Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Fünfunddreißigstes Kapitel

»Früher, solang mein Vater noch im Dienst war,« erzählte sie ihm, »konnten wir viel besser leben als jetzt, Herr Jean . . . Sie wissen ja, wie's mit den Ruhegehalten bei der Marine ist! Drum geh' ich seit vorigem Jahr ins Nähen . . . Bin jetzt eben auch ein Nähmädchen und werde wahrscheinlich alt und grau werden als Schneiderin . . .«

Ganz langsam hatte sie den kühnen Satz gesprochen, der eine versteckte Frage enthielt nach den Zukunftsplänen, die ihr Begleiter für sie hegen mochte, dann wurde sie rot und harrte mit abgewendetem Gesicht der Antwort, die nicht kam . . .

Was dagegen kam, war der Regen, der ordentlich darauf versessen schien, ihre flüchtigen Plauderstündchen zu stören. Er prasselte plötzlich mit einem trommelnden Geräusch auf das junge Laub der Linden, daß es klang. Jean machte sich nichts daraus: er war ja gewöhnt, den blauen Kragen und bloßen Hals Wind und Wetter preiszugeben und unbekümmert und aufrecht einer Sintflut zu trotzen; Magdalene aber spannte hastig ihren Regenschirm auf, und nach dem Armutsgeständnis, das sie vorhin so anmutig abgelegt hatte, beobachtete er jetzt, mit welch ängstlicher Sorgfalt sie den bescheidenen Hut, immer den nämlichen, beschützte, und bemerkte auch, wie pünktlich und sauber die Handschuhe, auch immer die nämlichen, an allen Fingerspitzen geflickt waren . . . Eine Aufwallung des Mitleids, der Zärtlichkeit für ihr armseliges, sorgsam behütetes Eigentum überkam ihn, und dieses Gefühl war ein Merkmal des Wegs, den die kleine Schneiderin schon in seinem Gemüt zurückgelegt hatte, des Weges, auf dem sie sich den Tiefen näherte, wo die Eindrücke sich so tief eingraben, daß man sie später noch lange schmerzlich empfindet.

»Und ich,« gab er ihr in warmem, ehrlichem, frohgemutem Ton zurück, »meinen Sie denn etwa, ich sei reich, Fräulein Magdalene? . . . Früher, ja, vielleicht hätte man's so nennen können . . . wenigstens bin ich in einer Familie aufgewachsen, die sich nichts von dem Matrosen träumen ließ, der ich geworden bin . . . die aber jetzt . . .«

Und nun erzählte er endlich dieser kleinen Vertrauten, die ihm mit höchster Spannung zuhörte, von seiner glücklichen, sonnigen Kindheit, dann von den mißratenen Prüfungen, dem Entschluß, den blauen Kragen zu wählen, dem Verkauf des elterlichen Hauses in Antibes . . . von der Mutter, die jetzt verlassen in der Fremde wohnte, in dem düstern Haus in Brest.

An diesem Abend ging Magdalene von sanftem unendlichem Glücksgefühl durchdrungen nach Hause. Mit Freudigkeit hatte sie ihre romantischen Vorstellungen von der Vergangenheit des Geliebten über Bord geworfen – er war ihr ja jetzt so unendlich viel näher gerückt! Zum erstenmal tauchte die Möglichkeit vor ihr auf, die leuchtende Möglichkeit, seine Frau zu werden, das Zauberbild, ihn ganz an die Häuslichkeit gebunden zu sehen, an den Familientisch in irgend einer schönen Vorderstube eines ersten Stocks, deren Einrichtung die Tante Melanie seit Jahren für einen etwaigen Haushalt versprochen hatte . . . Damit verflogen auch alle Gewissensbisse, alle Beängstigungen, die der kleinen Puritanerin um dieser abendlichen Zusammenkünfte willen das Herz beschwert hatten – jetzt war ja alles anders, alles von berechtigter, ehrbarer Hoffnung verklärt . . .

Jean hatte, indem er seine Geschichte erzählte, wie immer einer unüberlegten Regung gehorcht, und der Gedanke an eine Heirat lag ihm so fern wie je, als er sich mit einem innigen Lächeln und den Worten von ihr trennte: »Ein Matrose und eine Arbeiterin . . . Sie sehen ja, Fräulein Magdalene, daß die einander wohl die Hand geben können!«

Und doch nahm ihn die zweck- und ziellose Anhänglichkeit an diesen seltsamen kleinen Kameraden, der so holdselig anzusehen war, immer mehr gefangen und wurde dabei immer mehr zu einem ruhigen, keuschen Gefühl, fast zu etwas Wesenlosem. Bei unbedingter Achtung und der Erkenntnis unübersteiglicher Schranken kommt es vor, daß die sinnliche Liebe im Hintergrund der seelischen wohl fortlebt und wächst, aber wie von schwerem Schlaf befangen ist, woraus freilich ein Nichts, eine Berührung, ein bedenklicher Gedanke, ein Aufblitzen der Hoffnung sie zu erwecken vermag.

So kam's, daß die beiden sich nach und nach mit gleicher Innigkeit und Reinheit liebten: Sie, in der Liebe noch unerfahren und nach wie vor jeden Abend in ihrer Bibel lesend, sie, dazu ersehen, noch ein paar solch blasse frostige Lenze hindurch vergebens frisch und jung zu sein, um dann in der einförmigen Abgeschlossenheit dieser nämlichen Gartenmauern und Gassen zu verblühen, zu welken und zu altern, er, schon abgestumpft durch Küsse und Umarmungen, er, dem die ganze Welt zum wechselnden Wohnort angewiesen war, der bald, vielleicht morgen schon abgerufen werden konnte, um nicht wiederzukehren und seinen Leib den fernen Meeren zum Raube zu lassen . . .


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