Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Neunundvierzigstes Kapitel

Eines Abends aber tauchte am südlichen Horizont eine ungeheure dunkle Wolkenschicht auf, die, um sich greifend, alsbald ein finsteres Gewölbe bildete. Und der günstige Wind flaute ab; die Luft wurde mit einem Schlag frostig, und zwei große Albatrosse, die ersten von den Vögeln des finsteren Südens, erschienen. Im trüben Abendlicht, in der durchdringenden Feuchtigkeit der Luft, die sich wie ein kalter Mantel auf aller Schultern senkte, hatte es etwas Unheimliches, mit sinkender Nacht in das Ungewisse, von einem Wolkenschleier verhüllte Gebiet einzudringen, wo das Wetter seine bösesten Ueberraschungen in Bereitschaft zu halten pflegt.

Am andern Morgen bot das Deck der »Saône« ein gründlich verändertes Bild. Die Sonne beleuchtete es nicht mehr, statt der Strohhüte und fröhlichen weißen Leinenanzüge kamen die blauen verschossenen und abgetragenen, von Maden und Motten zerfressenen Wolljacken und die alten, über die Ohren herabgehenden Sturmmützen zum Vorschein. Bei den auf Deck Manövrierenden herrschte eine aufgeregte Geschäftigkeit. Starke, nagelneue Segel wurden heraufgeschleppt auf den Schultern der Leute, die eine wellenförmig bewegte Kette bildeten; Taue, gleichfalls neu, noch blond und nach Teer riechend, wurden aus dem untersten Schiffsraum gezogen. Die Matrosen spannten sich daran, setzten sich in Lauf und zogen sie als endlose Schlangen hinter sich her.

Alles geschah nach dem Ton der Pfeifen, die ihre grellen Triller durch die plötzlich rauh gewordene Luft ertönen ließen, eine scharfe Luft, die kräftigen Lungen ein Heilmittel, für die geschwächten Gift ist. Man rüstete sich zum Kampf gegen den Sturm und das Meer dieses bösen Himmelsstrichs.

In nächster Nahe umschwirrten zwei Albatrosse das Schiff. Es waren wohl die nämlichen wie am Tag zuvor, die sich anschicken mochten, jetzt wochenlang dem Kielwasser des Schiffs zu folgen. Ohne Unterlaß stießen sie ihr häßliches, krächzendes Geschrei aus, das dem Knirschen einer Wetterfahne oder eines eingerosteten Flaschenzugs ähnelt und dem Obermatrosen vom Achterdeck auf die Dauer derart auf die Nerven ging, daß er ihnen, die Pfeife zwischen den Zähnen, mit geballter Faust zurief: »Könnt ihr eure verdammten Angeln nicht ein wenig schmieren, ihr Schmierfinken da droben?«

Die Sache war die, daß sie ein Sterbelied zu krächzen schienen, diese beiden Albatrosse.

*

Der Wind steigerte sich, noch ehe die Vorkehrungen zu seiner Abwehr beendigt waren, zu gewaltiger Stärke. Vom zweiten Abend an ertönte die allgewaltige Stimme, das furchtbare Geheul der bösen Tage, die Luft schwirrte von Geräuschen, daß einem Hören und Sehen verging, die Wellen stellten sich mit hochgeschwollenen Riesenkämmen in Schlachtordnung. Die Matrosen hatten gefährliche Arbeit in den Wanten und auf den Rahen; die armen schwieligen Hände mit den kurzen harten Fingernägeln mühten sich knirschend an dem durchnäßten Stoff der Marssegel, die gerefft und festgemacht werden mußten, und alle Gesichter bräunten sich in Wind und Kälte.

In der festverschlossenen Sterbekammer, die sich in schweren Sprüngen hob und jäh senkte, lagen die beiden Schwerkranken in der Nacht darauf im Todeskampf.

Jean wurde von heftigem Fieber geschüttelt. Zwischen Anfällen wilden Deliriums und Schwächezuständen, wo der Atem kaum merklich war und der verlangsamte Herzschlag den Tod vorspiegelte, lebte er trotzdem weiter.

O der Brief! Der ungeschriebene Brief an seine Mutter! Er wurde zum Alp, der ihn drückte, zur Wahnvorstellung, die selbst im Fieber nicht wich und nicht im Schlaf und ihn namenlos quälte. In halber Bewußtlosigkeit glaubte er immer an sie zu schreiben, ein Blatt Papier auf seinem Bett zu sehen, eine Feder zwischen den Fingern zu haben, die Buchstaben formte, worin sein Elend und sein Abschiedsgruß zu lesen wären. Dann ward er, plötzlich auffahrend, inne, daß seine Hand schwer und hilflos zum Bett heraus hing, daß kein Briefblatt auf seiner Decke lag, und forderte in fürchterlicher Aufregung, den Wärter um Barmherzigkeit anflehend, Schreibmaterial.

Man beschwichtigte ihn wie ein kleines Kind.

»Gleich, gleich . . . in einer Viertelstunde wird das Fieber nachlassen, dann bringe ich Ihnen Tinte und Papier und Ihren Koffer!«

Die Krankenpfleger tauschten bedeutungsvolle Blicke aus . . . was sie ihm nicht sagen wollten, war, daß dieser Koffer bei einem besonders heftigen Stoß fortgekollert und aufgesprungen war, daß zugleich eine Sturzsee hereingespült hatte und daß seine sorgfältig gehüteten Schätze, Briefe, Photographieen und die armen Schulhefte, worin all seine Hoffnungen von ehedem eingesargt waren, in übelriechendem schmutzigem Salzwasser aufgeweicht, einen unentwirrbaren Klumpen bildeten.

Armes Kind! Zu sorgloser Jugendfreude, zu Lieben und Träumen, zur Gesundheit und zum Lachen geschaffen, blieb er bis zuletzt, was sein besonderer Reiz und auch sein Unheil gewesen war – ein Kindskopf . . . Und doch war er zu gewissen Stunden einer von denen, die den Abgrund sehen, denen das große Nichts all seine Schrecken enthüllt. Aber trotzdem empfing er den Tod wie ein Kind, verwundert, ungläubig, widerspenstig, voll brennender Sehnsucht, von der Mutter in Schlaf gewiegt zu werden. Zu ihr zog es ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, er machte sich's mit kindlicher Zärtlichkeit zum Vorwurf, sie ein wenig vergessen, ihr in den übermütigen Zeiten seines Lebens Schmerz bereitet zu haben . . . Ach! Die herzinnigen, thränenreichen Briefe, die er ihr zu schreiben glaubte . . .

Das Nachher, das Jenseits? Er glaubte nicht daran, er war darin, wie in so vielem andern, Matrose geworden. Atheisten sind sie freilich selten, die Seeleute; sie sagen ihre Gebete her, weihen der Madonna oder den Heiligen Kerzen, aber mit unreifem Mangel an Logik glauben sie bei alledem kaum je an die Fortdauer ihrer eigenen Seele. Auch Jean stammelte wirre Gebete, und sein unklares aber inbrünstiges Flehen ging dahin, nicht dem großen Wasser überlassen zu werden, nur noch ein wenig leben zu dürfen, um dann in einem gewissen Stübchen, das sehr sauber und geordnet war, in einer schmalen Bettstelle mit gehäkelter Decke zu sterben, neben sich ein liebes, sanftes, von grauen Scheiteln umrahmtes Gesicht. O mein Gott! Nur wenigstens auf dem Kirchhof in Brest, wo man ja bald, bald ankommen mußte, ein Grab erhalten, vor dem die Mutter knieen würde . . . Ja vielleicht . . . vielleicht würden seine Ersparnisse von der langen Fahrt ausreichen, seine Leiche in die Provence zu schaffen, auf einen Kirchhof der Heimat! . . .

Aber nein . . . er fühlte es wohl, das Leben entschlüpfte ihm zu schnell und sein Grab wurde die See . . . seine Augen wurden groß und starr bei der grauenvollen Vorstellung, daß er bald in einen Leinenschlauch gehüllt, den Weg antreten werde hinunter und immer tiefer hinunter in das große undurchdringliche Dunkel des Meeres . . .

Endlich begann der lange grausame Todeskampf, der aber fast nur körperlich, unbewußt war. Und am vierten Sturmtag, mitten im Toben des Unwetters, im Getöse an Bord und dem Brausen der Wellen trat der Tod ein. Die Matrosen, seine Brüder, merkten es fast nicht, denn das Uebermaß von Anstrengung und Gefahr machte, daß sie augenblicklich nur körperlich lebten.


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