Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Zweites Kapitel

Ein Junge von ungefähr zehn Jahren, keck, frisch und lebendig in jeder Bewegung, fast schon ein großer Junge, wenn auch die hübschen, schwarz eingerahmten Augen immer noch kindlich und kinderrein blickten, ging mit sicherem, festem Schritt am Strand von Antibes entlang. Drei oder vier gleichaltrige Kameraden folgten ihm, von denen einer am Fronleichnamsfest vor vier Jahren sein »Mitengel« gewesen war.

Mit wichtigthuender, sachkundiger Miene, als ob es gälte, Hilfe zu bringen, gingen sie auf eine gestrandete Tartane zu, die unbeweglich auf der Seite lag, mitten zwischen den kurzen blauen Rudern, die am Mittelmeere gebräuchlich sind, während halbnackte Fischer, mit bloßen Beinen im Wasser watend, ringsum ihrer Arbeit nachgingen.

Es war ein schöner Ostersonntag, Jean hatte heute früh seinen ersten richtigen »Männeranzug« erhalten und trug das hellbraune Filzhütchen mit Samtband nach Matrosenart tief im Nacken. Morgens hatte er in diesem festlichen Anzug die Mutter in die Kirche begleitet und die große Ostermesse gehört, jetzt war die heißersehnte Stunde gekommen, wo er daheim entwischen und sich herumtreiben konnte.

Abends kam er zum Essen heim, wie immer mit einiger Verspätung, und wie immer hatte er im alten Hafen und auf alten Booten Entdeckungszüge gemacht. Trotz aller Ermahnungen der Mutter sah der neue Anzug ziemlich mitgenommen aus, und das Filzhütchen saß schief auf den verwirrten Locken, weit aus der schweißbedeckten Stirn gerückt. Er wurde zwar gezankt, aber wie gewöhnlich nur gelinde, fast zaghaft.

Weil es ein Festtag war und man nach der Mahlzeit noch etwas spazieren gehen wollte, durfte er sich in den Sonntagskleidern zu Tisch setzen, und es wandelte ihn die Laune an, auch den breitkrämpigen Filzhut, der seines Herzens Freude war, aufzubehalten. Wie jeden Sonntag, war auch heute der alte Großvater bei seiner Tochter zu Gast, wie immer in schwarzem Rock und weißer Halsbinde, die Dürftigkeit seiner Verhältnisse mit feierlicher Würde bemäntelnd. Das Dämmerlicht des klaren, rosigen Frühlingshimmels beleuchtete den Familientisch, an dem die alte Miette, die seit vielen Jahren im Dienst des Hauses stand, die Speisen auftrug und abräumte.

Trotz seines steten Verlangens nach Freiheit und Bewegung hatte Jean die Mama und den alten Großvater sehr lieb, sie hatten in dem thörichten, zuweilen vergeßlichen und wandelbaren Kinderherzen ein etwas verstecktes, aber sicheres Plätzchen inne. Und gerade jetzt in diesem Augenblick setzte sich trotz des zerstreuten, geistesabwesenden Ausdrucks, womit er dasaß, trotz der bei ihm immer wirksamen Anziehungskraft der Außenwelt ein neues Bild der anvertrauten Gestalten in ihm fest, ein Bild, das deutlicher und schärfer war als alle früheren, und das bei ihm in Zukunft am meisten Schmerz und Liebe wachrufen sollte. Auch die Züge der treuen alten Seele, die ihn »aufziehen« und erziehen geholfen hatte, prägten sich heute seinem Bewußtsein ein, ebenso die Einzelheiten dieses Häuschens, worin er geboren und das in Aussehen, Einrichtung, ja Geruch so ganz und gar provençalisch war. Gewisse Stunden, die anscheinend nichts Besonderes bringen, noch an sich haben, die nicht mehr und nicht weniger bedeuten als andre, die unbemerkt vorübergehen, werden zu unvergeßlichen Merkzeichen, die späterhin mitten aus den fliehenden Wogen der Zeit emporragen. Eine solche war diese Essensstunde am Osterfest für dieses kleine Wesen, das noch so ganz Kind war und sicher noch nie so eindringlich, so unbewußt gründlich nachgedacht hatte. Dieses sich tief einprägende Bild zeigte ihm später alles wieder, von dem zärtlichen, sorgenden Blicke der Mutter, dem milden, ergebungsvollen Zug im Gesicht des alten Mannes, bis zu den Einzelheiten, die nach Menschenart seine Stimmung beeinflußt hatten: seinem neuen, männlichen Anzug, der Freiheit und unbekannte Weiten verhieß, der Farbe einer neuen Tapete im Speisezimmer und andrer bescheidener Verschönerungen der Wohnung, die ihn mit Stolz erfüllten, dem Vorgefühl einer schulfreien Woche. Ferner gesellte sich noch der Eindruck dazu, daß der Sommer kommen würde, der Reiz der ersten Mahlzeit ohne Lampe im durchsichtigen, frühlingsfrohen Dämmerschein, und noch vieles andre, was unsagbar und unbewußt diesen glücklichen Abend umschwebte. Die Bilder, die sich scharf wie mit der Radiernadel in sein Gedächtnis einschrieben, hätten in ihrer unzertrennlichen Verschmelzung als Momentaufnahme eines schönen Osterabends bezeichnet werden können.

Und dabei wurde der Mutter, die ihn sorglich beobachtete, immer bänger, denn sie hielt ihn für zerstreut, mit seinen Gedanken abwesend! Schon seit lange hatte sie einen festen Plan, der beinah zur fixen Idee wurde und der zum Ziel hatte, diesen einzigen Sohn an die Provence zu fesseln, um in seiner Nähe altern zu können. Ein Onkel Berny, der einzige von den reichen Verwandten, der dem hübschen kleinen Neffen Beachtung schenkte, war »Parfümist«, das heißt, er hatte im Gebirg eine Werkstatt, worin die ganze Rosen- und Geranienernte der Umgegend ausgesogen wurde, und er hatte davon gesprochen, Jeans Zukunft in die Hand zu nehmen, ihn vielleicht zu seinem Nachfolger zu machen, falls er sich willig und tüchtig zeigen würde.

Aber an diesem Osterabend wurde ihr das Herz schwer und schwerer. Hielt Jean doch sein Köpfchen unverwandt aufs offene Fenster gerichtet, durch das man den Hafen, die Segel und Wimpel und das weite blaue Meer blinken sah.


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