schärfe der Rittmeister, und eine leise Röte stieg in sein Gesicht.
»Ich hatte das Glück, den schönsten Gast dieses Hauses auf dem oberen Korridor zu treffen«, erwiderte Palmer vielsagend lächelnd.
»Ah so! ›Man wußte nicht, woher sie kam, und schnell war ihre Spur verloren, sobald sie wieder Abschied nahm‹«, deklamierte der Jagdjunker lachend.
Der Rittmeister warf ihm einen unwilligen Blick zu. »Fräulein von Gerold war bei der Herzogin, hat in ihrem Salon gesungen und ist dann im Schlafzimmer ihrer Hoheit gewesen«, sagte er laut und bestimmt.
»Vorzüglich unterrichtet!« flüsterte Palmer und verbeugte sich tief. Der Herzog war soeben eingetreten. –
»Ich verstehe Klaudine von Gerold nicht«, sagte der Rittmeister ernst, als er nach dem Abendessen neben dem Jagdjunker den Gang entlang schritt, an dessen Ende sich ihre Zimmer befanden. »Es ist Mut am unrechten Platz, sie sollte die Höhle des Löwen meiden. Unglaublich, mit welcher Tollkühnheit ein Weib im Gefühl seiner Sicherheit und Tugend seinen guten Ruf aufs Spiel setzt.«
»Vielleicht macht es ihr Spaß, auf dem gefährlichen Seil zu tanzen«, erwiderte der Jagdjunker leichthin, »strauchelt sie, dann sind ja die Arme längst geöffnet, die sie auffangen, strauchelt sie nicht – um so besser. Ich denke aber, es kann ganz amüsant werden, es ist ohnehin verteufelt langweilig in diesem deutschen Aranjuez.«
»Von einer anderen würde ich vielleicht auch so denken, lieber Meerfeld, aber in anbetracht dieser Dame möchte ich doch bitten, Ihre Kritik etwas mäßigen zu wollen.«
»Na, nur nicht tragisch, Rittmeisterchen«, lachte der andere. »Lassen Sie sich den Schlaf nicht vergehen darüber, vorläufig sehen Seine Hoheit noch nicht aus wie ein Beglückter, Sie waren mehr denn schlechter Laune. Die Langeweile! Die Langeweile! Dieses Altenstein ist aber auch eine tolle Idee. Wenn man hier dumme Streiche macht, so beantrage ich mildernde Umstände.«