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10.

Zwei Uhr morgens.

In der Nacht pflegte Gaud besonders aufmerksam auf etwa nahende Schritte zu horchen: bei dem leisesten Geräusch oder ungewohntem Ton hämmerte es ihr in den Schläfen; der ganze Kopf war schmerzhaft, waren doch die Nerven furchtbar überreizt.

Zwei Uhr morgens. Diese wie jede Nacht lag Gaud mit gefalteten Händen und offenen Augen da, blickte in die Finsternis hinein und hörte dem unaufhörlichen Heulen des Windes zu.

Plötzlich vernahm sie Schritte, eilige Mannesschritte auf dem Pfad. Gaud richtete sich im Bett auf und ihr Herz setzte vor Spannung seinen Schlag aus. Die Schritte kamen entschieden auf das Haus zu, die paar Stufen herauf bis zur Hausthür!

Er kam! O himmlische Seligkeit, er kam! Er hatte an die Thür geklopft – wer anders konnte das sein? So schwach auch Gaud seit ein paar Tagen war, sprang sie jetzt mit einem Satz aus dem Bett und lief mit bloßen Füßen zur Thür. Also war die »Leopoldine« in der Nacht in den Hafen von Pors-Even eingelaufen und Yann eilte zu ihr! Blitzschnell hatte sie sich das in ihren Gedanken zurecht gelegt, und jetzt rissen ihre kraftlosen Hände an dem Riegel, der so schwer ging.

Im nächsten Augenblick fuhr sie jedoch mit einem Wehelaut zurück, die arme Närrin, die solch tollen Glückstraum für möglich gehalten! Es war nur ihr Nachbar Fantec. Und jetzt, wo die Hoffnung so furchtbar getrogen, sank das Herz in einen Abgrund von Verzweiflung.

Der arme Fantec entschuldigte sich: es stand schlecht um seine kranke Frau, und jetzt war das kleine Kind in der Wiege auch noch krank geworden und kämpfte mit dem Ersticken. Da hatte er die Nachbarin um Hilfe bitten wollen, während er nach Paimpol zum Doktor lief.

Was machte ihr das aus? Der eigene Schmerz hatte ihr das Mitgefühl für die Leiden anderer geraubt. Ganz zusammen gesunken saß sie auf der Bank, blickte starren Auges vor sich hin, ohne ihm zu antworten oder ihn auch nur anzusehen. Was gingen sie die Sachen an, die der Mann da erzählte.

Fantec sing an zu begreifen, als er die bleiche Frau sich wie tot an die Mauer lehnen sah. Er begriff, warum ihm die Thür so schnell aufgemacht worden war, und nun er sah, was er unwissentlich angerichtet, empfand er tiefes Mitleid mit ihr. ES ist wahr, er hätte es bedenken müssen und sie nicht stören sollen, nicht gerade sie, stammelte er zu seiner Entschuldigung.

»Und warum gerade nicht ich?« entgegnete ihm Gaud.

Sie hatte sich plötzlich wieder aufgerafft, denn sie wollte in den Augen anderer durchaus nicht als eine Verzweifelte erscheinen, nein, durchaus nicht.

Jetzt empfand sie ihrerseits Mitleid mit dem armen Nachbar; sie zog sich rasch an und fand die Kraft, sich der kranken Frau und des Kindes anzunehmen.

Als sie nach zwei Stunden zurückkehrte und sich auf ihr Bett warf, schlief sie für eine kurze Weile, denn sie war aufs äußerste erschöpft. Der Augenblick unaussprechlicher Freude hatte jedoch einen starken Eindruck im Gehirn zurückgelassen und bald fuhr sie mit heftigem Ruck aus dem Schlafe auf, sie hatte unklar geträumt, irgend etwas von Yann gehört zu haben – was nur gleich? Und die verworrenen Gedanken klärten sich zu völligem Erwachen. Da ward ihr klar, daß sie nicht wirklich von Yann gehört, nur geglaubt hatte, er könne es sein. Nein, ach nein, es war nur der Nachbar Fantec gewesen. Und tiefer denn je versank sie in Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung.

Sie hatte sich ihm schon so nahe gefühlt, daß es ihr vorkam, als sei etwas von ihm ausgegangen, das frei und wesenlos um sie schwebte. Da man solche Gefühle in der Bretagne ein Vorzeichen nennt, spannte Gaud ihr Gehör an und horchte, ob sie nicht den Schritt eines Menschen vernähme, der ihr Nachrichten über Yann bringen werde.

Der frühe Morgen brachte ihr den Besuch ihres Schwiegervaters. Er nahm die Mütze von dem schönen weißen Haar, das lockig war, wie das seines Sohnes, und setzte sich zu Gaud ans Bett. Auch sein Herz war angsterfüllt, denn Yann, sein schöner Ältester, war sein Liebling, auf den er stolz war. Noch hatte er nicht alle Hoffnung aufgegeben und fing jetzt an, Gaud auf sehr liebevolle Art zu trösten. Die zuletzt aus Island Heimgekehrten hatten von so ungewöhnlich dichten Nebeln gesprochen, daß ein Schiff wohl dadurch aufgehalten werden konnte. Und dann war ihm auch der Gedanke gekommen, ob es sich nicht etwa noch auf den Faröerinseln aufhielte? Die wären ja am Weg, aber sehr, sehr weit, so daß Briefe von dort immer sehr lange brauchten. Ihm selber war das vor nun vierzig Jahren passiert; der Nebel hatte das Schiff gezwungen, Aufenthalt auf diesen fernen Inseln zu nehmen, und das dauerte so lang, daß ihn seine alte Mutter verloren gab und eine Seelenmesse für ihn lesen ließ ... Ein so schönes Schiff, die »Leopoldine,« ganz neu und mit so prächtiger Mannschaft ausgerüstet!

Die alte Großmutter strich um die beiden herum und schüttelte manchmal den Kopf. Der Jammer der jungen Frau hatte ihre Gedanken wieder viel klarer gemacht, so daß sie die Hausgeschäfte besorgte, während sie von Zeit zu Zeit auf Sylvesters Bild blickte. Nein, seit auch noch ihr Letzter umgekommen war, glaubte sie nicht mehr daran, daß Seeleute heimkehren! Zur heiligen Jungfrau betete sie nicht mehr so wie ehedem, nur noch aus Furcht, und sie grollte ihr im tiefsten Herzen.

Gaud hörte begierig auf die tröstlichen Reden des Vater Gaos; ihre schwarzgeränderten Augen blickten mit tiefer Zärtlichkeit auf den Greis, dem Yann so sehr glich. Die bloße Nähe seines guten Vaters kam ihr als eine Art von Schutz dagegen vor, daß Yann Unglück widerfahren könne; und sie fühlte sich wahrhaft aufgerichtet. Sanfte Thränen flossen über ihre Wangen, und ein flehentliches Gebet zur heiligen Schutzpatronin, dem Stern des Meeres, stieg aus ihrem Herzen auf.

Es war ja ganz gut möglich, daß das Schiff Beschädigungen erlitten hatte und auf den Faröerinseln Aufenthalt nehmen muhte. Gaud stand auf, kämmte und flocht ihr Haar und kleidete sich wieder sorgfältiger an, als erwartete sie Yann zurück. Da sein Vater noch nicht daran verzweifelte, war gewiß noch nicht alles verloren; so wollte auch sie die Hoffnung noch nicht aufgeben!

Aber auch der Spätherbst ging zu Ende; es ward zeitig Nacht in der alten Hütte. Das ganze Land schien sich überhaupt mehr und mehr in eine Art von Dämmerung zu hüllen, und es zogen so dichte schwarze Wollen am Himmel hin, daß es oft zur Mittagszeit plötzlich Nacht wurde; der Wind heulte beständig entweder in höhnendem Pfeifen oder brüllenden Tönen. Gaud wurde immer bleicher und ihre Kräfte schwanden zusehends; die ehedem schlanke Gestalt war gebeugt, als hätte sie das Alter vorzeitig mit seinem kahlen Flügel gestreift. Häufig nahm sie Yanns Sachen aus dem Schrank, legte seinen schönen Hochzeitsanzug so und so und wieder anders, als wüßte sie gar nicht, was sie thäte; besonders oft nahm sie eine seiner wollenen Jacken heraus, die noch die Form seines Körpers hatte; warf man sie leicht auf den Tisch, so zeichneten sich auf dem lockeren Gewebe ganz von selbst die Rundungen der Schultern und der Brust ab. Gaud legte diese Jacke endlich in ein Fach allein und beschloß, sie nicht mehr in die Hände zu nehmen, damit sie die Form der geliebten Gestalt ja recht lange behalten möchte!

Wenn gegen Abend die kalten Nebel von der Erde aufstiegen, sah sie durch ihr Fensterchen auf die traurige Gegend hinaus. Kleine weiße Rauchsäulen verrieten, wo eine Heimstätte lag – in alle diese Hütten waren die Männer zurückgekehrt; wie glücklich mußten sich da die Abende am Kaminfeuer verbringen lassen!

Gaud hoffte weiter, denn ihr Mut war an dem Gedanken neu aufgelebt, daß die »Leopoldine« etwa bei den fernen Inseln Aufenthalt genommen habe. An diese Möglichkeit klammerte sie sich mit allen Fasern ihres Herzens fest.


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