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Freiherr von Stein

Stein

»Ich habe nur Ein Vaterland, und das heißt Deutschland.«

Auf dem Gerüst eines wuchtigen Körpers sitzt ein quadratischer Schädel mit rein gewölbter Stirn und schmalen, verschwiegenen Lippen; doch herrschend streben aus dem Kopf hervor zwei klare, blaue Blicke und eine riesige Nase: Zeugen des Glaubens und der Energie. Das sind die Grundzüge in der Seele dieses gewaltig einfachen Mannes.

Kein deutscher Staatsmann ist von der Verschmelzung dieser beiden Eigenschaften in so reiner Stärke bestimmt worden. Während aber in dieser kristallenen Tatennatur nichts problematisch bleibt, während sich Reinheit der Intuition und Wucht des Willens nie stören, wird seinen Resultaten dieser lebenslange Wettkampf von Glauben und Handeln Verhängnis: er nimmt ihm die Möglichkeit der letzten Lösungen. Weil keine Enttäuschung unter den Menschen, die er im einzelnen aufs strengste beurteilte, ihn zur Menschenverachtung, zu jenem Zynismus verleiten konnte, ohne den Bismarck nichts erreicht hätte, erreichte er im entscheidenden Punkte nichts Positives: zu gläubig war er für so gesunden Weltsinn, zu tatkräftig für so tiefen Menschenglauben. Dafür war sein Ideal eines deutschen Reiches auch reiner als das jenes Nachfolgers, der nur einen Teil verwirklicht hat.

So brannte das Herz des Freiherrn vom Stein ein Leben lang als einsame Fackel durch den Dunst deutscher Fürsten- und Diplomaten-Politik, brannte und losch einsam, jedoch entschwindend das zukünftige Licht mit seinem Licht verbindend.

 

Dieser ständige Kampf gegen die Trägheit der Herzen entwickelte ihn, wie jeden tätigen Idealisten, zum Choleriker. Da er aber die Gefahr der Leidenschaft für die Auswirkung seiner Ideen erkannte, zwang er sich Quietive auf, ersann sich Rezepte der Stetigkeit. Unermüdlich von Natur, dazu durch echten inneren Standesstolz getrieben, ein Muster des Adels zu werden, gedrängt vom rapiden Tempo der Zeit, gestärkt vom Hasse gegen den feindlichen Eroberer, beschwingt von den Möglichkeiten formloser Augenblicke des Staates, die sich von einem Jahrfünft zum andern steigerten: so kämpfte er immer heißer für seine Idee, für dies Vaterland, an dessen Einigung er mit Inbrunst glaubte.

Er kämpfte gegen das Vaterland. Was erreicht wurde, die Befreiung, war nur zum Teil sein Werk und schließlich eine Frage der Bündnisse und Waffen, die zu schließen oder zu schaffen nicht seine direkte Aufgabe war. Was mißglückte, die Einigung, war seine eigene Grundidee, die große Leidenschaft, der Motor seiner Tatkraft. Zwar war der Erste Napoleon in viel tiefer erlebtem Sinne sein Feind, als es der Dritte jemals Bismarck werden konnte; beiden aber war der Kampf mit dem Franzosen nur das Mittel, durch Krieg und Sieg nach außen den inneren Zusammenschluß zu ertrotzen.

Weil aber Stein, wahrhaft ein Volksmann, die deutschen Stämme zusammenfassen wollte, weil er die Dynastien verachtete und von 36 Fürsten höchstens 6 duldete, zerrieb er sich in seiner höfefremden Gradheit zwischen den Intrigen und Launen der übrigen 30 und sah am Ende seiner Bahn vor sich eine Zerrissenheit, schlimmer als bei Beginn. Bismarck, volksfremd und dynastisch, erreichte das in Deutschland Mögliche so ganz, daß es noch über den Sturz der Fürstenhäuser standhielt, erstaunlicher, als er es in Form der Gegenprobe auch nur gewünscht hätte.

Es scheint, als siege vor konstruktiven Aufgaben bei gleicher Tatkraft ein amoralischer Wille eher als ein offenes Herz.

 

Denn Stein war gläubig. Immer der Vorsehung hingegeben, immer sich selbst als Werkzeug fühlend in höheren Händen, Gott verantwortlich, doch immer zugleich den Menschen: durchaus ein Protestant. Volle Ergebenheit in den Willen des Himmels machte ihn keinen Augenblick zum passiven Fatalisten, und nie hat er diesen unlösbaren Zwiespalt zwischen Ergebung und Aktivität kräftiger gefaßt als in den Tagen, da sich das Fatum seines Todfeindes wandte. Er saß in Petersburg und lud die Freunde zum Weine, um Napoleons Flucht und Moskau zu feiern: da, in einer Art seelischer Trunkenheit, die dieses klare Leben selten duldete, erhob er sein Glas und rief den Gästen die herrlichen Worte zu: »Schon oft im Leben habe ich mein Gepäck hinter mich geworfen. Stoßt an! Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein!«

Er war's. 70 Jahre lang war er's, und mehr als mancher Feldherr. Zivilcourage war die Form, in der sich Steins Tatkraft moralisch darstellte. Er fürchtete niemand, und weil er zugleich niemand zu gehorchen brauchte, war er der Freiesten einer. Der einzige, dem er sich freiwillig unterworfen, dieser König von Preußen, war sein Herr nur als Friedrichs Erbe geworden.

Denn Stein berührt noch den Stärksten und schon den Schwächsten in unserer Königsreihe. Er ist es, der zuerst von »Friedrich dem Einzigen« spricht, um seinetwillen tritt er in preußische Dienste, und von dem Vogelauge des Uralten wird er in seinem Talent noch erkannt und erfolgreich benutzt. Und er ist es wiederum, der nachher die Charakterlosigkeit des Großneffen ertragen mußte: ihn lernte er rasch verachten.

Mit der naiven Frische, die ein edles Herz und ein starkes Hirn ihm unermüdlich speisten, mit der Unerschrockenheit seines ritterlichen Wesens hat er auch über andere, später zu Größen erhobene Figuren Wahrheiten nicht bloß vertraulich gesagt, auch vor der Welt in seinen Schriften ausgebreitet: gefallsüchtig und schwach nennt er die Königin Luise, falsch und oberflächlich Hardenberg, unerträglich deutschtümelnd den Turnvater Jahn, den zu empfangen er stets abgelehnt hat; nur über den König hat er öffentlich geschwiegen.

Und doch: anstatt, wie Bismarck, einen Preußenkönig zu finden, der sich leiten und der ihn niemals fallen ließ, fand Stein einen Hohenzollern, beschränkt und trotzig, feig und herrisch, der nach zwei knappen Jahren ihn aus dem Amte jagte, und als er ein Jahr darauf den Unersetzlichen zurückholen ließ, nicht einmal den Anstand hatte, ihm ein versöhnendes Wort vorweg zu schreiben oder zu sagen.

Seit sieben Jahrhunderten saßen die Reichsfreiherren vom Stein auf ihrer Burg in Nassau an der Lahn, doch erst in diesem Letzten des Geschlechtes wurde der Name zum Symbol. Denn wirklich war er wie ein Felsblock mächtig, frei und Herr. Nimmt man dazu, daß dies Geschlecht reichsunmittelbar gewesen, bis gerade diesem Sprossen das Schicksal der Mediatisierung drohte, so fühlt man stärker das Gleichnis seiner Abkunft. Denn dieser Freiherr stand buchstäblich unmittelbar beim Reiche, ihn kümmerte kein Fürst, er war es selbst, sein eigenes Erbe sollte nach seinen Plänen samt all den andern im Reiche aufgehen – und nur der Kaiser bedeutete seinem durch Geschlecht und Kenntnis der Geschichte gleich stark bestimmten konservatorischen Wesen die übergeordnete Macht.

Doch eben weil er von seinem begünstigten Stande so viel fordert, wird er zum stärksten Kritiker dieses Standes, seiner Genossen. Wer hat aus diesen Kreisen vor oder nachher zu deutschen Fürsten zu sprechen sich erkühnt wie er! Als ihm 1804 der Herzog von Nassau zwei Dörfer stiehlt, weil ja die reichsunmittelbare Ritterschaft nun durch Napoleon aufgehoben sei, erwidert Stein, wenn diese Strecken einer der beiden deutschen Großmächte zufielen, das nützte dem Reich und das hoffte er noch zu erleben. Wo aber wären die kleinen Fürsten, die heut alles rauben, in den letzten Kriegen geblieben? »Sie entzogen sich aller Teilnahme und suchten die Erhaltung ihrer hinfälligen Fortdauer durch Auswanderungen, Unterhandeln und Bestechung der französischen Heerführer.« Und plötzlich bricht er einen noch böseren Gedanken ab, mitten in einem Satze, und endet: »– doch es gibt ein richtendes Gewissen und eine rächende Gottheit. Ehrfurchtsvoll verbleibe ich Euer – – Stein.« So wörtlich, mit den Gedankenstrichen.

Aus seinen Denkschriften, geschrieben und übergeben an Könige und Fürsten, strahlen Sätze, wie sie kein um 1750 geborener Europäer wagte, er wäre denn Revolutionär: »15 Millionen Deutsche sind der Willkür von 36 kleinen Despoten preisgegeben, ... der Laune kleiner Sultane und Vesire ... Die Selbstherrscher sollten nicht vergessen, daß auch die Völker von Gottes Gnaden frei sind!«

Als in Petersburg nach Napoleons Rückzug die alte Kaiserin-Witwe, geborene Württemberg, nach der Tafel die Worte affektiert: »Entkommt aber jetzt noch ein französischer Soldat durch die deutschen Grenzen, so würde ich mich schämen, eine Deutsche zu sein«, da erhebt sich der Freiherr, roten Kopfes bis in den Nacken, verneigt sich, sagt: »Majestät haben sehr unrecht, solches hier auszusprechen über ein so großes treues, tapferes Volk, dem anzugehören Sie das Glück haben! Sie hätten sagen sollen, nicht des Volkes, sondern meiner Brüder und Vettern schäme ich mich, der deutschen Fürsten! Denn hätten Die in den neunziger Jahren ihre Pflicht getan, so wäre kein Franzose über Elbe und Oder, geschweige denn über den Dnjestr gekommen!«

 

Diese Verachtung der Fürsten, entspringend aus der Reinheit seines Pflichtgefühls als Fürst, der stets nach Ehre, nie nach Ehren strebte, war Steins erstes und tiefstes Erlebnis, sie hat seine Vision der neuen Reichsgestaltung, hat sein ganzes soziales Weltbild begründet. Weil er sie mit den Franzosen schachern und für den Verrat am gemeinsamen Vaterlande Provinzen und Titel annehmen sah, erschien ihm die Begründung einer Einheit durch so kompromittierte Faktoren nicht mehr denkbar, die Schleifung von fünf Sechsteln nötig. Nicht nach Ständen, nach Stämmen wollte er Reich und Verfassung aufbauen.

Denn auch der nächste Stand, dem er mitangehörte: der Adel hatte, was etwa noch fehlte, getan, um Stein die Vorurteile seiner Genossen vorzuführen und ihn zum ersten Demokraten der deutschen Wappenträger zu machen:

»Nicht durch Hunde, Pferde, Tabakspfeifen, starres Vornehmtun wird der Adel den angesprochenen ersten Platz im Staate halten, sondern durch Bildung, Teilnahme an allem Großen und Edlen ... Nicht durch Steuerfreiheit und Ausschließung von der Gesellschaft derjenigen, die keinen Stammbaum vorzuweisen haben ... Die schönen Zeiten unseres Volkes wissen nichts vom Stammbaum: Erzbischof Willigis von Mainz war der Sohn einer armen Frau, Herzog Billung von Sachsen der Sohn eines Besitzers von sieben Hufen.« Und in einer geheimen Sitzung vor Beginn des vernichtenden Krieges hat Stein den Generalen ernsthaft vorgeschlagen, der König solle den Adel aufheben und nach dem Kriege nur die anerkennen, die sich hervorgetan hätten!

Freilich war Stein Gegner der Revolution, doch eben wie Goethe aus Demokratie und mit fast wörtlich der gleichen Begründung: »Das sicherste Mittel gegen das Fortschreiten des revolutionären Geistes ist Befriedigung gerechter Forderungen der Völker.« Aus diesem Volksgefühl, das sich aus Menschenliebe und aktiver Pflicht ernährte, ist der gesamte Aufbau seiner Reformen bedingt.

Ein mächtiger Unterbau schwer erworbener Erfahrungen hat ihn getragen. Mit 24 Oberbergrat, von 27 bis 40 an der Spitze des Hüttenwesens an der Ruhr, dann bis 47 Oberpräsident in Westfalen: da hört ein großes Herz das Herz des Volkes schlagen, da lernt ein ernster Geist Menschlichkeit und Mittel zur Besserung. Das Nest, in dem er viele Jahre dieser Zeit verbringt, heißt denn auch Wetter.

 

Dies ist Steins glücklichste Zeit gewesen, die einzige glückliche, hier hat er sein aufbrausendes Wesen durch präzise Arbeit beruhigt, hier rühmt er »Ruhe, Einsamkeit, bestimmte Beschäftigung«. Selten überkommen ihn nach dem 40ten Jahre noch Anfälle wie der, als er dem Kanzleidiener, der Tinte statt Sand auf die Unterschrift streute, den nassen Bogen ins Gesicht wischte. Wie andern Tags der Diener wieder eintritt, steht Stein rasch auf, drückt ihm ein Papier in die Hand, darin zwei Goldstücke. Zeit zu verlieren kann er freilich nicht vertragen, »schneidend bestimmt in seinen Meinungen, heftig, für weiche, nachgiebige Gemüter abschreckend« nennt ihn ein Mitarbeiter.

Aber in Sorgen für Menschen und Werke, in der Arbeit an Verbesserungen gewinnt er Stetigkeit, und, nach einer kurzen Mission für den alten Fritzen, lehnt er den Nachfolgern jeden Dienst an Höfen und Diplomaten ab, – die nennt er »eine frivole, wichtigtuende, gehaltlose, müßige Menschengattung« – und bleibt befriedigter im engen, weiten Kreise seiner Gruben, Fabriken, Kanäle, Chausseen; zuweilen schießt er dem Staate bis zu zehntausend Talern aus eigener Tasche vor.

Nur einen Fehler zeitigt diese Epoche gewaltsamer Mäßigung.

Nachdem er sie mehrere Jahre recht kritisch beobachtet, entschließt er sich, eine Komtesse zur Frau zu nehmen »wegen Reinlichkeit des Charakters und Richtigkeit des Verstandes ... Um das Harte, Heftige und Übereilte, das in meinem Charakter liegt, durch den Anblick dieses wohlwollenden und sanften Geschöpfes und die Äußerungen ihres richtigen Verstandes zu mildern.« Aber die 21jährige, die fast seine Tochter sein könnte, sucht Sammlung weniger als Geselligkeit, bald nach der Hochzeit geht sie zu ihrer Schwester, vereinsamt schreibt ihr Mann, der eigentlich mit Frauen nie recht gelebt hat, einer älteren Freundin, wie sehr er eine mitfühlende Seele vermißt. Auch bleibt sie ihm den Sohn schuldig, den er zum Erben des Geschlechtes wünschen muß.

Erst spät haben sich die Gatten, im Anblick dreier Töchter, freundwillig aufeinander eingerichtet.

 

In solche Bitterkeiten mischen sich die großen Kämpfe. Im 48. Lebensjahr – wie Bismarck – wird er Minister, wie dieser von einem skeptischen Könige fast wider Willen berufen. Doch Stein sind kaum drei Jahre gegönnt, die Masse der Ideen zu verwirklichen, von denen nach zwanzig praktischen Jahren dieser Kopf wirbelt. Dem wachsenden Drucke von außen – wir schreiben 1804 bis 6 – sucht er eine neue innere Konsistenz des Landes entgegen zu bauen, indem er Korruption und Verschwendung, Bureaukratie und Bevormundung bekämpft, und mit Erfolg. Wirklich, er ist auf dem Wege, die Stände auszugleichen.

Nur der Eine Stand, dessen Symbol er sich zum Herrn erkoren, nur der absolute König von Preußen, der in Wahrheit ein sehr relativer war, bleibt unüberwindlich; an dieser unzerstörbaren Mauer scheitert Steins große Attacke. Das erste Mal, daß dieser so humane wie mutige Ritter sich großen Stiles an der Wirklichkeit versucht, in deren kleineren Kreisen er Alleinherrscher und darum Sieger gewesen, wird ihm die Lanze zersplittert. »Ich kann« – so schreibt er in protestantischer Loyalität über den König – »dem, dem die Natur diese Kraft versagte, so wenig Vorwürfe machen, als Sie mich anklagen können, nicht Newton zu sein, – ich erkenne hierin den Willen der Vorsehung, und es bleibt nichts übrig als Glaube und Ergebung.«

Doch fast zugleich mit diesem entsagenden Satze versucht er's auf seine getroste Art noch einmal: er stellt dem König in einem grotesken Schreiben, das er der Königin zur Weitergabe sendet, ungeniert wie ein Hofnarr dar, wer seine wirklichen Vertrauten sind, diese »Kabinettsräte«, die alle Kraft der Minister brechen und faktisch regieren.

Nach grundsätzlicher Darlegung, warum man heut nicht mehr auf solche Art regieren könne, entwirft er dem Könige von seinen drei Räten und Freunden dies Bild: »Die gemeine Aufgeblasenheit seiner Frau ist ihm nachteilig, seine Verbindung mit der Familie (des zweiten Rates) untergräbt seine Sittenreinheit ... (Dieser) ist physisch und moralisch gelähmt und abgestumpft, seine Kenntnisse schränken sich auf französische Schöngeistereien ein, die ernsthaften Wissenschaften haben diesen frivolen Menschen nie beschäftigt.« Dann der Dritte: »In den unreinen und schwachen Händen eines französischen Dichterlings von niederer Abkunft, eines Roués, der mit der moralischen Verderbtheit eine gänzliche physische Hinfälligkeit verbindet, der Seichtheit in den Gedanken mit leeren Menschen am Spieltisch vergeudet, ist die Leitung der diplomatischen Verhältnisse dieses Staates in einer Periode, die in der neueren Geschichte nicht ihresgleichen hat.«

Den Außenminister nennt er schließlich »gebrandmarkt mit dem Namen eines listigen Verräters ... eines abgestumpften Wollüstlings«. Daraus folge »das Mißvergnügen der Bewohner dieses Staates über die gegenwärtige Regierung und die Notwendigkeit einer Veränderung ... Sollte Seine Kgl. Majestät sich nicht entschließen, die vorgeschlagenen Veränderungen vorzunehmen, so ist zu erwarten, daß der preußische Staat sich entweder auflöst oder seine Unabhängigkeit verliert und daß die Achtung und Liebe der Untertanen ganz verschwinde.«

Geschrieben: sechs Monate vor der Schlacht bei Jena, vom Minister des Innern an den König durch Vermittlung der Königin. Diese hat die letzte Warnung den Augen ihres Gatten sorgfältig entzogen.

Zusammenbruch, Flucht, Memel.

Als nun der ratlose König das Außenministerium dem Freiherrn anbietet, macht dieser, gichtkrank, wie er ist, die Annahme von der Entlassung nur eines jener Kabinettsräte abhängig. Da gerät der König außer sich:

»Jetzt sehe ich ..., daß Sie als ein widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen sind, der, auf sein Genie und seine Talente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Kapricen geleitet, aus Leidenschaft, aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt ..., daß, wenn Sie nicht Ihr respektwidriges und unanständiges Benehmen zu ändern willens sind, der Staat keine Rechnung auf Ihren ferneren Dienst machen kann. Königsberg, 8. Januar 1807.«

 

Acht Monate später, als ihn der König in voller Verzweiflung wieder beruft, liegt Stein fieberkrank in seinem Schlosse, aber er schreibt wie ein Preuße: »E. M. Allerhöchste Befehle wegen des Wiedereintritts in Dero Ministerium ... befolge ich unbedingt und überlasse E. M. die Bestimmung jedes Verhältnisses.« Halb geheilt reist er dann von Nassau über Kopenhagen nach Tilsit. (So sieht damals die Karte von Deutschland aus.)

Doch nun ist es, als fühlte er die Kürze der Zeit voraus, die ihm noch einmal zu regieren bestimmt ist; es wird kaum ein Jahr sein. Mit beiden Händen greift er in diesen halb aufgelösten Staat, um ihn nach seinen Plänen zu kneten. Auf einem einzigen Bogen Papier durchstreicht er die Leibeigenschaft der preußischen Bauern, auf einem zweiten gibt er allen Städten Selbstverwaltung, auf einem dritten dehnt er die Wehrpflicht von den unteren Ständen auf alle, auch den Adel, aus, auf einem vierten wird der Stockprügel abgeschafft und jedem gemeinen Soldaten die Offiziersbahn eröffnet, ein fünfter streicht die Kabinettsregierung aus, ein sechster macht Ost- und Westpreußens Domänenbauern zu freien Eigentümern, ein siebenter streicht alle höheren Gehälter im Staate einschließlich des des Königs auf die Hälfte zusammen: alles durchdacht in 25 einsamen Jahren, durchgeführt im Exil in ein paar Monaten, ermöglicht durch das Unglück der Nation.

Schon plant er Verwirklichung seines Herzensgedankens: Errichtung eines preußischen Reichstages mit Wahlrecht für jedermann, – da findet er eines Morgens in Berlin den neuesten Moniteur aus Paris und darin einen verteufelt offenherzigen Brief von sich selber mit drohenden Glossen abgedruckt, den auf dem Wege zu einem vertrauten Adressaten die Franzosen gefaßt, beschlagnahmt und nun als Beweis der Insurrektion vor aller Welt ausgebreitet haben. Bald folgt ihm ein Steckbrief gegen den »nommé Stein«, unterschrieben: Napoleon, Madrid.

Stein muß zugleich mit seinem Amt nach dreißigjährigem Dienst das Vaterland verlassen, nach 700jährigem Herrenrecht seines Hauses, lebt zunächst vom Verkauf seines Silbers, bleibt agitierend, ratend, schreibend in Böhmen, bis ihn beim Beginn des russischen Krieges der Zar Alexander in warmem Schreiben auffordert, zu ihm zu stoßen.

Der deutsche Reichsfreiherr, der die deutschen Fürsten bis nach Berlin und Wien verachtete, Franzosen haßte, Hannoveranern mißtraute, findet im Kaiser von Rußland die Fürstentugenden, die er seit 30 Jahren träumt: Idealismus, Tatkraft, Gradheit, Fleiß, Takt, Tapferkeit. Als sein Berater im Lager und in der Hauptstadt, dann bis Paris, ohne bestimmte Stellung, hat Stein diese letzten, aufregendsten Jahre seines öffentlichen Wirkens in russischem Solde durchfochten. Dem Zaren allein reicht er den Lorbeer, ihn immer wieder erklärt er für den Befreier, hier endlich glaubt der strenge, noble Mann seinen wahlverwandten Herrn gefunden. Eine Weile hielt er tatsächlich den Zaren für einen Engel, der den Teufel Bonaparte zu vernichten kam.

1813: Stein fiebert: Unablässig, zwischen den Schlachten, die diesen echten Staatsmann nur als Mittel interessieren, feuert er seine Entwürfe, Denkschriften, Briefe an die verbündeten Könige und ihre Minister, alle nur dem einen Ziel der Einheit zu. Kurz, klar, naiv ist der Stil dieser Entwürfe, nur in den Briefen an Freunde dröhnt das Pathos seines Glaubens an die große Sache leise wider.

Seit Napoleons Niederlagen seine Hoffnungen beflügeln, ist er, nach den Jahren der Verbannung mit ihren Stunden der Depression, zu einer letzten, kurzen Jugend erwacht. Plötzlich ein Brief von fünf Zeilen an Gneisenau: »Was machen Sie in England, wenn Russen und Franzosen sich in Deutschland herumtummeln. Ich bitte Sie dringend, kommen Sie! Leben Sie wohl und kommen Sie! Stein.«

So ist jetzt die Weltstimmung dieses Kämpfers. Als er Frau von Staël trifft, überstürzen sich diese beiden cholerischen Naturen in ihrem freudigen Hasse gegen Napoleon so sehr, daß sie der zuschauende Arndt »an Tischen und auf Diwanen in ihren lebendigen Bewegungen gegeneinanderstoßen und karambulieren« sieht.

 

Furchtbarer Rückschlag! Wie, wenn alles Hoffen, alle Siegesfreude, wenn diese im Jahrhundert nie wiederkehrende Gelegenheit für Deutschland verloren ginge! Wenn die Einigkeit in Abwehr und Vertreibung des Eroberers gleich nach dem Siege sich aufs neue in Neid und Mißgunst, Kabale und Intrige auflöste und jeder dieser Fürsten nur wieder an Zuwachs seiner Hausmacht dächte, nicht an die Nation! Beim ersten Betreten von Paris setzt Stein noch auf seinen Zaren.

Zitternd wie einer, der dicht vor der Erfüllung steht, bringt er im Sommer zu Papier, was er im Herbste dem Kongresse vorzulegen denkt. Nach einem Menschenalter des Erwägens findet sich doch keine bessere Formel für Deutschland als die Zweiteilung, die er mühsam auszugleichen sucht. Um Österreich gegen die zentrifugale Kraft seiner fremden Völker ans Reich zu fesseln, setzt er ihm die Kaiserwürde aus, gibt ihm ein Veto gegen jeden Beschluß des geplanten Reichstages; Kriegführung aber sollte dem Kaiser nur mit einem dreiköpfigen Fürstenrate, worunter Preußen, zustehen.

Doch nun kommt Wien! Salons und Feste, Schlösser und Antichambres, die Politik des Alkovens, der Sekretäre, der Lakaien, Vettern und Rücksichten. Sind alle Höfe verwandt untereinander, wie will man dann dem guten Bourbon wehe tun, Land nehmen? Sollen die deutschen Mittelstaaten sich unterordnen? Ist Metternich selbst mit einem lockeren Verbande als Nachbar nicht mehr gedient als mit einem Bundesstaat samt Kaiserwürde, den dieser wunderliche Freiherr nun seit Jahrzehnten predigt? Stein, zwar persönlich geehrt, doch ohne amtlichen Auftrag, erscheint allmählich nur als sachliches Hemmnis, denn weit mehr als für ein deutsches Reich interessiert man sich hier für die Erhaltung alter und namentlich neuer Mächte.

Und Alexander? Ist auch er einer, der beim Friedensschlusse nur an das Nächste denkt? Mit Schrecken sieht ihn sein Berater und Verehrer auf Englands Seite treten, das Deutschland nicht gestärkt sehen möchte, gegen jede Abtretung französischen Bodens, dagegen für Unterwerfung Polens an Rußland eifern, und während von innen und außen niemand mehr das Reich zu gründen Laune hat, entschwinden vor den Blicken Eckharts die Wirklichkeiten wieder, die einst Träume waren, und werden wieder Träume. Er schreibt: »Zerstreuung, Mangel an Tiefe des einen (Alexander), Stumpfheit und Kälte des Alters beim andern (Hardenberg), Schwachsinn, Gemeinheit des dritten (Nesselrode), Frivolität aller war Ursache, daß keine edle, große Idee im Zusammenhang und im ganzen ins Leben gebracht werden konnte.« Das ist die zweite, die größere Enttäuschung seines Lebens.

Stein nimmt seinen Hut und kehrt zurück auf die Burg seiner Väter.

Doch in denselben Sommerwochen von 1815, als er zum ersten Male wieder mit langer Sicht und ohne Gefahr auf seinem Schlosse sitzt, erfährt er eines Abends, unten in Nassau sei der Minister von Goethe abgestiegen, und obwohl er ihm nie begegnet ist, steigt er hinunter zum »Löwen« und bringt den Widerstrebenden aufs Schloß. Andern Tages fahren sie zusammen nach Köln. Stein ist 58, Goethe 8 Jahre älter. Seit einem Menschenalter haben sie einander strebend gesehen, Stein, hochgebildet, verehrt den Dichter, der seinen Todfeind immer bewundert und an die deutsche Freiheit nie geglaubt hat. Goethe, dem Steins Treiben im einzelnen fremd, seine Person ehrwürdig schien, ist eben jetzt in eine neue, deutschere Epoche eingetreten, entdeckt sich Dürer und die Seinen, fühlt sich den lieblichen Tälern und Strömen seiner Jugend aufs neue und inniger verbunden.

Da stehen sie im Kölner Dom beisammen, Stein sagt leise zu Arndt: »Still, stört ihn nicht. Im Politischen können wir ihn freilich nicht loben. Laßt ihn aber, er ist zu groß.«

Mit so rein geistiger Entsagung steht dieser Feuerkopf vor dem Genius, dem er aufs tiefste grollt, weil er ihn als »Weltbürger« kennt, und eben das hat Stein als Hemmung nationalen Strebens vor Philosophen und Gelehrten immer in Wut versetzt. Und nun atmet mit solchem Takt und solchem Schweigen sein feuriges Herz an der Seite dieses Mannes, den gerade jetzt des Irrtums zu überführen so leicht wäre. »Nimmer« – schreibt Arndt – »habe ich Steins Rede in Gesellschaft stiller tönen gehört.«

 

Noch 16, meist gesunde Jahre hat der Freiherr vor sich: Deutschland aber braucht ihn nicht mehr. Alles Verheißene, die Verfassung vor allem, versinkt in den Blättern der Geschichte, die Freiheit bleicht dahin, Reformen modern, Pläne welken: 60 Jahre wird es dauern, bis Steins Entwürfe gegen die Bureaukratie durchgesetzt werden, 90, bis der preußische Adel den Bauern erlauben wird, sich selbst zu verwalten. Und in denselben Wochen, da der alte Stein mit vernichteten Hoffnungen sich in sein rheinisches Schloß verriegelt, wird auf einem märkischen der Mann geboren, der nach zwei Menschenaltern Steins Traum –, und sei es nur zur Hälfte, auf seine Art verwirklichen soll.

Zwar, jetzt bietet man dem Sonderling Präsidium oder preußische Vertretung beim Bunde an, aber er scheut die Abhängigkeit von seinem noch immer regierenden Gegner Hardenberg, »der mich bei irgendeinem Anlaß aufopfern würde«. Das Nächste, Natürlichste: Stein an die Spitze Preußens zu rufen, das kommt dem Könige nicht in den Sinn; selbst bei den Dotationen, die den Generalen blühen, wird ihm nur wenig zugeworfen. Mit einem eiskalten Briefe von sechs Zeilen schickt ihm der König den Schwarzen Adler, und als Stein mit 70 einmal durch Berlin reist, ernennt er ihn gar zum Mitglied des Staatsrates.

Nur das Volk, in und ohne Waffen, fühlt, was er geleistet hat. Im Freiheitskriege ist eine Abordnung von Offizieren der verbündeten Heere zu einem Professor des Staatsrechts nach Frankfurt gekommen, mit der ernsten Frage: ob man nach den Reichsgesetzen Stein zum deutschen Kaiser ausrufen könnte. Der Professor hat es, das Volk hätte es vielleicht, der Genius der Geschichte sicherlich bejaht. Nur die Fürsten hätten es lächelnd verneint, mit ihnen in seltener Übereinstimmung der Freiherr vom Stein.

Der gibt indessen seiner jüngsten Tochter Unterricht in der Geschichte und kommt dabei auf den Gedanken, die Quellen der deutschen Geschichte zu sammeln. Wie er, auf einem Auge starblind, bemerkt, das ginge über seine Kräfte, setzt er mit alter Tatkraft das Unternehmen in Gang, stiftet Geld, unterstützt Gelehrte, ruft Geistliche auf und Bibliotheken, beaufsichtigt die Arbeit, aus der sich dann die Sammlung der Deutschen Monumente entwickelt. Zugleich tut er auf seinen eigenen Dörfern im kleinen für die Freiheit der Bauern, was ihm im großen durchzuführen versagt blieb.

Als ihm die Frau stirbt, die er um ein Jahrzehnt überlebt, schreibt er am gleichen Tag den Abriß ihres Lebens, worin er von ihrem Gemahl wie von einem Fremden spricht und die Gründe früheren Zwistes mit leiser Hand allein auf die Unruhe seines Wesens und seiner Laufbahn schiebt. Später quälen ihn neue »Mißverhältnisse im Innern meiner Familie, die in einzelnen Fällen höchst peinlich und tief mich erschütterten, im täglichen Leben aber häufig unerfreulich wirkten«.

So wendet er sich entschlossen vom Irdischen weg, seine Briefe zitieren nun häufiger die Bibel. Politische Gespräche, die bei stellenlos gewordenen Staatsmännern sonst wachsen, nehmen ab. Doch als er in seinem Speisesaal eine Wand ausmalen läßt, wählt er dazu die Trauer des deutschen Heeres, als Barbarossa in Kleinasien aus dem Fluß gezogen wurde, in dem er ertrank. Dem Heer, so schreibt er für den Maler auf, soll man ansehen, daß es nun, nahe der Eroberung des gelobten Landes, seinen Helden verliert, »dessen Tapferkeit ihm in Schlachten und Stürmen vorglänzte, und nun steht es verwaist und umgeben von grimmigen Feinden und verräterischen Freunden in der Mitte eines fremden Weltteiles«. Tiefe Enthüllung einer enttäuschten, beängstigten Seele.

Ein Jahr vor dem Tode wird er von seinem dankbaren Könige, da man ihn braucht, beinahe gezwungen, 78jährig dem Landtag in Westfalen zu präsidieren. Er ist krank, doch, über alle Kränkungen hinweg, macht er sich auf, heute wie einst, und braucht nun freilich keine Glocke: wenn er eintritt mit seinem Krückstock, schweigt der ganze Saal.

Mit Heftigkeit lehnt er sich zuletzt auf gegen die Revolutionen in Paris, Brüssel, Madrid. Aber die griechische Befreiung, eine nationale Revolution, läßt die alten Augen noch einmal leuchten, und man fragt sich: war nicht doch ein Stück von diesem Herzen revolutionär? Hat diese leidenschaftliche Natur vielleicht nur Selbsterziehung zur Ordnung gerufen? Oder war es uraltes Stammesgefühl? Auf dem Grabstein steht bei seinem Namen: »Der Letzte seines, über sieben Jahrhunderte an der Lahn blühenden Rittergeschlechtes.«

Weil wir sterben müssen, sollen wir tapfer sein.


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