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II. Teil

Lionardo

Lionardo

Skizzen zu einer neuen Biographie

»Wenn ich gelernt haben werde zu
sterben, dann werde ich zu leben
gelernt haben.«

Sein Leben war ein Zwiegespräch mit der Natur.

Oft mag es ganz im Schweigen dieses ewig einsamen Mannes versunken sein, dann wieder schlug es sich in kurzen Noten nieder, in Vergleichen, Schlüssen, Einfällen, Vorschlägen. Manchmal verdichtete es sich zu sichtbaren Werken, doch auch diese blieben, bis auf ein paar, Fragmente oder gingen an mangelnder Weltkraft früh zu Grunde. Da ihm alles nur als Versuch wert war und weder Ehrgeiz noch Eifersucht ihn antrieben, nicht einmal der Wille des Meisters, sich in seinen Geschöpfen zu spiegeln, blieb im Grunde nichts zurück als ein paar Tafeln, eine bemalte Mauer, einige Dutzende Zeichnungen, aber dazu die Tagebücher mit 5000 Seiten Notizen.

Früh spann sich um diese Dokumente eines Essayisten die Legende, wie um eines Mystikers Werk. Geheimnis schien in und hinter diesen Resten eines schöpferischen Lebens verborgen, und je weniger von diesem Leben faßbar in Erscheinung trat, um so dichter umhüllte es der Schleier, wie eines Magiers Leben. Einem Prinzen gleich ließ ihn die Nachwelt gern durch die Straßen reiten, auf weißem, goldgezäumtem Pferde, umbauscht von seidenen Mänteln, umrauscht vom Lachen schöner Knaben, seiner Schüler und Lieblinge: Sinnbild des Künstlers in jener glänzenden Epoche.

Die Wahrheit ist einfacher und tiefer. Die lebenslange Zwiesprache, die er mit der Natur gehalten, heischte von ihm vielmehr die höchste Einsamkeit, denn immer ist dies Zwiegespräch zugleich ein Selbstgespräch. In diesen tausend Dialogen seiner Skizzenbücher, die wie von fremden Küsten zu uns geweht erscheinen und an deren Entzifferung Jahrhunderte wirken, fragt er sich immer wieder: »Erinnere Dich ... Falsch! Richtig! Geirrt! ... Das ist ein schöner Zweifel, wert, untersucht zu werden! .. Wie würdest Du dann aber den Kies auf den hohen Bergen erklären? ... Hast Du auch alle Bedingungen zur Anatomie?« Und damit sein Zwiegespräch mit sich, mit der Natur keinem anderen verständlich werde, schrieb er es in Spiegelschrift nieder.

Denn dieser Schüler der Natur war zugleich doch ein Magier, und eben aus diesem Doppelwesen sind die hohen Kontraste gestiegen, die ihn produktiv gemacht haben. Ohne sein naturforschendes Auge, geschaffen zu sehen, wäre er nie der größte Pfadfinder des neueren Abendlandes geworden; ohne seinen mystischen Blick, geschaffen zu schauen, hätten seine Erkenntnisse nie zu den genialen Schlüssen geführt, die ihn gleichsam zum prähistorischen Erfinder alles dessen machten, was eine spätere Epoche mühsam erfand. In einem Jahrtausend hat ein solcher Doppelsinn des Geistes, hat solche naturgläubige Realistik kein prophetisches Gemüt so hoch begnadet wie Lionardo und Goethe. Jener hatte den leichteren Stand, im Unerforschten seherisch zu schweifen; dieser, Beobachter und Essayist wie er, wußte dafür, dank einem eingeborenen Sammlertriebe, das Erworbene besser zusammenzuhalten, und obwohl auch er an Fertigem nicht viel mehr hinterließ als ein paar Tafeln, so haben sich doch seine Tausende von Skizzenseiten zu Übersichten gerundet, und so tritt das Werk greifbarer hervor. Durch Maß und Abschlüsse ist Goethe überlegen; an Fülle der Gesichte bleibt Lionardo einzig.

Da er aber nichts sammelte oder vollendete, blieben alle seine Errungenschaften ohne Folge. Wohl plante er, aus den Notizen Bücher zu machen, geordnet nach Materien: Traktate über das Wasser, über die Mechanik, über die Malerei und viele; das Ganze sollte heißen: Über die Dinge der Natur. Doch da ihn Neubegier durch die Jahrzehnte immer weiter trieb, da die Goethesche Entsagung, Beschränkung und Pedanterie Lionardos schweifendem Wesen, seinem verschwenderisch aussäenden Geiste ganz fremd war, entstand beinah nichts Faßbares; alles blieb Thema und Versuch. Weil sein Genius mit der Gebärde eines spielenden Gottes die Werke der Natur einzeln ergreift, betrachtet und wieder fortlegt, bleibt Lionardo selbst nur ein Naturspiel, fast ohne Vorgänger, ganz ohne Nachfolger.

 

Am liebsten nennt er sich Erfinder, und wirklich ist es das Erfinden allein, was ihn sein ganzes Leben begleitet. Als Jüngling will er schon den Dom von Florenz mit Treppen unterbauen und unberührt in die Höhe heben. Mit Dreißig bietet er sich dem Herzog von Mailand als Erfinder an, um ihm Pontons und Kriegswagen, Minengänge und Mörser zu konstruieren. Dann baut er Tanks: Schildkröten mit Doppeldecke, Zugtiere im Innern der Schale, Schießscharten im Mantel. Zugleich macht er sich an die Kanalisation des Tessin und seine Verbindung mit den Seen. Mit Fünfzig will er Florenz zur Idealstadt verwandeln, entwirft die Kanalisation von heute, obere und untere Straßen, durch Treppen verbunden, für Promenaden- und Lastverkehr, moderne Kamine, selbstschließende Türen, Bratspieße, von erwärmter Luft gedreht.

Zugleich erneuert er einen alten Plan, den Arno von Pisa her zu kanalisieren, indem er den Fluß von der versandenden Stelle an durch Stauwehre beherrschen will. Noch als Greis entwirft er in Frankreich ein Kanalnetz für die Saône. Vierhundert Jahre später werden der Tessin, der Arno und die Saône fast auf denselben Trassen kanalisiert.

In zahllosen Zeichnungen konstruiert er Wasserflugzeuge und den ersten Fallschirm dazu, Tauchapparate und das Unterseeboot: »Warum ich nicht meine Art, unter dem Wasser zu bleiben, niederschreibe? Wegen der bösen Natur der Menschen, die ihre Feinde auf dem Grunde des Meeres umbringen, indem sie den Boden der Schiffe anbohren und die Insassen versenken würden. Was ich darüber lehre, ist nicht gefährlich: Über die Wasserfläche wird der Mund des Rohres ragen, durch das ich atme, getragen von Schläuchen oder von Kork.« Er versucht, den Dampf als Motor zu verwenden, zeichnet die erste Dampfkanone, macht Pulver, baut den Glasofen und den Destillierapparat. Er baut Säge-, Spinn-, Scher-, Wasch-, Töpfermaschinen, alle Arten von Mühlen, artesische Brunnen, er konstruiert die Wage, den Hohlspiegel, das Pendel.

Dies alles sind Erfindungen eines Autodidakten, der erst mit dreißig Jahren anfängt, Latein und Mathematik sich selbst zu lehren. Deshalb ist er auch Feind aller quellenkundigen Humanisten ringsum, die ihn verachten, »weil ich ohne Vorbildung bin, ich Erfinder!« Deshalb spielt sein Spott, meist leise, über Sophisten und Philosophen. Denn immer geht Lionardo vom Zwiegespräch mit der Natur aus, von der Erfahrung, vom Experiment.

Bei Erfindung des Flugzeugs: »Um das Fliegen zu lernen, mußt du erst die Winde verstehen. Und die Winde werden dir erst aus der Wellenbewegung des Wassers klar.« Statt mit den Humanisten über dem Problem zu grübeln: Ist Wärme Materie?, wägt er eine Sache erst glühend, dann kalt und macht seine Schlüsse. Er beobachtet die zunehmende Geschwindigkeit eines Falles und findet das Gesetz, das er nicht suchte, zwei Jahrhunderte vor Newton. Da er Kriegsmaschinen braucht, um Lasten zu heben, konstruiert er Rollen- und Flaschenzug und stellt die Hebelgesetze auf, als der erste nach Archimedes. An physikalischen Zeichnungen, die er zu schwer enträtselbaren Zwecken braucht, entwickelt sich ihm das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Auf einer Wanderung über die Seealpen findet er Muscheln auf Bergesgipfeln und begründet die Paläontologie, woran er die Lehre von den geschichteten Steinen, von den Fossilien, von Ebbe und Flut schließt, die ihn dann zu früheren astrologischen Studien zurückführt.

Aus den Kaskaden seiner Versuche springen ihm, wie goldene Fische, von selbst die Gesetze zu: vor Galilei findet er das Gesetz der virtuellen Geschwindigkeit; er findet die Gründe des Wirbels, des Strudels, das Gesetz der kommunizierenden Röhren, begründet die Hydrostatik und die ganze hydraulische Wissenschaft. Er kennt die Wellenbewegung des Meeres und wendet ihre Fortpflanzung und Reflexion auf Schall und Licht an, mißt Schallwellen, erklärt das Echo und das Mitschwingen der Obertöne, vierhundert Jahre vor Helmholtz und Herz. Vor Goethe begründet er die Vergleichende Anatomie in einem Buch mit Rötelzeichnungen, nach Körpern, die er selbst sezierte, vergleicht die Zunge des Spechtes und die Kinnladen des Krokodils mit den menschlichen Organen und weist auf einen gemeinsamen Urtypus hin. Er erklärt das Auge als camera obscura, erkennt die Funktionen der Linse und der Netzhaut und die Entstehung des körperlichen Sehens. Alles Mittelalter, Glaube und Überlieferung sind verschwunden. Als erster Mensch einer neuen Zeit glaubt Lionardo nur an den Versuch; auf allen Gebieten begründet er, nicht Bacon, die experimentelle Methode.

 

Doch während diese Menschenaugen alles sehen und erkennen, was die Natur ihnen vorführt, schauen zugleich die Magierblicke. Plötzlich schreibt er sich, mitten zwischen ganz anderen Dingen, mit sehr großen, feierlichen Buchstaben die Worte hin: »Il sole non si muove.« Dann wieder irgendwo hineingestreut: »In Deiner Lehre mußt Du zeigen, daß die Erde ein Stern ist, ähnlich wie der Mond, und so wirst Du die Herrlichkeit der Welt erweisen.« Geschrieben 50 Jahre vor des Kopernikus Buch, ohne Erklärung, ohne Beweis.

Während er wie Goethe alles beobachtet und aufzeichnet, was seine Augen sehen: das Glockenwerk in Siena, den Springbrunnen von Rimini, die Form der Karren in der Romagna, erhebt sich plötzlich Sprache und Gedanke, ganz wie bei Goethe, in erschaute Höhen, und aus mathematischen Formeln, aus den Staffeln der Zahlen und Wurzeln steigt, wie das Wasserflugzeug, wenn es die Fläche verläßt, in unmerklichem Übergange der Geist in die Luft der Gleichnisse: »Das Gewicht verscheidet seiner Natur nach in der ersehnten Lage ... Das Gewicht ist materiell und die Kraft geistig. Begehrt die Kraft immer Flucht und Tod, begehrt das Gewicht immer Dauer ... Der Stoß entsteht aus dem Sterben der Bewegung und die Bewegung aus dem Tode der Kraft ... Kraft wird aus der Gewalt geboren und stirbt durch Freiheit, sie verzehrt sich um so rascher, je größer sie war. Ungestüm verjagt sie, was sich ihr entgegenstellt, wünscht ihren eigenen Grund und ihr Gesetz zu besiegen und tötet siegend sich selbst.«

Aus so hoher Geisterschau gleitet er dann leise zurück zur Mechanik der Körperwelt, die er, wie wider Willen, plötzlich verließ. Doch immer wieder bricht der prophetische Gesang des Magiers durch die konzisen Schlüsse des Forschers. Exakt hat er noch eben als der erste die Funktionen der Pupille auseinandergebreitet; da plötzlich fährt er, mitten in den Notizen, fort: »O große Notwendigkeit! Mit höchster Vernunft zwingst du alle Wirkungen, an ihrer Ursache teilzunehmen. Wer würde glauben, daß solch ein Bruchteil einer Sekunde die Wandlungen des Weltalls umfassen kann? So steigt die menschliche Denkkraft auf zur Betrachtung des Göttlichen.«

In dieser Naturreligion des Forschers spiegelt sich aufs neue die Doppelwelt seiner Seele. Boshaft spottet er aller Nekromanten, Geisterseher, Spiritisten seiner Zeit. »Nimm kein Wunder an, suche überall Ursache ... Wer die höchste Sicherheit der Mathematik verschmäht, nährt sich von Verwirrung und wird den sophistischen Wissenschaften nie Schweigen auferlegen, die nichts erzeugen als ein ewiges Geschrei.« Spottworte blitzen auf gegen Goldmacherei, Sphärenmusik, perpetuum mobile, er lacht über Mönche, die von längst verstorbenen Heiligen leben, die Sintflut ist ihm nichts als geologische Erscheinung.

Aber dazwischen steigen aus denselben Blättern phantastische Prophezeiungen, die er gehört, von Seuchen, Ungetümen, neuen Kreuzigungen, nur halb burlesk, zur Hälfte allegorisch. In breiter Darstellung gibt er sich selbst Bericht von einem Riesen in Kleinasien, wo Lionardo übrigens, entgegen der Legende, nie gewesen ist. Malt er heut auf seine Tafeln nie gesehene azurblaue Klüfte und Täler, Grotten und Felsen, so notiert er morgen auf dem Monte Rosa, woraus die Azurfarbe der Luft dort oben sich erklärt, und erfreut damit 300 Jahre später den alten Goethe, der ihn zutiefst erkennt, in dem er (an einer entlegenen Stelle) von ihm sagt, »er hatte als ein die Natur unmittelbar anschauend auffassender, an der Erscheinung selbst denkender, sie durchdringender Künstler ohne weiteres das Rechte getroffen«.

Und plötzlich bricht aus Lionardos Selbstgespräch, ohne allen Zusammenhang, das kühnste Wort hervor, das je ein Mensch der Welt zuwarf: »Ich entdecke den Menschen den ersten oder vielleicht den zweiten Grund ihres Daseins.«

 

Trotz dieses steten Widerspieles scheint seine Seele von ihrem Doppelleben in keinem Sinn erschüttert, wie Goethes, vielmehr nur in ihr volles Gleichgewicht gehoben. Dies spricht sein Leben aus, sein Bildnis, seine Kunst.

Inmitten aller Unruhe einer Epoche, die ihn im weltlichen Sinne erhebt, stürzt und wieder hebt, läuft Lionardos äußeres Leben ereignislos, und auch das innere hat keine großen Cäsuren. Ein einziger Tag dieses langen Lebens ist von Geheimnis umwittert; er bedingt alle Geheimnisse seiner Seele. Es ist der Tag seiner Zeugung.

In der Mitte dieses Jahrhunderts der großen Bastarde, in den Bergen bei Empoli wurde vom Schicksal irgend ein junger Florentiner auf der Wanderschaft auserkoren, um ein Bauernkind zur Mutter des Genius zu machen. Niemand weiß ihren Namen, niemand ihre Geschichte. Der junge Mann, später Mode-Advokat von Florenz, hat sie samt seinem Kinde verheiratet, unbekannt mit welchem Bauern. Er hat dann noch neun Söhne gezeugt, eheliche, namenlose, sie hat vielleicht noch viele Kinder geboren.

Von jenes Einen Bahn, seit ihn der natürliche Vater später adoptierte, mag sie kaum etwas erfahren haben, denn nirgends deutet eine einzige von den vielen Lebens- und Reisedaten in den Notizen an, daß er die Mutter kannte. Auch vom Vater hat er nichts empfangen und mit den Brüdern nur im Alter Prozesse um sein Erbe führen müssen; schließlich hat er sie im Testament bedacht. Alles bleibt namenlos an seinem Stamme, nur eines blieb übrig, jenes Dorfes Name. Und so hat eine Magd den armen Ort in die Unsterblichkeit geleitet: Vinci klingt durch die Jahrhunderte fort, weil Lionardo von Vinci kam.

Bis Dreißig lebt er schweifend, unbekannt, nach der Künstlersitte seiner Zeit sucht er einen Fürsten, dem er sein Können, der ihm sein Haus bieten könnte. Dann findet er den Lodovico Sforza, den mächtigen Herzog von Mailand, Moro genannt: dem hat er sich in großem Schreiben vor allem als Meister der Kriegstechnik, als Erfinder von Geschützen angeboten, ferner als einer, der Häuser bauen, Wasser leiten, überdies auch in Marmor, Erz, Ton modellieren, schließlich noch malen könne und Lauten spielen.

Doch der Herzog beruft ihn zuerst für ein Reiterdenkmal, zum Ruhme seines Bruders. Dann läßt er ihn, mit einigen Pausen, an zwanzig Jahre in allen den Dingen arbeiten, deren der Florentiner – denn dafür gilt er nun – sich rühmte.

Als Frankreichs König den Herzog stürzt und ihn in den Kerker sperrt, geht Lionardo sofort zum Sieger über und schreibt in den Deckel eines seiner Tagebücher nur die Worte: »Der Herzog verlor Land, Gut und Freiheit, keines seiner Werke konnte er vollenden.« Daneben steht: »Rhodos hat im Binnenlande 5000 Häuser«; das hat ihm am selben Tage jemand erzählt.

Zugleich geht er – jedem Herrn käuflich, der ihn hoch genug bezahlt, wie jeder Condottiere dieser Zeit – zum Manne des Tages, Frankreichs Verbündetem, über: denn das ist um die Wende des Jahrhunderts Caesar Borgia, der ihn zum »General-Ingenieur für alle Festungen« ernennt. Nach dem Feldzug des Borgia sendet ihn die Vaterstadt Florenz, die im Kriege mit Pisa liegt, ins Lager, damit er den Arno von Pisa ab und nach Livorno lenken soll; aber Intrigen und Schildbürgereien verderben die Sache, und er strebt vergeblich, wieder in Mailand zu leben, von wo ihn seine Vaterstadt zurückbefiehlt.

Weil aber Lionardo einen generösen Fürsten braucht und keine knausrige Republik, um ungeschoren seinen Einfällen zu leben, schickt ihm in diesem Augenblick das Schicksal wiederum einen, der mächtiger ist und dessen Wunsch die Florentiner Ratsherren weichen müssen: den Franzosenkönig, unter dessen Schutze er als Mitte Fünfziger tritt und bis zum Anfang der Sechzig wieder in Mailand wirkt. Dann raubt die politische Wirrnis ihm aufs neue sein Asyl: im Kriege zwischen Papst und Frankreich erobert sich der Sohn des Moro Mailand, des Vaters Herzogtum, zurück; Lionardo schlägt sich aufs neue zur Gegenpartei und geht nach Rom, wo Leo Medici, der Freund des Geistes, Papst geworden ist. Des Papstes Bruder, Giuliano, den schönen Decadent, weiß er durch mechanische Kunststücke zu fesseln, die er als Alchemie erscheinen läßt. Aber Raffael blüht ihm gar sehr in der Sonne.

Noch einmal wendet sich zu seinen Gunsten die Geschichte. Dem König Ludwig folgt in Paris König Franz, Neffe jenes Giuliano; der ist entschlossen, dem verbündeten Italien alles zu rauben, was sich schleppen läßt, und so nimmt er auch den alten Zauberer mit sich, von dem man, wer weiß was für Maschinen noch wird haben können. Mit großem Gehalt und Titel setzt er ihn auf ein Schloß in der Touraine, und hier, in Cloux, verbringt der Greis in voller Freiheit seine letzten Jahre ohne Sehnsucht nach dem Vaterlande.

Als er das Leben überblickt, faßt er Glauben und Zweifel, Demut und Stolz in das abgründige Wort zusammen: »Unser Leben ist dem Himmel unterworfen, aber der Himmel dem Geist.«

 

Ereignislos inmitten heftiger Ereignisse, günstig inmitten allgemeiner Ungunst ist dieses Leben verlaufen; beides hat Lionardo dauernd gewollt und erreicht. Denn um Schutz, Nahrung und Sicherheit war es ihm nach außen zu tun, nicht um Gesinnung, Freundschaft und Partei. Darum hat seine weltliche Geschicklichkeit sich einem Mäzen nach dem andern angeboten, mit dem vollen, naiven Zynismus seines Jahrhunderts. Er mag nicht kämpfen, sondern betrachten, und während er als Ingenieur im Kriege wirkt, fühlt er ganz pazifistisch, klagt die Menschen an um ihrer kriegerischen Tollheit, faßt aber am Ende alle Eindrücke des Schreckens in ein einziges Werk: die Schlacht bei Anghiari, zusammen. Wer siegt und unterliegt, gilt ihm gleich, und wenn er mit sachlichem Ernste den aufgehängten Attentäter seines Gönners baumelnd zeichnet, schreibt er kein fluchendes Epitaph an den Rand, sondern die Farben der Kleidung des Gehängten.

Im Solde des Sforza entwirft er das Denkmal für einen Sforza; als der Moro besiegt ist, verwendet er den Entwurf desselben Denkmals zu einem solchen für den Feldherrn, der den Moro schlug. Mailand verläßt er im Augenblicke, wo der Brotherr seiner letzten zwanzig Jahre samt dem Herzogtum zusammenbricht. Was schuldet er denn dem Herzog! Während sich um diesen das Geschick zusammenzieht und niemand weiß, was morgen, studiert Lionardo Winde und Wasserhosen, arbeitet er über die Natur der Meereswellen. »Denn die gütige Natur sorgt, daß du überall in der Welt etwas lernen magst.«

Dann malt er die schwerste Niederlage Mailands im Dienste von Florenz an die Wand des Rathauses. Dreimal wechselt er mit dem siegreichen Feinde den Herrn. Fürsten, von deren Stimmung seine Ruhe abhängt, weiß er mit Schmeichelei und Vorsicht zu behandeln; dem naiven Geschmack des jungen Franzosenkönigs empfiehlt er sich beim Einzug in Rom durch einen drolligen Löwen, der ein paar Schritte vorwärts tut, sich dann die Brust mit seinen Pranken öffnet und die bourbonische Lilie aus seinem Busen fallen läßt. Mit dieser Narrheit hat er sich wahrscheinlich Gunst und Stellung beim König erkauft.

Jungen Künstlern rät er, sich zum Tadler höflich zu verhalten. Er, der die tiefsten Weisheiten in Epigrammen von wenig Worten in seinen Notizen umherstreut, entwirft ein halbes Dutzend Briefe, um vor seinem Fürsten die Gehilfen des Leichtsinns zu verklagen. Bis in seine Skizzenbücher dringt, nicht bloß durch Spiegelschrift, die Vorsicht, und als er gegen das Fleischessen schreibt, scheut er sich »mehr zu sagen, da das Wahre zu sagen ja nicht gestattet ist«.

Dennoch wird er in allen Lagen des Lebens von seiner Würde getragen. »Befehlen ist Herrenwerk, Ausführen Sklavenarbeit«: das ist die Form, in der sein Stolz die essayistische Art seines Wirkens bestätigt. Seinem Herrn gibt er nie die gebührenden Titel, immer nennt er ihn Signore. Mit dem hohen Stolze eines in sich ruhenden Lebens schreibt dieser Revolutionär inmitten von tausend Umstürzler-Gedanken: »Die gekrönten Bücher lasse ich stehen, weil in ihnen höchste Wahrheit ist.«

Schön und gepflegt, ersichtlich im Bestreben, seine Erscheinung auf vornehme Art zu nivellieren, liebt er den Körper und sorgt für die Kleidung. »Grobe Menschen von schlechten Sitten und schalem Urteil verdienten ein so schönes Instrument, solche Vielfalt der inneren Einrichtung wie diesen Körper nicht; nur einen Sack, der Nahrung aufnimmt und abgibt, denn sie sind nur ein Durchgang für Speisen.« Aus solchen Gründen der Feinheit nach außen und innen hält er sich gern von der Skulptur zurück, er mag nicht »verstaubt und schmutzig stehen, während der Maler mit großer Ruhe wohlgepflegt vor seinem Werke sitzt und den federleichten Pinsel mit den schönen Farben bewegt. Er ist mit Gewändern geschmückt nach Laune, das Haus voll schöner Gemälde, oft sitzen Vorleser dabei und Musiker«. Darum liebt er auch die Tiere und ißt sie nicht, er kauft auf dem Markte gefangene Vögel, um sie im nächsten Augenblicke freizulassen.

In der Jugend mag er diese natürlichen Züge affektiert und übertrieben, er mag, wenn er Geld hatte, zu Pferde mit Freunden und Dienern durch die Straße geritten sein, um den Leuten ein Schauspiel, um sich ein Gefühl von Glanz zu geben. Aber in den zahllosen Notizen über Geld und Ausgaben, die durch seine Tagebücher huschen – und diese reichen fast alle nur bis gegen sein dreißigstes Jahr zurück –, ist nirgends von Pferden und Luxus die Rede; auch die Handschrift ist preziös und phantastisch nur in den ältesten Büchern, dann wird sie klarer.

Als Fünfzigjähriger rettet er aus den Wirren der Kriegszeit sein ganzes, in 17 Jahren erspartes Vermögen, 600 Goldgulden auf die Sparbank von Florenz, hebt dort nur von Zeit zu Zeit etwas Geld ab, gibt Schulden wieder, borgt Freunden. Alles, was wir von seiner weltlichen und seiner geistigen Bahn sicher wissen, läßt schließen, daß er in der zweiten Lebenshälfte, die alle Taten seines Geistes bringt und seiner Kunst, bequem, geordnet und still wie ein vornehmer Sonderling gelebt hat, denn »wenn du allein bist, nur dann bist du völlig dein«.

Weltlich nur dort, wo es sein Vorteil heischte, zeigte er sich weltfremd, unzuverlässig und als Bohémien gegen jeden Auftraggeber. Da ihn niemals Pflichtgefühl oder Ruhmsucht zur Vollendung einer Aufgabe trieb, hielt er seine Verträge beinah nie, und wie ihn keiner seiner Zeitgenossen, am wenigsten sein Biograph Vasari, verstanden hat, so war auch niemand, der ihm einen Auftrag gegeben, mit Lionardo zufrieden. Klöster und Herren, denen er in bestimmter Zeit etwas malen sollte, haben ihm Goldgulden, Wohnung und Wein als Angeld gegeben, er hat es angefangen, dann gefiel es ihm nicht oder langweilte ihn: da ging er fort, und sie klagten über oder gar gegen ihn.

Als die Vaterstadt dem Fünfzigjährigen einen großen Auftrag »für ein schönes Werk« gibt, mit dem er eine Wand des Saales in der Signoria schmücken soll, sind die Stadtväter vorsichtig mit dem Unzuverlässigen: sie verpflichten ihn, wenn er zur bestimmten Zeit nicht fertig sei, die Monatsrente zurückzuzahlen und den Karton der Stadt zu überlassen. Wie dann die Kleinbürger ihm sein Gold in Kupfermünzen zahlen, beschwert er sich. Das Riesenbild, das er durch neue Techniken gefährdet, mag er nicht mehr sehn, nach Mailand will er zurück, nimmt Urlaub, der Gonfaloniere droht ihm Geldstrafe, wenn er nicht wiederkäme, es kommt zur Klage, – als der König von Frankreich ex machina erscheint und seiner Majestät sich alles beugt.

Auch mit dem Moro kommt es oft zum Streite; verwunderlich ist nur, daß sie so lange miteinander auskamen: ein Fürst, durch Gewalt zur Macht gelangt, einen gleich gewaltsamen Ausgang fürchtend, immer gehetzt, immer fordernd; ein Weiser, immer im Gleichmaß, betrachtsam, niemals fertig, stets ein Erprobender. Da er mit dem »großen Pferde«, das ist das Denkmal, über Versuche und Modelle nicht hinauskommt, läßt der Herzog einen andern rufen. Als er ihm dann die Camerini seiner Burg, die Lauben, nicht rasch genug malt und schließlich auch das Abendmahl in S. M. delle Grazie nicht fertig wird, kommt es zum Krach. Schon lange hatte der Herzog ihm statt Geldes gewisse Einnahmen von Stadttoren und Wasserzinsen überschrieben, die sich jener, wer weiß wo, suchen soll. »Der Maler hat heut einen gewissen Skandal gemacht, wegen dessen er sich entfernte«, schreibt der Herzog, aber der Maler notiert: »Erst die Benefizien, nachher die Arbeiten, dann die Undankbarkeiten und schließlich diese unwürdigen Szenen.« Doch sie versöhnen sich, – wie später der Weimarer Herzog sich mit seinem Faktotum gezankt und versöhnt hat, der Herzog schenkt ihm Geld und Gunst und einen Weingarten dazu.

Er nahm, was man ihm gab, forderte auch, was er brauchte. Aber sein Selbstgespräch rauscht aus dem Buche: »O schätze mich nicht gering, ich bin nicht arm. Arm ist, wer viele Dinge wünscht.«

 

In diesem Leben war für die Leidenschaft kein Platz. Durch das Secolo Appassionato schweift Lionardo in der hohen Muße des Weisen. Genie und Schönheit, die ihn schmückten, Umgang mit den Mächtigen und Universalität seines begnadeten Geistes führten ihn in die Nähe der interessanten Frauen seines Landes, aber keiner jener humanistischen Frauenbriefe, in denen damals die Gesellschaft Liebesdinge besprach, nennt seinen Namen, und von dem faszinierendsten unter allen Künstlern der Renaissance berichtet kein Abenteuer. Was seinem narzissushaften Selbstgespräch, was seiner Haltung und Zurückhaltung, was dann dem Schmelze seiner gemalten Gestalten zu entsprechen scheint, ist Neigung zu Jünglingen, und wirklich erzählen Dokumente und Anekdoten von Lionardos Spiel mit den Knaben.

Aus seiner Jugend ist beinahe nichts beglaubigt zu lesen als die Anklage wegen Verführung eines bösen Buben, wobei er nur bedingungsweise freikam. Dann, wie die Tagebücher zwischen all ihren makro- und mikrokosmischen Fragen und Antworten auch die Arabeske seines Lebens skizzieren, tauchen allenthalben jene Blondköpfe aus den Blättern, die seine Zeichnungen und Tafeln verewigt haben. Meist sind es Schüler, und was für Locken der, was für ein Plappermäulchen der andere habe; wie sie in Rom, statt Hohlspiegel für ihn zu schleifen, mit den Schweizern des Papstes auf die Vogeljagd oder zum Weine entwischen, das kann man zwischen Wurzelrechnungen über das Pendel, neben Zeichnungen für Schleusen und Bassins entziffern, und daneben steht wieder: »Frage nach, wie man in Flandern Schlittschuh läuft.«

Freigebig, gastlich wie ein Morgenländer, gibt er den schönen Jungen, was er hat, schenkt ihnen seine besten Blätter, die sie signieren und verkaufen, und wenn sie ihn dann dafür bestehlen, so tut er wohl, als merkt er nichts, und läßt sie laufen. Aber seitenlang schreibt er sich auf, was ein solcher Giacomo ihm und den Freunden gestohlen hat; dann, was er für ihn ausgegeben an Kleidern, Schuhen, Gürteln. Am Rande steht klipp und klar: »Diebisch, lügnerisch, eigensinnig, gefräßig ... Wieviel kostet mich der Junge?«

Wie er älter wird und sie älter werden, verlieren sich die meisten. Nur zwei – Andrea Salaino und Melzi – haben ihn weiter begleitet, als Kameraden, Helfer, Freunde.

Und plötzlich heißt es in den späteren Selbstgesprächen: »Die Leidenschaft des Geistes verjagt alle Lüste.«

 

Aus den Quellen dieser sublimen Erotik strömt Lionardos Kunst.

Da er keineswegs mit monomaner Leidenschaft oder auch nur in erster Reihe Maler war, hätte er, bei anderem Stande der Kunstgeschichte, ein Musiker werden können, auch wenn er nicht silberne Instrumente gebaut und als Lautenspieler geglänzt hätte. Die Wahrheit ist, daß nie ein Maler so tönend gemalt hat wie Correggio und Lionardo, die beiden feinsten Erotiker des Südens.

Aber es führt noch ein näherer Weg vom Forscher zum Maler, der Weg der Beobachtung. Denn als Geist der reinen Erfahrung ist er nicht minder Augenmensch wie als Maler; nicht minder auch wie Goethe, dessen Forscherblick seinen Genius zwei Jahrzehnte zu irritieren und zum Maler zu machen suchte. Immer ist er auf der Jagd nach Bildern, eben weil er Erkenntnisse sucht. Immer, jung und alt, hat man ihn mit einem Skizzenbuch im Gürtel gesehen. Wenn Lionardo im Anfang seiner Anatomie vier Arten aufstellt, Stimmungen der Seele in ihren Bewegungen und Anzeichen wiederzufinden, so ist der Forscher hier beinahe Maler; und wenn er, nach eines Stadtgenossen Bericht, Menschen mit wunderlichen Zügen durch die halbe Stadt verfolgte, um diese Züge festzuhalten, so ist der Maler beinahe Forscher.

Dann heißt es in den Selbstgesprächen: »Giovannina, phantastisches Gesicht, wohnt in Santa Catherina, im Spital.« Für eine zu malende Gestalt der Bibel, für einen Alten, Bettler, Hirten sucht er Plätze und Kneipen auf, an denen man dergleichen Volk treffen könnte, und erst, wenn er in hundert Stellungen einen Typus oder ein Tier nach der Erfahrung gezeichnet hat, wagt er sich an die Tafel, um es endgültig zu fixieren. Bauern soll er vom Markte mitgenommen, betrunken gemacht und dann gezeichnet haben. Zugleich sucht er wieder Gesetze zu finden und schafft sich in den Grundzügen einer Physiognomik den Übergang vom Schließen und Öffnen des Lides, Rümpfen der Nase, Schmollen der Lippen, vom Lachen, Niesen, Gähnen, Krampf, Schweiß, Müdigkeit, Hunger: immer forscht er nach den Ursachen des Gestus, den er malt.

Während zur selben Zeit, zuweilen in denselben Mauern, Michelangelo die ungeheuren Wände mit den Kolossen seiner inneren Gesichte in endgültiger Formung füllte, damit sie dort prangen oder bleichen durch die Jahrhunderte, während Raffaels kluge Eklektiker-Finger das absolute Schöne zu bannen trachteten, blieb Lionardo auch als Maler immer Essayist, immer Relativist, ein Versucher, ein Spieler. Al Fresco, in Tempera zu malen lehnt er ab, weil er sich da nicht unterbrechen könne, »zu den feinsten Überlegungen«, wie er es nennt.

Denn wenn er malte, mußte ihm freistehen, das Ölbild plötzlich zu verlassen, um, nach den Stimmungen seiner Seele, die Natur an einer anderen Ecke zu belauschen, zu entschleiern. Aus einem Kloster bei Florenz, das eine Madonna bei ihm bestellt hat und monatelang auf ihre Vollendung wartet, schreibt der Vikar: »Er widmet sich mit Leidenschaft der Geometrie, ist aber übel auf den Pinsel zu sprechen.« Einmal – so berichtet ein Mailänder, der ihn am Abendmahl tätig sieht – malt er den ganzen Tag, von Sonnenaufgang an, auf seinem Gerüste stehend ohne Essen und Trinken. Dann wieder kommt er tagelang garnicht, oder er setzt sich zwei Stunden davor, schweigend, prüfend und geht. Oder er kommt von einem Ritte, mittags, heiß, belebt, in die Kirche, macht zwei Pinselstriche an einer Figur und verschwindet.

Da er ganz Geist ist und nur zuweilen das Gesehene, statt in Gesetzen, in Bildern festzuhalten sucht, ist ihm an Überwindung der Mittel nichts gelegen. Siegreich kämpft er mit der Materie als Erfinder, als Künstler weicht er stets vor ihr zurück; es ist, als weigerte sich der Techniker in ihm, den musikalischen Bannkreis in seiner Kunst zu beherrschen. Zwar, überall vergrübelt er sich in den Fragen des Materials. In Florenz mischt er für die Anghiarischlacht den gröbsten Stuck als Grundierung, zündet darunter ein Kohlenfeuer an, um ihn auszutrocknen, die Masse fängt zu schwitzen an, sein Werk zerfließt ihm unter den Händen, – aber da wendet er ihm rasch den Rücken und verläßt es.

Eine Madonna für einen Herrn vom Vatikan verdirbt er durch spitzfindige Untermalung, und als er für einen Auftrag des Leo Medici mit umständlicher Destillation aus Ölen und Kräutern zuerst den Firnis bereitet, sagt der heitere Papst: »O weh, du wirst nie etwas fertigbringen, du denkst ja ans Ende, bevor du begonnen hast!« So hat er die beiden Hauptwerke von Mailand fragmentarisch verlassen. Das Abendmahl begann schon zu seinen Zeiten infolge einer hartnäckig erklügelten Ölmischung in die Mauer zu verschwinden. Das riesige Denkmal, das in Ton jahrelang im Festungshofe stand, hat er nie gegossen, weil er auf den Bau von vier Öfen bestand, in denen er zuvor die Bronze schmelzen wollte; neue Kriege fielen dazwischen ein, dem Moro fehlte bald Geld, bald Interesse, und so blieb von diesem Werk, an dem er während sechzehn Jahren immer wieder beschäftigt war, nichts als ein zerfallendes Modell, das später betrunkene Schützen mit ihren Pfeilen zerstörten.

»Ohne gute Theorie,« schrieb er sich auf, »macht man nichts gut in den Zufällen der Malerei.« Lionardo der Techniker erlag als Künstler seiner Technik, aber es scheint, daß er gern unterlag, denn da er stets das Vollkommene vor sich sah, unterbrach er rasch den unvollkommenen Versuch. Auch die wenigen Bildnisse von seiner Hand, die wir vollendet nennen, bezeichnete er als unvollendet, als er sie verließ. »Der Wunsch hemmte das Werk«, sagte Petrarca.

Und doch hat er diese Kunst tiefer als alle anderen geliebt, und wenn er durch mehrere Seiten die Gründe aufgezählt hat, warum sie die erste aller Künste sei, schließt er mit dem stolzen Ausruf: »Wir, in unserer Kunst der Malerei, dürfen Enkelsöhne Gottes heißen!«

 

Ein einziger Gegner ist diesem kampflosen Leben erstanden. Während die Epoche voll war von artistischen Kämpfen der Städte, von Eifersüchten der Meister, von Ränken der Schulen, hat Lionardo seine Wettläufer nach dem Ruhme nicht einmal in den privaten Notizen kritisiert. Zeitlos und vaterlandlos, wie er war, erregten ihn die Kämpfe der Künstler nicht stärker als die Kämpfe der Herzogtümer und Republiken Italiens, die ihn nichts angingen, und in allem Streite der Sekten sieht man ihn wie einen vornehmen Fremden ruhig leben und wirken.

Nur einer hätte ihn zum Wettstreit reizen können, der große Antipode. Und wirklich rief die Signoria der Stadt, die beide aufzog, beide zugleich in die Schranken. Mehr als ein Zufall: es mag der Einfall eines Florentiner Ratsherrn gewesen sein, Michelangelo und Lionardo gleichzeitig zu berufen, um die beiden Wände des großen Ratssaales auszumalen. Zumindest hat es Lionardo so empfunden, auch wenn man einer banalen Künstlerlegende mißtraut, die sich an die Statue des David knüpft. Denn hier und nur hier, in der Anghiarischlacht, hat dieser Maler des schimmernden Geheimnisses, dieser Musiker der weltlich gefaßten Rhapsodie, dieser Sensualist größten Stiles sich in die Bewegung gestürzt: sichtlich, um mit dem Meister der Bewegung sich zu messen. Einen ungeheuren Knäuel von ringenden, reißenden, rufenden Menschen und Tieren, wütend, verbissen, verzerrt bis zum Wahnsinn, wälzte er hier durcheinander.

Doch während auf Michelangelos Wand die badenden Soldaten ihre nackten Glieder reckten, bekleidet Lionardo alle seine Kämpfer; dies schmelzende Fleisch, das er sonst malte, – so fühlte er – war nicht zum Kampf, war nur zur Lust geschaffen. Hatte jener auf der andern Wand alle Kunst in den Rhythmus der Glieder gesammelt, so legte dieser auf der seinigen alles in den Ausdruck der Menschen- und Pferdeköpfe. Einseitig auf ihrer Höhe stellten beide, der Körper- und der Seelenmaler, ihre Gestalten einander gegenüber. Beide Werke sind untergegangen, doch noch nach einem halben Jahrhundert war von Lionardos Werk genug zu sehn, daß es Cellini als »die Schule der ganzen Welt« pries, und die Zeichnungen des alten und des jungen Soldaten, mit ihren gellenden Gesichtern, stehen noch heut wie versteinerte Wächter vor diesem versunkenen Garten.

Auch als Bildner konnten sie sich vergleichen, doch auch diese Hauptwerke blieben unvollendet: Michelangelos Grabmal des Mediceers kam in Teilen, Lionardos Grabmal des Trivulzio nur in Skizzen auf die Nachwelt. Beide erfanden das gleiche Symbol der Herrschaft, beide ließen am Fuß ihrer Helden gefesselte Sklaven kauern. Nur in diesem einen schwermütigen Gedanken begegneten sich diese Meister, von denen einer eine tragische Menschenwelt, der andere ein lächelndes Götterreich in sich trug.

 

Denn dieses ist die Landschaft seiner Seele, und alles, was sein inneres Auge sah, die Träume, die er verdichtete: Lionardos magische Gestalten alle stammen aus jener Welt. In verdünnter Luft scheinen sie zu atmen, spielend in den Leidenschaften der Seele, zwischen Lust und Erkenntnis. »Die Kunst schafft das Scheinbild einer göttlichen Schönheit, deren natürliches Vorbild Zeit oder Tod kurzweg zerstört hat«, sagt sein Selbstgespräch.

Doch auch, was sein nie ruhender Forscherblick erfaßt hat, die Bilder der Realität, scheinbar nur treulich abgemalt, verwandeln nun ihre irdische Gestalt. Das Widerspiel des sehenden und des schauenden Auges, das Lionardo den Erfinder produktiv machte, begnadete ihn vollends in der Kunst, auf deren Höhepunkten es immer entscheidend wirkt. Denn trifft nicht diese Verwandlung des außen Gesehenen in ein innen Geschautes das Wesen der Kunst? Gibt es ein glücklicheres Zusammenspiel der Anlagen als ein Auge, das liebend und erfahren auf den Wesen der Natur zu ruhen, ihre immer neue Gliederung von einem Fall zum andern schärfer zu fassen und still aufzuzeichnen weiß, – und nun ein Menschenherz, durchströmt von seiner inneren, immer neuen Melodie, die jedes klar gefaßte Bild mit ihrer eigenen Tonfarbe überschleiert? Dann wird ein Abbild der Natur entstehen, wahr und phantastisch, demütig und stolz. Dann wird noch die absonderlichste Spiegelung der Natur das Stigma des Typus erkennen lassen und noch auf dem Bilde einer Blume Gottes Fingerdruck durch den Mittler sichtbar gemacht sein.

Lionardo zeichnet eine Steinsäge, einen Hebebaum, eine Maschine zum Erdausgraben, Skizzen reiner Mechanik, ohne Landschaft, ohne Himmel, ohne Menschen: aber ihr Holz und Eisen, ihr Stein, Draht und Mörtel scheinen nichts anderes als lebende Muskeln, pulsierende Adern, blühende Haut. Die Schatten einer Kanone rieseln mit solcher Musik an diesen kalten und mörderischen Kanten nieder, daß niemand, der die Madonnen dieses Meisters kennt, dieselbe Handschrift verkennen könnte.

Der blühende Zweig einer Eiche, eine Margueriten-Staude, verteilt und isoliert wie bei den gleichzeitigen Japanern, die er nie gesehen hat, wehen solche innere Wärme herüber, schwellen mit solcher hingehauchten Süße dem Betrachter zu wie Arme, Brüste, Lippen. Ein Gewandstück, skizzenhaft um einen Schenkel gelegt, dies kleine Blatt, nichts als ein paar Falten, strömt solche Beseelung, daß man danach das Antlitz der Frau zeichnen könnte, der der Schenkel gehört. Studien zur Anatomie, durch eingezeichnete Carreaus, durch aufgedruckte Systeme numerierter Winkel jeder Suggestion beraubt, Versuche zur Proportion ohne die mindeste ästhetische Absicht, blicken aus Abgründen der Seele empor und führen ihr geheimes Leben, ohne und gegen den Willen ihres Schöpfers. Kein Hauptwerk Lionardos führt den Beschauer seinem Organismus so nahe als das Studium dieser Studien, deren ungewollte Magie die Skizzen keines anderen Meisters erreichen.

Wie alles sich zum Ganzen webt, eins in dem andern wirkt und lebt! Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen und sich die goldenen Eimer reichen! Wie aus den Blättern die Gesichte strömen und bilden neue Harmonien miteinander! Da blickt der ältere Jacobus, für das Abendmahl gezeichnet, mit schönem Schrecken nieder auf ein in die Ecke klein gezeichnetes Schloß und scheint mit einem Mal ein Geist, ein großer Engel, der den schlafenden Bewohnern dieser Türme seinen Weckruf schickt. Neben einer flüchtigen Punktierung des Abendmahls hat der Zirkel des Mathematikers Kreise gezogen, mit denen Winkel kämpfen, und man weiß nicht, ob die Spiegelschrift unter dem Blatte dem Zauberer am Tische oder dem Zauber des Kreises gilt.

Zuweilen glaubt man, dieser Mensch lebte vom Gesetz der Kontraste und mußte untergehen, wenn er nicht eins mit dem andern zum inneren Ausgleich brächte. So erhebt sich aus jenem Widerspiel neben der Schönheit die Karikatur, nicht um grotesk zu wirken, nur um das Wunderliche durch Übertreibung unvergeßlicher zu machen. Was da an Nasen und Mündern, Wasserköpfen und Buckeln sich in Gesellschaft der schönsten Epheben tummelt, ist ein Teil des Gesehenen, doch zugleich ein Teil des Erschauten, und da es weder aus dem Spott noch aus dem Wahnsinn stammt, wirkt es, wie es empfangen war, nur als Betrachtung seltener Zufälle der Natur.

Alles, was alt ist auf Erden, nähert sich bei Lionardo diesen Karikaturen und blickt aus forschendem Auge zu dem Himmel ewiger Jugend hinüber, der seine innere Welt bevölkert. So hat er zwei Profile auf ein Blatt gesetzt, einzelne Studien, keine Gruppe, aber der Alte, mit seinen sieben harten Linien als Profil, scheint den berückenden Jüngling zu fragen: Weißt du, daß ich einst war wie du und daß du wirst wie ich?

Lionardos Greisenbildnis, gehalten neben dem schön gepflegten des Mannes, gibt die Antwort.

Neun Gemälde werden jetzt als die seinigen anerkannt; alle anderen sind ungewiß, und da weder das Wiener noch die beiden Bilder der Ambrosiana, weder die Madonna Litta noch die Leda seine volle Höhe erreichen, geht man gern mit den Resultaten der Forschung. Von den neun unzweifelhaft echten sind Hieronymus, Verkündigung und Madonna Bénois zweiten Ranges, und die Drei Könige sind nur angefangen. Es bleiben nicht mehr als fünf Bilder, die uns Lionardo als Maler vollendet darstellen: die Madonna in der Felsgrotte, das Abendmahl, die Gioconda, die Heilige Anna, der Johannes, dem vielleicht noch sein Bruder Bacchus als echtes Bild des Meisters anzugliedern wäre. Diese fünf oder sechs Bilder hat er alle spät gemalt. Felsgrotte und Abendmahl um die Vierzig, Gioconda und Anna nach Fünfzig, Bacchus und Johannes um oder nach Sechzig. Außer dem Abendmahl hat alle Meisterwerke Lionardos das Louvre.

Über allen diesen Menschenbildern strömt dieselbe Melodie. Aus derselben Landschaft, Johannes ausgenommen: aus dieser Traumlandschaft der grünlichen Seen und weißen Stromschnellen, umbuschter Inseln und magisch blauer Felsenklüfte, aus solchem, wie von unsichtbarem Nordlicht erhellten Nocturno ist jede Gruppe und Gestalt emporgehoben. Aber aufgewachsen sind sie nicht darin, ihre Schleierkleider vermöchten diese zarten, kampfesfremden Wesen gegen die Stürme nicht zu schützen, die in solchen Grotten schlafen. Nur die Symphonie des Traumes verbindet Mensch und Landschaft, sie verbindet auch Mensch und Mensch.

Denn alle sind sie sich ähnlich, sie scheinen Geschwister, und alle ähneln wieder gezeichneten Blättern, auch wenn das nicht Studienblätter sind. »Eine Figur ist nicht lobenswert, heißt es einmal in den Selbstgesprächen, die nicht mit irgendeiner Gebärde die Leidenschaft der Seele ausdrückt.« Am stärksten übt er diese Gebärdensprache im Abendmahl, seiner einzigen größeren Gruppe. Hier steigert ein dramatischer Augenblick den Ausdruck von dreizehn Menschen, aber eben diese Bewegtheit, auch die Abwesenheit der Frauen nimmt dem Werk die blühende Ruhe, die sonst des Meisters innersten Kern berührt. Dies Kompendium seelischer Ausdrücke ist durch seinen Vorwurf wie durch seine halbe Zerstörung der vollen Wirkung beraubt, und wie es in Lionardos Werken, auch in den verschollenen, ganz allein steht und höchstens mit der Anghiari-Schlacht verglichen werden könnte, so ist auch der Eindruck mehr ein stufenweiser, schwer zu umfassender.

Jene Leidenschaft der Seele, von der er zu sich selber spricht, gemeinsam allen seinen Gestalten, ist eine wissende. Es gibt bei Lionardo kein Leiden: Christus hat er als Magier gemalt, und warum er ihn im Abendmahl unvollendet ließ, begreift man stärker im Anblick einer matten, entgleitenden Zeichnung des Dornengekrönten in Venedig. Es gibt auch keine Unschuld bei ihm: ein gefallener Engel ist die Jungfrau der Felsgrotte, und wie wissend blickt nicht der andere Engel neben ihr zum Betrachter hinüber! Nicht die Heilige Anna noch ihre Tochter, nicht das Jesuskind, nicht einmal der Johannes des Abendmahles, von den andern ganz zu schweigen, haben Züge jener hohen Unschuld, die die umbrischen Maler besaßen und die sogar Raffael, wenn auch selten, gelang.

Aber darum sind Lionardos Gestalten doch nicht weltlich wie die Heiligen der Venezianer. Alle leben sie vielmehr dem Glanz und Scheine fern, sie leben im Geist. Aber alle kennen die Liebe, und diese ist die Leidenschaft der Seele, die aufzuzeigen ihr Schöpfer von sich fordert.

Es ist dieselbe Liebe, die Lionardos Männer und Frauen bewegt. Auf einem Blatt voller Profil-Skizzen von Mädchen und Jünglingen kann man einige Köpfe nicht mehr bestimmen; auf dem Abendmahl könnten des Johannes, Philippus, Matthäus Köpfe Mädchen angehören, aber der Engel in der Felsgrotte könnte ein Knabe sein. Bacchus und vor allem der Pariser Johannes sind reine Hermaphroditen. Erst wenn den Männern der Bart wächst, wie Jacob dem Älteren des Abendmahles, erst wenn die Fülle der Liebesnächte den Mund der Frauen tiefer in das Fleisch der Wangen drückte, trennen sich die Geschlechter, aber auch dann bleibt beiden dies schwellend süße Element gemeinsam, das aus den brauenlosen, langbewimperten, immer wissenden Augen, aus diesen immer leicht bebenden Lippen spricht.

Und doch ist, inmitten aller Sinnlichkeit, denselben Gestalten allen ein übersinnlicher Zug gemeinsam; es ist das Gramm Erkenntnis im Genusse, es ist die Trauer über erfüllte Träume: es ist der Zug berückender Schwermut, der die Wesen Lionardos von allen trennt und über alles sinnlich Gemalte, selbst über Correggios lustvolle Geschöpfe hebt. Sie wissen alle, was ihr Meister sich also aufschrieb: »Decipimur votis et tempore fallimur et mos deridet curas.«

 

Selten hat er den Mann in seiner Fülle, er hat fast nur den Jüngling und den Greis gemalt; nirgends tritt der Mannestypus bedeutsam hervor. Aber die Frau hat er auch in ihrer Reife geschildert, wohl, weil sie ihn erotisch nicht bewegte: vor allem als Gioconda, als Anna und in der Rötelzeichnung der Herzogin Isabella von Este, die zu seinen Unsterblichkeiten gehört.

Jene Gioconda, an der er vier Jahre gemalt haben soll, und diese Isabella, die er in einer Stunde gezeichnet haben mag, bedeuten die Pole, die einander fremdesten Frauen Lionardos, und eben weil selbst diese noch ein Zug unentrinnbarer Verwandtschaft verbindet, erkennt man den gemeinsamen Vater. Suggestiver, unheimlicher ist die Gioconda, zauberischer durch die Landschaft hinter ihren Locken, durch die ironisch süße Sprache ihrer beiden, fast en face genommenen Augen, durch die Lust ihrer liebesgewohnten Lippen, durch die ganze, still gelagerte Breite ihrer Lebensfülle.

Isabella, um ein Jahrzehnt jünger, mehr Rasse, weniger Persönlichkeit, in allem fester, verschlossener, erwartender, wendet uns nur die Seite zu, verachtet den unbekannten Zuschauer, dem jene zulächelte, vermag mit ihrem abgewandten Blicke, mit ihren kräftigen, nicht durchlebten Zügen zunächst weniger zu fesseln. Aber dieser fürstliche Hals, durch eine einzige Linie gefaßt, dieser metallene Haarsturz, der sie wahrhaft zu behelmen scheint, Klarheit dieses Blickes, Kühnheit dieser Wendung, – die ganze Freiheit ihrer herrlichen Gestalt sprechen von diesem Maler weniger aus als von dieser Epoche und lassen, vollendeter als die berühmtesten Frauenbilder jener Zeit, den großen Typus einer feurigen Herrin des Lebens in die Jahrhunderte leuchten.

Zwischen, vielleicht über beiden schwebt die Gestalt der Heiligen Anna. Der Gioconda verwandt, kaum älter, aber höher als diese, vereinigt sie in ihrem reifen Lächeln alles, was an Liebeszauber, an geistigem Abenteuer je gemalt wurde, und scheint mit ihrem Blick auf Tochter und Enkel aus dem Gedanken der Generationen mehr Erinnerung als Hoffnung zu schöpfen. Sie, die Gioconda, und Johannes, wie sie nun von den Wänden desselben hohen Saales einander anblicken, fassen am Ende alles zusammen, was der Magier in Menschenbilder senkte.

Hier, im Johannes, scheint er zuletzt noch einmal sich selbst zum Jüngling wieder zu beleben. Mit einem Mund, als wäre er der Gioconda ältester Sohn, mit Augen, als wolle er damit die Mutter verführen, mit Brust und Armen, die mehr einem Décolleté zugehören als einem männlichen Akte, wagt er's, den üppigen Finger nach oben zu erheben, und so verspricht er bacchische Seligkeiten dem, der sie schon hier unten pflückte, im Namen seines Meisters.

 

Der war ein Greis geworden, als er diesen letzten Jüngling malte. Auf dem alten Schlosse haust er nun, vom ältesten seiner Lieblinge und einem Diener betreut, er haust wie ein Zauberer. Zwar, er heißt Hofmaler des Königs von Frankreich, und dieser ehrt ihn brieflich als »notre très chier et bien aimé Léonard«, läßt sammeln, was von seiner Hand sich findet, und sucht vergebens sogar die Mauer mit dem Abendmahle nach Paris zu entführen.

Doch weltfern lebt der Meister. Zerwittert wie der hundertjährige Faust: so findet er sich im Spiegelbilde wieder, gelassen zeichnet er sich ab, doch er notiert: »O Zeit, Verzehrerin aller Dinge, neidisches Alter, das alles zerstört! Als Helena im Spiegel ihre schlaffen Runzeln entdeckte, weinte sie und dachte, warum habe ich zweimal zum Raube gedient!«

Zuletzt ist er am rechten Arm gelähmt, ganz wendet er sich wieder den Erfindungen zu. Zwischen Sezierungen und Präparaten, zwischen Retorten und Maschinen: so findet ihn ein spanischer Kardinal, und da er in den Manuskripten blättern darf, schreibt er: »Wenn dies einmal alles ans Licht kommen wird, welch ein Gewinn und welches Ergötzen!« Nun versucht sich der Alte, dicht vor dem Ziele, am Sammeln und Ordnen, auch bringt er ein paar Traktate zusammen, doch es ist zu spät: der immer wiederholte Versuch eines ganzen Lebens läßt sich am Schluß nicht rasch in Systeme bringen, die er immer verachtet hat. Als Greis wird man nicht mehr Magister, wenn man stets nur ein Lernender gewesen. Es ist zu spät, es ist wohl auch zu früh: denn unablässig baut und rechnet er; nun will er, nach seinen alten Ideen, den Fluß in seiner Nähe zum Kanal erziehen, er will das Land entsumpfen, dem Flusse neues Land abzugewinnen.

Da fühlt er die Kräfte schwinden, er teilt den Besitz an die Freunde, ordnet mit Würde alles an, und als er mit dem Frühling den Tod wittert, lautet das Selbstgespräch des sterbenden Magiers:

»Der Mensch, immer voll Festlichkeit den neuen Frühling erwartend und immer den neuen Sommer, klagt dennoch, die ersehnten Dinge zögerten im Kommen, und merkt nicht, wie er seine eigene Auflösung ersehnt. Doch eben dieser Wunsch ist die wahre Quintessenz der Elemente, die sich durch die Seele in den Leib eingeschlossen fühlen und immer zu ihrem Aussender zurückzugelangen hoffen. Aber ich will, daß du wissest: dieser selbige Wunsch ist auch der wahre Geist der Natur und der Mensch nur das Modell des Kosmos.«


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