Eugenie Marlitt
Das Eulenhaus
Eugenie Marlitt

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2.

Im Treppenhause stießen sie auf eine Dame, die aus dem Seitenflügel kam, in welchem die Versteigerung stattfand. Sie nahm eben, besorgt und sichtlich unwillig vor sich hinmurmelnd, den Saum ihres braunen Kleides auf, denn auf den Stufen lag dicker Staub, den in all den Tagen des lebhaften Menschenverkehrs kein Besen weggefegt haben mochte. Die Röte eines jähen Erschreckens färbte ihr Gesicht, als sie aufblickend die beiden vor sich sah.

»Ah, Verzeihung!« sagte sie mit einer tiefen, unbiegsamen Stimme, indem sie zurücktrat. »Ich versperre Ihnen den Weg!«

Herr von Gerold sah einen Augenblick aus, als schwebe es ihm auf den Lippen, zu sagen: »Muß ich auch noch diesen Kelch leeren?« Aber er bezwang sich und entgegnete mit einer höflichen Verbeugung: »Der Weg aus diesem Hause steht uns allzuweit offen, ein Augenblick der Verzögerung kann uns nur lieb sein.«

»Es ist ja ein ganz schauderhafter Schmutz auf dieser Treppe – nein, wirklich empörend!« polterte die Dame, als habe sie seine Antwort gar nicht gehört, und schüttelte abermals an ihren Röcken. »Ich gehe deshalb nie zu einer Versteigerung, grundsätzlich nicht – was muß man da für alten Staub schlucken! Aber Lothar ließ mir ja keine Ruhe, er schrieb mir zweimal dringend, und da mußte ich wohl oder übel herüberfahren, um das Silbergeschirr zu erstehen. Er wird sich wundern – bis zu einer erstaunlichen Summe bin ich gesteigert worden.«

»Um meiner Großmama willen bin ich deinem Bruder dankbar für den Ankauf, Beate – ihr ganzes Herz hing an den alten Erbstücken«, sagte Klaudine.

»Nun ja, wie konnte er anders? Wir haben ja die andere Hälfte dieser Erbstücke und dürfen doch nicht leiden, daß unser Wappen auf den ersten besten Protzentisch kommt«, entgegnete die Dame achselzuckend. »Aber wäre es nicht zuerst an dir gewesen, Klaudine, das Silberzeug eben um deiner Großmama willen zu retten? Wenn ich nicht irre, hat sie dir ja besonders einige tausend Taler vermacht.«

»Ja, einen Notpfennig, wie es im Testament steht. Meine praktische Großmama wäre die erste, die mir zürnte, wenn ich das Vermächtnis geopfert und Silber, aber kein Brot im Schranke hätte!«

»Kein Brot? Du, Klaudine, du, die stolze, verwöhnte Hofdame?«

»War ich je stolz?« Sie schüttelte hold lächelnd den Kopf. »Und verwöhnt? Nun ja, das will ich glauben! Am Hofe lernt man nicht arbeiten.«

»Das hast du schon vorher gekonnt, Klaudine«, fuhr die Dame heraus. »Das heißt –« suchte sie sich hastig zu verbessern, aber es kam kein Nachsatz.

»Sprich nur weiter, du hast ja recht«, sagte Klaudine gelassen. »Die Art Arbeit, die du meinst, lernt man auch im Institut nicht. Aber ich will es nunmehr versuchen, ich will Hausfrau werden in meinem alten Eulenhaus.«

»Du willst doch nicht sagen –«

»Daß ich bei Joachim bleiben werde! Allerdings. Braucht er nicht jetzt doppelt Liebe und schwesterliche Hingebung?« Sie schmiegte sich fester an den Bruder und sah zärtlich zu ihm auf.

In das bläßliche Gesicht der Dame schoß eine dunkle Blutwelle. Sie bückte sich rasch zu der kleinen Elisabeth hinab und wollte ihr die Wange streicheln, aber das Kind sah sie finster und mißtrauisch von der Seite an. »Geh fort, du –« wehrte es die Liebkosung ab.

Herr von Gerold fuhr unwillig empor.

»Ach, lassen Sie doch das kleine Ding! Ich bin es gewöhnt, daß die Kinder mich nicht mögen«, sagte die Dame mit einem harten Auflachen und streckte die Hand schützend über das blonde Köpfchen hin. »Aber was ich sagen wollte –« wandte sie sich wieder zu Klaudine. »Du wirst anfangs schweres Lehrgeld geben müssen, man braucht nur deine Hände anzusehen. Das wird elegante Toiletten genug kosten, ehe du es lernst, in der hausleinenen Schürze an den Herd zu treten und ein richtiges Essen herzustellen, das heißt –« suchte sie sich abermals zu verbessern, während ihr Blick scheu die niedergeschlagenen Augen der schönen Hofdame streifte. »Pardon, Kind! Ich mein' es ja nicht böse, ich wollte dir nur für die erste Zeit eines meiner Mädchen anbieten. Meine Leute sind gut geschult.«

»Das ist bekannt. Ihr Ruhm als Hausfrau ist längst über das Weichbild der Geroldshöfe hinausgedrungen«, fiel Herr von Gerold nicht ohne Sarkasmus ein. »Aber wir müssen danken. Sie werden sich selbst sagen, daß wir keine Dienerschaft mehr halten können. Wie auch meine Schwester die schwierige Aufgabe anfassen wird, ich bin zufrieden und unaussprechlich dankbar. Sie ist und bleibt mein guter Engel, auch wenn ihr anfangs das >richtige Essen< mißglücken sollte.«

Er lüftete mit einer vornehmen Verbeugung den Hut und stieg mit den Seinen die Treppe hinab. Die Dame folgte stillschweigend, denn auch ihr Wagen stand ja drunten vor dem Tor des Gutshauses.

Mittlerweile hatte Friedrich, der alte Kutscher, den Koffer hinuntergetragen, und jetzt kam er, die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Armen, an den Hinabsteigenden vorüber. Das kleine Mädchen horchte besorgt auf das Porzellangeklirr im Korbe und reckte sich auf, um einen Einblick in ihre Besitztümer zu gewinnen, und da war in der Tat ein vorwitziger Puppenliebling eben im Begriff, über den Korbrand zu spazieren. Fräulein Beate griff über den Kopf der Kleinen hinweg schleunigst nach der Ausreißerin.

»Tu meinem Lenchen nichts mit deinen großen Händen!« schrie das Kind in demselben Augenblicke auf und zerrte die Dame am Rocke.

»Ach, das arme Würmchen, hast du es auch schon in der höfischen Zucht?« lachte Fräulein Beate kurz auf, als Klaudine die Hand erschrocken auf den Mund des Kindes legte. »Warum soll es denn die Wahrheit nicht sagen? Meine Hände sind ja groß und Komplimente werden sie nicht kleiner machen. Und ihr Ungeschick in allen zarten Dingen mag man ihnen auch auf den ersten Blick ansehen. Das kleine Ding protestiert dagegen, wie alle unsere Pensionsschwestern. Du mußt's ja noch wissen, Klaudine!«

Mit einer linkischen Verbeugung schritt sie die letzten Treppenstufen hinab nach dem Portal und winkte ihren Wagen herbei.

Die Gestalt, wie sie so unter dem Torbogen stand, war schön und kraftvoll gebaut, aber sie hatte eckige Bewegungen, und das luftgebräunte Gesicht unter den glatt und streng aus der Stirn gestrichenen Haaren milderte den unliebenswürdigen Eindruck der Erscheinung durchaus nicht.

Herr von Gerold fuhr scheu zurück, als er aus dem Tor trat. Er wäre wohl am liebsten in den dunkelsten Winkel des Hausflurs geflüchtet, Menschentrubel war ihm verhaßt, und hier auf dem freien Platze vor dem Hause war ein Durcheinander wie auf dem Jahrmarkt. Da wurden die Plüschmöbel seines Salons auf einen Leiterwagen verladen, dort schleppten Frauen ganze Lasten Federbetten herbei, Küchengerät polterte und klirrte beim Verpacken, und dabei gingen noch einmal die gezahlten Preise von Mund zu Mund, unter Lachen und Fluchen, je nachdem man gekauft hatte.

Zum Glück hielt der Mietwagen, in welchem Klaudine gekommen war, in der Nähe des Haustores. Man stieg rasch ein. Friedrich stellte die Korbwanne mit dem Spielzeug auf den Vordersitz, dann drückte er mit einem betrübten Abschiedsblick den Schlag zu, und fort brauste der Wagen, vorüber an all dem trauten Hab und Gut des Hauses, auf welches jetzt der freie, blaue Frühlingshimmel niederschien, vorbei an den leergewordenen Remisen und Ställen, an aufblühenden Teppichbeeten, an den Springbrunnen und den weiten Rasenflächen des Obstgartens, auf welchen noch der weiße Reif abgeschüttelter Blütenpracht lag. Dann streckte sich die helle Landstraße vor ihnen hin, rechts und links noch besäumt von den Gutsfeldern und Wiesen, bis der Wald seinen Schatten über sie warf. Vorher aber zweigte nach links ein breiter Fahrweg ab, und dort fuhr die in der Sonne blitzende elegante Kutsche hin, in welcher Fräulein Beate von Gerold heimwärts fuhr.

»Mußte auch die noch deinen Leidensweg kreuzen!« sagte Herr von Gerold zu seiner Schwester mit einem unmutigen Blick nach dem dahinbrausenden Wagen.

»Sie hat mir nicht weh getan, Joachim. Ich kenne sie besser und habe nicht das Vorurteil gegen sie, wie die meisten anderen Menschen«, entgegnete Klaudine. »Beate ist verletzend derb und scheinbar schonungslos anderen gegenüber nur aus – Verlegenheit –«

»Mohrenwäsche, Kind! Die hilft dir nichts! Sie ist nicht gut, diese Beate, sie hat weder Herz, noch den Geist, den ich in der Frau anbete, den Seelenliebreiz, der unbewußt von meiner armen Dolores ausströmte und mit welchem du mich Schuldigen auch heute wieder umstrickst. Nicht ein Atom davon lebt in diesem – barbarischen Frauenzimmer.«

Der helle Sonnenschirm des »barbarischen Frauenzimmers« tauchte eben noch einmal auf zwischen den Vogelbeerbäumen des Weges, dann verschwand er hinter den Buchen, den Vortruppen des schmalen Gehölzstreifens, mit welchem das Gebiet des Geroldshofes abschloß.

Jenseits dieses Laubwaldes, weit drüben am Berge, lag auch ein Herrenhaus, ein schmuckloser Bau neueren Stils, mit hellgetünchten Mauern und weißen Rolläden. Da sprangen keine Fontänen, und von Blumenbeeten war auch nicht viel zu sehen. Dafür aber hatte das Besitztum einen Baumschmuck, der seinesgleichen suchte. Wahre Riesen alter Linden spannen um Mauern und Höfe ein heimlich grünes Dämmern, nur die Vorderfront des Wohnhauses blieb unbeschattet, und um das schöne Taubenhaus inmitten des breit hingelagerten Rasengrundes vor dem Hause spielten ungehindert Maienlüfte und die Goldlichter der Sonne.

Diese Besitzung war auch ein Geroldshof, das Rittergut der Herren von Gerold-Neuhaus.

Vor alten Zeiten waren die liegenden Gründe des weiten Paulinentales und die von da bergauf kletternden mächtigen Waldungen in einer Hand vereint gewesen. Die Gerold von Altenstein hatten unumschränkt geherrscht über Leben und Tod jeglicher Kreatur, die in meilenweiter Runde sich rührte und regte. Später, vor mehr als zweihundert Jahren, hatte ein aus langer blutiger Fehde glücklich heimgekehrter Herr Benno von Gerold um eines nachgeborenen Spätlings seines Stammes willen das Gut Altenstein zwischen diesem und seinem Erstgeborenen geteilt. So war die Linie Gerold- Neuhaus entstanden. Lange Zeit hindurch war sie die weniger begüterte und in geringerem Ansehen stehende verblieben, dann aber hatten verschiedene Male reiche Erbinnen in das Haus geheiratet, und einzelne Träger des Namens hatten sich im Kriege hervorgetan. Ihre Nachkommen rückten, Stufe um Stufe, allmählich in die höchsten Hofämter ein, und schließlich gipfelte dieses Emporkommen in der Vermählung des Jüngsten und Schönsten mit einer Prinzessin des regierenden Hauses.

Fräulein Beate von Gerold hatte mithin recht, so sicher und zuversichtlich in ihrer schönen Equipage heimzufahren, denn sie war die einzige Schwester jenes »Jüngsten und Schönsten« und verwaltete, so jung sie auch noch war, in seiner Abwesenheit als bevollmächtigte Herrin das alte Stammgut. Und das Verwalten, das Wirtschaften verstand sie aus dem Grunde. Selbst Hand und Fuß rühren, den Morgenschlaf bekämpfen und mit hellem, scharfen Blick bis in den dunkelsten Winkel des Hauses hinein scheinbar allgegenwärtig zu sein, das war zu allen Zeiten der Wahlspruch in der Hausfrauenstube zu Neuhaus gewesen. Die Leute im Dorfe sagten, es sei noch gar nicht so lange her, daß das alte Erbspinnrad mit seinem hohl ausgetretenen Trittbrett Tag für Tag im Winter am Stubenfenster geschnurrt und draußen vor dem Hause das selbstgesponnene Leinen zur Sommerzeit auf dem Bleichrasen gelegen habe. Dieser Bienenfleiß und das scharfe Regiment in Milchkeller und Vorratskammern sollten denn auch hauptsächlich den Reichtum zusammengescharrt haben. Das ließen sich die Leute im Dorfe nicht nehmen. Nun, so ganz unfehlbar war dieses Spinnstubenurteil wohl nicht.

Die Altensteiner, von denen, just in diesem Moment, die letzten im Mietwagen das Erbe ihrer Väter auf Nimmerwiederkehr verließen, konnten auch auf eine lange, ununterbrochene Reihe braver, fleißiger Hausmütter zurückblicken, es war auch in Altenstein zu allen Zeiten rüstig geschafft und gesorgt worden, aber das Gut lag tiefer als Neuhaus, und in den letzten Jahrzehnten hatte ein unglücklicher Zufall es wiederholt gefügt, daß gerade über dem Paulinental wolkenbruchartige Gewitter niedergegangen waren. Binnen wenigen Minuten hatten die stürzenden Wassermassen und der überschäumende Fluß die niedriger gelegenen Gründe überflutet, die Ernteaussichten waren vernichtet und der Grund und Boden auf Jahre hinaus verwüstet und verdorben gewesen. Damit hatte bei allem Fleiß das verhängnisvolle »Rückwärts« begonnen.

Und diese Schicksalsschläge waren just in das Leben eines Mannes gefallen, der alle Tugenden seines alten Geschlechts, die Tüchtigkeit des Landwirtes, den Soldatenmut, die Treue und Hingebung für das angestammte Herrscherhaus, und wie sie sonst heißen mögen, diese Tugenden, in sich vereinigte. Der Oberst von Gerold war ein echter Sohn seines Stammes gewesen. Nur auf einem Wege, einem unheimlichen, den alle seine Vorfahren streng gemieden, war er abseits gegangen – die Leidenschaft des Spieles hatte eine furchtbare Gewalt über ihn gehabt. Er hatte ganze Nächte hindurch gespielt und Unsummen geopfert, und wie die Gewitterniederstürze am Grund und Boden gewühlt und seinen Besitz schwer geschädigt hatten, so war jenes Laster verheerend in den alten Familienschrein eingedrungen, der seit Jahrhunderten die klingenden Schätze, die Wertpapiere und Dokumente in sich schloß. Dieses unheilvolle Leben hatte einen jähen Abschluß gefunden durch die Pistolenkugel eines Kameraden, den der Oberst infolge eines Wortwechsels am Spieltisch gefordert hatte. Wie eine ausgeblasene Flamme war es urplötzlich verlöscht und der Welt entrückt worden – »just noch zur rechten Zeit«, hatten die Leute gemeint, aber sie hatten geirrt, es war schon nicht viel mehr zu verlieren gewesen.

Die umflorten Augen der schönen Hofdame streiften das von Studium und Stubenluft blaß angehauchte Gesicht des neben ihr sitzenden Bruders, über welches sich allmählich, gleichsam mit jedem Umrollen der Räder, ein Glanz von stiller Freudigkeit verbreitete. Ja dieser, »der Träumer und Sterngucker«, wie er sich selbst anklagend nannte, der von seinem Aufenthalt in Spanien nach jener furchtbaren Katastrophe schleunigst Heimberufene, hatte retten sollen, was noch zu retten möglich war. Er hatte es nicht gekonnt, um so weniger, als das junge Weib an seiner Seite, die zarte Andalusierin, ihre schönen Augen beharrlich mit stillem Entsetzen von dem Beruf einer deutschen Hausfrau abgewendet hatte. Er hatte schließlich nur noch ihr, der Dahinsiechenden, gelebt und die letzten Geldmittel erschöpft, um ihr gegenüber die Täuschung des Überflusses im Hause aufrecht zu erhalten, bis der »Engel der Erlösung sie von ihrem Schmerzenspfühl hinweggenommen«. Dann hatte er gefaßt das Trümmerwerk des ehemaligen Wohlstandes über sich zusammenbrechen lassen.

Klaudine sah, wie in diesem Augenblick ein tiefes, erleichterndes Aufatmen seine Brust hob. Sie folgte der Richtung seines Blickes – ach ja, dort hob sich das grauschwarze Zinnenviereck des Turmes über die Waldwipfel! Dort lag das Eulenhaus, das schützende Dach, das sie beherbergen sollte! Wie hatte man bei Hofe gelächelt, wenn Klaudine alle ihre Ersparnisse hingab, um das alte Gemäuer, das Vermächtnis ihrer Großmutter, in Bau und Besserung zu erhalten! Nun kam der Segen.

Sie konnte heimgehen von dem heißen Boden des Hofes in die Kühle und Stille unter grünen Bäumen – und da war sie zu Hause! »Zu Hause!« wie das doch erlösend und beruhigend klang nach all dem Zwiespalt, den Aufregungen der letzten Monate! Und der neben ihr saß, er brauchte nicht in eine Mietwohnung zu ziehen, er blieb auf Geroldschem Grund und Boden, wenn auch nur in einem Waldwinkel, dem äußersten Zipfelchen des ehemaligen großen Besitztums. Da hatte einst das Kloster Walpurgiszella gestanden, hart an der Scheide, welche die beiden Geroldshöfe trennte. Das Kloster wurde von einer frommen Ahnenmutter des alten Geschlechts erbaut, aber im Bauernkrieg zum Teil wieder zerstört. Später hatten die Gerolds den von ihnen an die Stifterin geschenkten Baugrund wieder zurückerworben, und der kleinere Teil, das Grundstück mit den Überresten der Baulichkeiten, war denen von Neuhaus zugefallen. Sie hatten den Trümmern nie Beachtung geschenkt, was stürzen wollte, das ließen sie stürzen, und Zeitenlauf und Wetter hatten nagen und abbröckeln dürfen, so viel sie wollten. Nur ein Seitenbau, das ehemalige sogenannte Sprechhaus der Nonnen, vom Feuer ziemlich verschont geblieben, war notdürftig im Stand erhalten worden – man hatte einen Waldhüter hineingesetzt. Im ganzen aber war der entlegene wüste Besitz den Eigentümern mehr eine Last gewesen, und sie hatten sich deshalb nicht lange besonnen, dasselbe später einem Altensteiner, dem Großvater des letzten Gerold-Altenstein, gegen ein ihnen bequemer gelegenes Stück Ackerland zu überlassen. »Eine lächerlich romantische Grille!« hatten sie im stillen gemeint, als ihnen der Altensteiner mitteilte, daß seine Frau sich das malerische Fleckchen Erde wünsche. Und er hatte es dem geliebten Weibe als alleiniges Eigentum verbrieft und besiegelt geschenkt – so war das Eulenhaus an Klaudines Großmama gekommen.

Nun kam auch schon das hoch in die Lüfte ragende, freistehende südliche Portal der einstigen Klosterkirche in Sicht. Das mächtige Fensterrund droben in dem schwarz angerauchten Gemäuer füllte eine durchbrochene Steinrosette. Ja, die Großmama hatte einst ihre ganze Sparbüchse geleert, um ihr geliebtes »malerisches Fleckchen Erde« vor weiterem Verfall zu schützen, und das ehemalige Sprachhaus war mit der Zeit ein ganz wohnliches Asyl, der Witwensitz der alten Frau geworden. Da hatte sie gelebt, seit ihr Mann die Augen für immer geschlossen, und die schönsten Blumen gezogen auf dem ehemals wüsten, vermoosten Grunde neben der Kirche, dem Gräberfeld der Nonnen, dem Walpurgiskirchhof, wie ihn das Volk nannte.

Der alte Heinemann, der langjährige Gärtner des Geroldshofes, war ihr Faktotum gewesen. Er hatte unter unsäglichen Mühen das verwahrloste Grundstück wieder ertragsfähig gemacht. Der alte Mann war deshalb auch mit seiner Herrin gegangen, als sie sich in das Eulenhaus zurückzog, und bewohnte heute noch sein Stübchen im Erdgeschoß, als eine Art Kastellan, wie es die alte Dame testamentarisch angeordnet hatte. Und er wachte über jeden Mauerstein, der loszubröckeln drohte, über jeden Unkrautkeim, den der Wind von Wald und Wiesen herüberwehte. »Er zählt die Grasspitzen!« sagte Fräulein Lindenmeyer, die ehemalige Kammerfrau der verstorbenen Herrin. Auch ihr war ein Asyl im Eulenhaus für Lebenszeit zugesichert worden. Sie bewohnte das vornehmste Zimmer im Erdgeschoß, die freundliche Eckstube, wo sie mit ihrem Strickzeug und einem Leihbibliotheksroman Tag für Tag am Fenster sitzen und die drüben vorbeilaufende Landstraße überblicken konnte.

Diese zwei alten Menschen hausten einträchtig nebeneinander. Sie kochten auf einem Herd und zankten sich nie, wenn auch Fräulein Lindenmeyer oft genug heimlich empört ihre Schokoladen- und Weinsuppentöpfchen von dem aufdringlich duftenden Sauerkraut- oder Lauchgericht des Gärtners weit wegrückte.

Klaudine hatte den beiden Alten ihre und ihres Bruders Ankunft mitgeteilt und sah nun mit Genugtuung dort über den Baumwipfeln ein dünnes Rauchsäulchen aufsteigen und langsam zerfließen. Fräulein Lindenmeyer kochte jedenfalls einen guten Nachmittagskaffee. Fernherüber krähte der Haushahn, der mit seinen sechs Hennen in einem Mauerwinkel des zerstörten Kreuzgangs residierte, und hoch über dem Rauchschleier des Schornsteins kreisten Heinemanns weiße Tauben, winzig und glänzend wie Silberflitter am blauen Frühlingshimmel.

Nunmehr machte die Straße eine weite Schwenkung nach rechts, und da trat allmählich das ruinengeschmückte kleine Wiesen- und Garteneiland aus dem Waldschatten hervor. Dort lag das aus Bruchsteinen erbaute enge Haus, das einst der Brandfackel der rebellischen Bauern tapfer widerstanden, das Gemäuer rauh und rauchgeschwärzt und von einem Netz frischer Mörteladern förmlich übersponnen. Ein Adelsitz war das freilich nicht, und die grauen Röcke der in die Kirchenruinen zurückgedrängten Eulenbrut hatten jedenfalls immer besser hineingepaßt als lange Hofdamenschleppen. Immerhin! Es war trotz alledem ein gemütliches Nest für genügsame Menschenkinder, und es lag mitten im schwellenden Grün.

»Just in der allerschönsten Zeit, gnädiges Fräulein!« sagte Heinemann, den Wagenschlag öffnend. »Die Beete noch dick voll Narzissen und Tulpen und die Bauernrosen mit Köpfen zum Aufplatzen, und dazu laufen die Kinder schon mit Maiblumensträußchen im Wald 'rum!«

Er war bei Herankommen des Wagens bis auf die Straße herausgelaufen. Barhäuptig, den vollen, heißen Nachmittagsonnenschein auf seinem starren, graugelben Haarwulst, half er den Ankommenden beim Aussteigen.

»Ja gelt, da riecht's gut, kleines Fräulein!« lachte er, indem er die kleine Elisabeth aus dem Wagen hob und für einen Augenblick auf dem Arm behielt. Das Kind sog mit sichtlichem Wohlbehagen die herüberwehende Luft ein. »Alles eitel Duft, alles ein Blühen, wohin der Mensch guckt, Kindchen! Ja, der liebe Herrgott meint es gut mit dem alten Heinemann!«

Er hatte recht. Ein wahres Gewoge von Narzissendüften und dem berauschenden Odem aus tausendfältigen Kelchen des Flieders erfüllte die Luft.

»Wollen wir nun zu Fräulein Lindenmeyer gehen?« fragte er die Kleine mit lustigem Augenzwinkern. »Dort steht sie mit ihrem allerschönsten Bandwerk auf dem Kopfe! Hat den ganzen Morgen Kuchen eingemengt und kein einziges Ei im Hause heil und ganz gelassen.«

Klaudine ging lächelnd an ihm vorüber an der Tür im Staketenzaun, wo zwischen zwei Eibenbäumchen der altmodische Kopfputz von granatroten Bändern auf Fräulein Lindenmeyers grauem Scheitel sichtbar wurde.

Dieses gute alte Mädchen hatte bei dergleichen Gelegenheiten stets ein feierliches Zitat aus Schiller oder Goethe in Bereitschaft. Heute aber zitterten ihre eingefallenen Lippen im Ringen mit der inneren Bewegung – kam doch der schöne, edle Mann da, ihr Stolz, der ehemalige Herr auf dem schönsten Gute weit und breit, und suchte Zuflucht im Eulenhaus!

Aber er nahm heiter gelassen ihre bebende kleine Rechte, die eben das Batisttüchelchen an die geängstigten nassen Augen drücken wollte, mit warmem Druck zwischen seine Hände.

»Ich möchte wissen, ob Fräulein Lindenmeyer mich immer noch so gut versteht und vertritt wie einst, wenn es galt, dem blöden Jungen bei der Großmama etwas zu erwirken?« sagte er in sanft scherzendem Ton, wobei er sich tief bückte, um in ihr Gesicht zu sehen.

Da strahlten ihre Augen auf. »Ei, nun ja, ich denke doch!« antwortete sie. »Die Glockenstube ist hergerichtet! Ach ja, himmlisch schön ist's da oben! Ein richtiges Poetenwinkelchen! Welche fühlende Seele sollte das nicht verstehen?«

Er lächelte und drückte nochmals ihre Hand, während sein aufleuchtender Blick über den Garten hinflog. Dem südlichen Tor der Kirchenruine entgegengesetzt, wenn auch ziemlich weit abgerückt, erhob sich der Glockenturm der Klosterkirche. Die verstorbene Besitzerin hatte Turm und Wohnhaus durch einen kleinen Zwischenbau verbunden, der im Erdgeschoß zu einem Winteraufenthalt der Pflanzen eingerichtet war, im oberen Stock aber eine auf beiden Seiten von einem Geländer eingefaßte Plattform bildete, zu welcher sowohl von den Zimmern des Wohnhauses wie der gegenüberliegenden unteren Turmstube Glastüren führten. Über alles hinweg aber blinkten hoch oben die Fenster der Glockenstube, die ihren Namen behalten hatte.

Und nun hinein in den letzten Zufluchtsort der Verarmten!

Während Heinemann Koffer und Korb vom Wagen hob, schritten die anderen dem Hause zu. Einen Augenblick blieb Klaudine allein vor der Haustür stehen, sie bog sich zur Seite, anscheinend um den Duft einer ihre Schulter streifenden Fliederblüte einzuatmen, aber ihre Gedanken irrten weit ab. Über diese Schwelle war sie vor drei Jahren hinausgegangen in eine Welt voll Glanz und rauschender Freuden. Sie war auf Großmamas Wunsch und Fürbitte hin Hofdame bei der Herzoginwitwe geworden. Leicht war es ihr nicht geworden, diese Stellung, die vielbeneidete, wieder aufzugeben, nein, wahrlich nicht! Ihr abwesender Blick umschleierte sich und die Lippen zuckten. Sie war der ausgesprochene Liebling ihrer hohen Herrin gewesen und die edle Frau hatte sie insgeheim vor ihren Neidern und stillen Feinden zu schützen gewußt, so hatte sie fast nur die strahlende Seite des Hoflebens kennen gelernt. Nun lag das hinter ihr auf Nimmerwiederkehr, und ein tiefes Sehnsuchtsweh nach der milden, sanften Greisin, der sie gedient hatte, brannte ihr jetzt schon im Herzen. Und leicht war es wohl auch nicht, das neue Leben! Dem Kinde ihres Bruders eine treue Mutter zu sein, für ihn die Lebenssorgen auf die Schultern zu nehmen und mit jedem Pfennig ängstlich zu rechnen, auf daß nicht doch die Not durch das Eulenhaus schleiche, das wollte sie wagen, sie, die Unwissende, die Unerfahrene in alledem, was des Lebens Nahrung und Notdurft erheischte?

Sie legte die Hand auf das ängstlich klopfende Herz und schritt langsam über die Schwelle und die enge, aber blütenweiß gescheuerte Holztreppe hinauf. Als sie abei in das zunächstliegende ehemalige Wohnzimmer der Großmama trat, da atmete sie tief und erleichtert auf. Die kleine Elisabeth kam ihr mit einem Stück Kuchen in der Hand freudestrahlend entgegen und auf dem Sofatisch dampfte Großmamas messingene Kaffeemaschine. Die Tür nach der Plattform des Zwischenbaues stand weit offen und ließ die Blumendüfte des Gartens hineinströmen, und jenseits dieser nur wenige Schritte langen Plattform sah man durch die schmale Glastür in das untere Turmzimmer, ihr ehemaliges Logierstübchen während der Institutsferien, die sie stets bei der Großmama verlebt hatte. Mehr aber noch als dieses traute Wiedersehen beruhigte und ermutigte sie ein Blick auf ihren Bruder. Er hatte sich aufgerichtet, als habe er eine Zentnerlast von sich geworfen, und als sie später mit ihm hinaufging in die Glockenstube und er sein Manuskript auf die Wachstuchdecke eines einfachen Tisches am Fenster legte, da sagte er: »Es ist ein abgebrauchtes Bild, aber sein zutreffender Sinn bewegt mich tief in diesem Augenblick – mir ist zumute wie einem, der nach stürmischer Meerfahrt den Heimatboden betritt und niedersinken möchte, um ihn dankbar zu küssen!«


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