Pierre Loti
Ein Seemann
Pierre Loti

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Achtundzwanzigstes Kapitel

Das Verhängnis unglücklich gefaßter Entschlüsse, unerfüllter Hoffnungen und fehlschlagender Pläne hörte nicht auf, den Lebensgang des jungen Seemanns zu verfolgen. So wurde es mit der Fahrt um die Welt nichts; die Mannschaft des »Navarin« wurde ohne ihn zusammengesetzt. Andre Seeleute auf der nämlichen Rangstufe wie er, an die man gar nicht gedacht hatte, waren inzwischen heimgekehrt und nach feststehenden Bestimmungen als erste auf die Einschiffungslisten gekommen, wovon kaum je einer freiwillig zurücktrat.

So brachte Jean den Winter bei seiner Mutter zu.

Sie konnten sich jetzt etwas mehr Behaglichkeit gönnen, da seine Obermatrosenlöhnung mit in den Haushalt floß. Für seine persönlichen Bedürfnisse gab Jean möglichst wenig aus, und die Mutter konnte an den Sonntagen, wo sie mit ihm ausging, fast wieder ganz als Dame erscheinen.

Er führte auch einige befreundete Blaukragen in ihre Häuslichkeit ein, wohlverstanden nicht gerade die wackeren Schiffer- oder Fischersöhne, mit denen er an Bord gute Kameradschaft hielt, sondern junge Leute aus guter Familie, die sich gleich ihm als Ausnahmen in die Flotte verirrt und auch als gesellschaftlich Ausgestoßene Anstand und Ehrbarkeit bewahrt hatten. Manchmal bat er sogar den einen oder andern zu Tisch, in das jetzt etwas besser ausgestattete bescheidene Eßzimmer, wo die schönen Vasen aus Antibes zum erstenmal seit der Verbannung wieder mit Blumen gefüllt wurden, und er trug dann große Sorge, daß bei der Mahlzeit alles hübsch und gut ausfallen, namentlich aber, daß die Mutter ganz als Dame des Hauses erscheinen sollte. Er lenkte dann wie alle die bessere Zeiten gekannt haben und ins Unglück gekommen sind, das Gespräch gerne auf ihre Vergangenheit, entschuldigte die Aermlichkeit ihrer jetzigen Einrichtung, indem er das alte liebe Haus in Antibes und das verkaufte Silberzeug mit einiger Ruhmredigkeit und Uebertreibung beschrieb.

Sein Liebling unter diesen Freunden war ein schwächlicher, schüchterner junger Mensch Namens Morel, der Sohn eines protestantischen Geistlichen aus dem mittleren Frankreich, den die Sehnsucht nach der ihm fremden See und den weiten Reisen zur Marine getrieben hatte, als Matrose übrigens von jämmerlicher Unbrauchbarkeit, deren er sich auch bewußt war, fortgesetzt der Sündenbock des gefürchteten Obermaats.

Aus reinem Mitleid hatte ihn Jean anfangs unter seinen Schutz genommen, nach und nach aber war er ihm sehr ans Herz gewachsen. Und Morel hatte mit höchstem Erstaunen bei diesem durch und durch seemännischen Beschützer große Herzens- und Geistesbildung wahrgenommen, Kenntnisse und Gedanken über Vergangenheit, Orient, Licht und Tod, noch großartiger, traumhafter und mystischer als seine eigenen . . . So hatten sie sich gegenseitig angezogen und gefesselt durch gemeinsame Züge wie durch die denkbar stärksten Gegensätze, diese beiden Menschen, die jeden Tag nach den entgegengesetzten Enden der Welt entsandt werden konnten, um sich nie wieder zu begegnen.

Morel hatte in derselben Straße, wo Jean wohnte, ein Matrosenkämmerchen um sechs Franken den Monat gemietet, wo er seine einzigen irdischen Besitztümer, seine Bücher, anhäufte und wohin er sich abends zurückzog, um zu lesen. In dieser Bücherei, die von erlesenem Geschmack gesammelt war, hatte Jean zuerst etwas hochmütig herumgeschnüffelt, und nur das Wenigste gelten lassen, und Morel hatte mit Belustigung zugesehen, wenn der gar nicht belesene Freund da und dort einen Band herausgezogen, eine Seite überflogen und mit einem unwiderruflichen »Nein, gefällt mir nicht« wieder zurückgestellt hatte.

»Aber warum nicht?« fragte der blasse sachkundige Besitzer lachend.

»Hm! Wie soll ich dir das erklären . . . es sagt mir eben nichts, das ist alles . . .«

Und jedesmal hatte Jean in gewissem Sinn recht gehabt; das von ihm verworfene Buch entbehrte, auch wenn es noch so geschickt und geistreich gemacht war, der Seele oder zeigte wenigstens nur eine kleinliche. Es war überhaupt nur eine ganz kleine Anzahl von Büchern, die sich auf der Höhe und im besonderen Bereich seines großen, unausgesprochenen, unbestimmten Traumes bewegten, dem selbst Gestalt irgend welcher Art zu geben, er unfähig gewesen wäre. Die Sittengeschichten des Tages, selbst die bedeutendsten darunter, fesselten ihn nicht, weil er in seiner Einfalt kein Verständnis hatte für die Irrungen und Wirrungen zeitgenössischen Lebens; wenn sie sich nicht an Kindereien vergnügte, schwebte seine Seele hoch darüber. So konnte er mit Genuß ein Kapitel der Apokalypse dreimal hintereinander lesen, oder Flauberts Versuchung des heiligen Antonius oder irgend eine düstere vorsündflutliche Vision von Rosny, sich aber dann mit Wonne bei dem tollsten Unsinn davon ausruhen.

Im ganzen hatte die Begegnung mit Morel einen unerwarteten Einfluß auf ihn geübt, seine Fähigkeit des Erfassens und Leidens vertieft und erweitert, denn noch nie hatte er so viel gelesen als mit ihm zusammen an den langen Winterabenden.

Von Zeit zu Zeit geschah es allerdings, daß irgend ein Liebesabenteuer ihn aus dem ehrbaren Lesewinkel lockte. Derartige Geheimnisse hütete er vor dem ernsthaften Morel, der ihn bei seiner Mutter glaubte, gerade so ängstlich als vor der Mutter selbst, die dienstliche Abhaltungen voraussetzte, und er suchte sein Ausbleiben nach beiden Seiten hin mit Schülerlügen zu erklären, mit Indianerlisten, die zuweilen Erfolg hatten.


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