Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Vierzigstes Kapitel

Fast ein Jahr war Jean jetzt dort. Seine Haut war beinahe so gelblich geworden, als die der katzenartigen kleinen Leute um ihn her, und seine Muskelkraft hatte bedeutend nachgelassen.

Er hatte auch den Versuch gemacht, in den vielen Mußestunden an Bord der »Gyptis« seine Studien wieder aufzunehmen, allein die Tag und Nacht herrschende Dampfbadluft rief eine ganz eigenartige geistige wie körperliche Schlaffheit hervor, und er hatte stundenlang vor seinen Zahlen und Zeichen und Formeln gesessen, unfähig zu jeder Anstrengung, mit dem Gefühl einer ausgehöhlten Gehirnschale.

Und die armen alten Schulhefte, die mehr und mehr zwecklos wurden, angefüllt mit Dingen, die er immer weniger begriff, hatten nach und nach ein recht ältliches Ansehen gewonnen, sie waren halb vermodert vor Feuchtigkeit und bös mitgenommen durch die winzig kleinen, unzählbaren weißen Ameisen, deren Zerstörungswerkzeuge in diesem Land des Todes unendlich rascher arbeiten als anderwärts.

Aber eine große That war in diesem Stillleben doch verrichtet worden. Er war endlich geschrieben und abgeschickt worden, der Brief an Magdalene, der ihm so lange Alpdrücken gemacht hatte. In seinem von den tödlichen Einwirkungen dieses Himmelsstrichs schon berührten Kopf hatte ihr holdseliges Gesicht allmählich eine herrschende Stellung eingenommen! Einsamkeit und Heimweh hatten ihn dahin gebracht, ein Traumleben in Frankreich zu führen, und zwar mit ihr, und so hatte er schließlich alles andre von sich geschoben, war zu dem einzig möglichen Schluß gelangt, daß er sie heiraten müsse.

Die Zukunft würde dadurch allerdings schwieriger werden, die Rückkehr nach Antibes, die trotz aller Vergeßlichkeit und Nachlässigkeit Plan und Ziel seines Lebens blieb, beträchtlich erschwert, aber wenn »sie« dann einmal dort war in der sonnigen Provence, wer sollte dem hübschen, zierlichen, vornehm aussehenden Geschöpf an seinem Arm die einstige Schneiderin ansehen? . . .

Was ihn schon seit einiger Zeit im stillen beängstigte, war der Umstand, daß gerade diese Rückkehr, der höchste Traum von einem Wiedereinzug in Antibes mit Magdalene und der Mutter, statt ihm näherzurücken, immer weiter zu entfliehen schien, daß sein Luftschloß, das sonst in greifbarer Deutlichkeit vor ihm gestanden hatte, mehr und mehr vor seinen Augen verschwamm. Es war, als ob dieses feindselige Grün, dieser unaufhörlich strömende warme Regen, diese mit Wohlgerüchen übersättigte Luft, seine Sehnsucht und seinen Willen langsam, unendlich langsam erstickten, verlöschten, zum Absterben brächten . . . Und eines Tages hatte ihm namenlose Angst die Brust zugeschnürt, eine Angst, die schon etwas Krankhaftes an sich hatte, wie sie Verbannte und Blutarme am ehesten befällt. Es war ihm nämlich plötzlich eingefallen, daß Magdalene neunzehn Jahre alt war, daß sie sich seit zehn oder zwölf Monaten für verlassen und vergessen halten und ihre Hand einem andern versprechen konnte . . . Da hatte er nun mit fliegender Hast den Entschluß zur That gemacht, den er seit der Abreise wie eine Kette umhergeschleppt hatte, in fieberhafter Angst, das nächste Postschiff zu versäumen, hatte er an seine Mutter und an Magdalenes Vater geschrieben.

An die Mutter, um sie leidenschaftlich anzuflehen, daß sie selbst ihm zu Hilfe kommen und in aller Form für ihn um die kleine Braut werben möge . . .


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