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Amor fati
Der modernste unter allen Porträtisten ist jetzt grade achtzehnhundert Jahre tot, er hieß Plutarch und war, paradox genug, ein Böotier. Aber in Wahrheit war er Athener an Kultur, Franzose an psychologischer Verve, Engländer an Puritanismus, an Gründlichkeit ein Deutscher. Zur Zeit Trajans hat er die Grundsätze ausgesprochen und selbst erfüllt, denen wir heut wieder zu genügen trachten:
»Nicht Geschichte schreibe ich nieder, sondern Lebensschicksale; nicht in berühmten Taten liegt allein der Beweis von Tugend oder Schlechtigkeit; oft zeigt vielmehr ein kleiner Umstand, ein Wort, ein Scherz den Charakter besser als große Schlachten und Belagerungen. Wie der Maler vor allem nach Gesicht und Zügen die Ähnlichkeit bestimmt, worin sich der Charakter kundgibt, so gestatte man auch mir, mich an die Anzeichen des Geistes zu halten und durch sie dem Porträt seine Form zu geben, Großtaten aber und Kämpfe anderen zu überlassen.«
Zu allen Zeiten haben große Männer den Plutarch geliebt, hier fand der Kenner des Menschen seine eigenen Motive, Fähigkeiten, Dunkelheiten wieder. Napoleon führte ihn durch 20 Jahre mit sich, er las am Abend mancher Schlacht in seinem Zelte das Leben Cäsars, und zugleich schrieb sein Todfeind, der Freiherr vom Stein, wie häufig »große Männer in der Jugend durch Lesen der Geschichte sich zu edlen Taten angefeuert, in reiferen Jahren deren Lehren benutzt, im Alter durch Rückblick auf ihr eigenes Schauspiel sich über das Erlittene beruhigt und gestärkt haben.«
Nach einer Zeit, die den Menschen aus Abstammung und Erziehung zu bestimmen suchte, ist uns, der darwinistischen Welt Entfremdeten, die Persönlichkeit als solche, zeitlos beinahe, wieder Studium geworden: Maße, Spannung und Lähmung ihrer Lebenskräfte, Trieb zur Tat und Hemmung durch Gedanken, das wechselnde Fluidum ihrer Stimmungen. Während unsere Väter fragten, wie der einzelne mit der Welt harmonierte, fragen wir zuerst: harmoniert er in sich selber? Siege und Verantwortungen sind aus dem Milieu in die Seele des einzelnen zurückverlegt worden, so daß die Darstellung ins Innere zu dringen sucht, die früher der Sphäre gewidmet war. Auch das erneute Interesse an Memoiren ist ein biologisches, der Porträtist von heute, vor allem Psychologe, steht vielleicht dem Biologen näher als dem Geschichtsschreiber.
Um so freier ist er in seinen Formen. Er kann die dramatische Form benötigen oder den kurzen Essay, die mehrbändige Lebensbeschreibung oder den Leitartikel; alle diese Formen sollten ihm vertraut sein und je nach Objekt und Zweck der Darstellung von ihm ausgewählt werden; wie sein Bruder, der stumme Porträtist, Öl, Stift oder Kohle, Radiernadel oder Wasserfarben wechselweise benutzt.
In allen Fällen ist seine Aufgabe die gleiche, es ist die Entdeckung einer Menschenseele. Freilich baut der Porträtist auf dem rein wissenschaftlichen Biographen auf und bleibt immer sein Schuldner. Mit einer gewissen zynischen Naivität reißt er ihm mühsam erforschte Wahrheiten weg, um sie auf seine Art zu benutzen; ein Künstler, der die Beete einer Gärtnerei durchstöbert und, ist er fort, einen beraubten Garten dem grollenden Gärtner zurückläßt, doch in den Händen glüht ihm der schönste Strauß.
Denn wenn der Philolog mit seinem Studium beginnt, aus dem sich ihm allmählich das Bild des Menschen enthüllt, so hat der Porträtist mit der Vision seiner Gestalt begonnen und sucht aus den Akten im Grunde nur Bestätigungen seines inneren Vorgefühls. Wehe ihm aber, wenn er dabei zu phantasieren anfängt, wenn er Daten auch nur um Nuancen verschiebt, sich also dem Romancier annähert!
Denn der historische Roman ist immer ein unhistorischer Roman und darum das Schreckbild des echten Porträtisten. Wer schweift und erfindet, während er seine Gestalten mit historischen Namen schmückt, versündigt sich nicht bloß an der Gestalt, er verliert obendrein auch die Partie; denn Gott ist immer weise und überdies phantastischer als der Dichter und hat dem Lebenslaufe seiner Wesen stets eine tiefere Logik mitgegeben, als sie der feinste Konstrukteur erdichten kann. Wer nicht mit Anbetung vor der Notwendigkeit aller Lebensdaten des Menschen steht, sollte nie wagen, einen historischen Menschen nachzubilden; er mag nur immer in seinen Träumen schweifen!
Darum tut der Porträtist vor allem gut, nur den Menschen darzustellen, der tot und also, wie die Sprache sagt, vollendet ist, denn Zeitpunkt, Art und Umstände des Todes geben oft erst den Schlüssel zu allem Vorangegangenen; das Porträt eines Lebenden bleibt immer nur unter Vorbehalten richtig, wie ja auch unter den gemalten Bildnissen eines Menschen das letzte – die Maske des Toten – immer das wahrste bleiben wird, wenn auch keineswegs immer das schönste.
Überhaupt geht vom Bildnis des Menschen meist die Vision seines Wesens aus, und die großen Porträtisten mit Pinsel oder Feder sind sämtlich große Physiognomen gewesen. Bildnisse, diese stummen Verräter, sind darum für den Biographen Materialien von demselben Werte wie Briefe, Memoiren, Reden, Gespräche, soweit sie der wissenschaftliche Vorgänger für echt erkannt hat, oder wie die Handschrift. Darum ist eine Biographie ohne voranstehendes Bildnis unmöglich.
So geht es auch mit den Gewohnheiten des Menschen: sie wurden früher wie Kuriosa eingefügt, kleine Bonbons für den Gaumen des Lesers; vollends die Anekdote wurde nur mit Fragezeichen, verschämt und gleichsam bei verdunkelter Forscherwürde überliefert. Uns anderen weist die kleinste Gewohnheit zuweilen die Richtung, um auf bestimmte Züge des Charakters zu stoßen, und die verbürgte Anekdote wird zum Epigramm.
Noch heute schließen wissenschaftliche Biographien zuweilen mit einem Kapitel, das den Helden »als Menschen« schildern soll; ein Anhang, wie die Tafel einer Schlacht oder das Faksimile eines Notenblattes. Was aber soll denn der Porträtist darstellen als eben sein Objekt als Menschen? Und welche andere Aufgabe ist ihm gestellt, als alle Taten und Gedanken, Wünsche und Motive dieses Menschen zurückzuführen auf nicht mehr teilbare Elemente der Seele?
Dies zu erfüllen, muß er freilich mehr als ein Kenner der Epoche, Kenner des Menschen muß er sein, Psycholog und Analytiker. Die Deutung einer Seele aus den Symptomen des Handelnden muß ihm geläufig sein, aus Intuition wie aus Erfahrung. Sicher sind in großen Diplomaten große Biographen versteckt; sicher könnten diese im Kreise der Diplomatie fruchtbar werden.
Doch auch Kenner des Genius muß der Darsteller sein, und eben hierin liegt die größte Schwierigkeit begründet. Dichterische Kraft ist Bedingung zur Erkenntnis und Darstellung eines Dichters, weltliches Leben zur Darstellung eines Weltmannes, politische Einsicht zur Darstellung des politischen, Kenntnis der Frauen zur Darstellung des erotischen Menschen; ein verwandtes Fühlen, mit einem Worte, ist Bedingung zur Darstellung genialischer Naturen. »Ich finde Gefallen in dem Gedanken – schrieb Vauvenargues – daß, wer so große Taten versteht, nicht außerstande gewesen wäre, sie auszuführen, und mir erscheint das Schicksal ungerecht, das ihn darauf beschränkt hat, sie niederzuschreiben.«
Wer seine Aufgabe in so großem Sinne faßt und entschlossen ist, in der Erzählung eines Lebenslaufes zugleich ein Exempel für das Wesen des Genies zu geben, wem sein Held nur immer eine Art von Beispiel bedeutet, um die Grenzen der Menschheit zu bezeichnen, der ist im vorhinein jeder Gefahr der Parteinahme überhoben; er kann weder national noch sonst verblendet sein, parteilos steht er vor seinen Helden und ist, wie Shakespeare und Balzac, die Menschenschöpfer, durch keine sogenannte Weltanschauung begrenzt.
Hier liegt ein neues Problem: muß der Biograph kalt sein wie der Richter oder leidenschaftlich Stellung nehmen wie der Advokat? Uns scheint die rein platonische Darstellung salzlos und langweilig; doch auch die Forderung ist einseitig, man müsse seinen Helden von Grund aus lieben.
Auch hierin ist Plutarch Vorbild und Meister. Indem er immer einen Griechen in Parallele mit einem Römer stellt, kann er die Kunst des Wägens und jede Freiheit von Vorurteilen erweisen. Immer erkennt er den Genius und bleibt vor ihm unbestechlich. Mit der Intuition des Dichters durchdringt er die Motive seines Helden, erspürt die Leidenschaft und wiederum die Freiheit als Motiv. Durch beinah unsichtbare Anzeichen, wenn sie nur schlagend sind, läßt er sich leiten, durch die sichtbarsten Daten läßt er sich nicht blenden. Den Charakter entwickelt er ohne Rücksicht auf das Genie, doch unversehens entfaltet sich dieses mühelos aus dem Charakter.
In dieser Kunst sind die Franzosen groß; unter den Deutschen ist sie vielleicht nur Goethe in seiner Psychographie Winckelmanns gelungen, die sich der Skizze eines Dramatikers nähert.
Dies sind die Vorbilder der folgenden Versuche. Man wird darin tätige und betrachtende, handelnde und bildende Menschen finden, alle genialisch, alle problematisch. Auf den Schnittpunkt dieser Eigenschaften kommt es an. Auch dort, wo sie im Politischen wirken und noch aus unseren Tagen stammen, wird der Versuch gemacht, sie von oben zu sehen, wie denn diese zwanzig Bildnisse, die sechs Jahrhunderten und neun Nationen angehören, nur durch ihre Seelenzustände, doch eben durch diese stark verbunden sind.
Aus Skizzen solcher Art können sich Vorbilder des Menschlichen entwickeln. Und eben dies ist hier der Sinn und Zweck. Dem Leser jeder Sphäre, besonders aber der Jugend darzustellen, wie große Männer keine Götter sind, wie sie von denselben allzumenschlichen Passionen, Hemmungen und Lastern geschüttelt wurden, die jeden andern Sterblichen beunruhigen, und wie sie dennoch sich zu ihren Zielen durchkämpfen: das ist unsere erzieherische Absicht. Auf diese Art spornt man den Menschen an, sich selbst, trotz allem, das Höchste abzufordern.
Eine andere Schule der Darstellung, mit der man auf Universitäten das Genie in seinem Werke aufzulösen strebt, während wir das Werk in der Persönlichkeit aufgehen lassen, bringt dem Leser den Vorteil eines Systems, das uns durchaus fehlt; sie hat dafür den Nachteil, nie als lebendiges Vorbild zu wirken. Was sich daneben in psychiatrischem Hochmute tummelt, wird nie einen vollen Menschen, stets nur seine verdunkelte Provinz beschreiben.
Wozu aber überhaupt Geschöpfe nachbilden, wenn nicht ein Vorbild, vielleicht auch eine Warnung daraus entsteht! Dies war zu allen Zeiten Sinn des Dramas; es sollte dem Porträtisten auch dann das hohe Ziel bedeuten, wenn er sich biographischer Formen bedient.
Doch dazu ist berufen nur, wer die Rhapsodie seines eigenen Lebens immer wie eine fremde vernimmt, wer in seinem Schicksal, auch wenn es unbewegt erscheint, ein Gleichnis noch des bewegtesten erfühlt: nur wer sich immer in der Menschheit spiegelt, ist geschaffen, Menschen nachzuschaffen. Er allein, der sein Leben als ein Gleichnis erlebt, ist reif, das Gleichnis anderer Menschen zu erfassen.
Denn wie er selbst Notwendigkeit in seinen Tagen spürt, so wird er mit Ehrfurcht in fremden Geschicken nichts anderes als Notwendigkeit erkennen und mit behutsamer Hand das, was geschah, aus dem verschlungenen Gewebe der Charaktere deuten, in denen Gottes Finger winkt.