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In der ersten Hälfte des Juni sagten die Nachbarn der alten Yvonne bei ihrer Heimkehr, daß jemand vom Marinebureau dagewesen wäre und hätte sie sprechen wollen.
Gewiß betraf es ihren Enkel, flößte ihr aber durchaus kein Bangen ein. Angehörige von Seeleuten haben ja manchmal etwas auf dem Marinebureau zu thun; die alte Frau, welche Tochter, Weib, Mutter und Großmutter von Matrosen war, kannte dieses Bureau seit nun fast sechzig Jahren. Ohne Zweifel handelte es sich um eine kleine Differenz im Sold, da Sylvester als Seesoldat mit fort gemußt hatte und die er ihr nun überwies. Da Yvonne wohl wußte, welchen Respekt man der Obrigkeit schuldet, zog sie ihr Sonntagskleid an, setzte eine frische Haube auf und machte sich gegen zwei Uhr auf den Weg. Von einer leisen Unruhe getrieben, ging sie mit eiligen Schritten auf dem Pfad zwischen den Klippen dahin, war sie doch seit zwei Monaten ohne Nachricht von Sylvester geblieben.
Als sie nach Paimpol kam, saß ihr alter Freier richtig wieder vor seiner Thür. Er war sehr zusammengegangen seit letzten Winter, was ihn jedoch nicht hinderte, sie, wie jedesmal, anzureden: »Nun? sobald Ihr wollt; Ihr wißt ja, daß Ihr nur zu bestellen braucht, schöne Frau!« Sobald er sie zu sehen bekam, hatte er ja jedesmal weiter nichts im Sinn, als ihr das Anmessenlassen ihres Sarges zu empfehlen.
Ein schöner Sommertag fürwahr! Auf den steinigen Höhen kam zwar nichts als Ginster fort, aber auch dieser prangte in goldgelben Blüten, kam man aber hinunter an tiefer gelegene und vor dem Seewind geschützte Stellen, so stand alles in jungem Grün, die Heckenrosen blühten und dufteten, und es roch gut nach frischem Gras. Davon merkte die alte Frau jedoch nichts, die unter der Last so vieler flüchtiger Sommer gebeugt, vorwärts eilte. Vor den Häuschen mit zerbröckeltem Mauerwerk blühten Rosenstöcke, Nelken und Levkojen; selbst auf dem First der hohen bemoosten Strohdächer grünte es, und die ersten Schmetterlinge gaukelten um tausend kleine weiße Blümchen.
Hierzuland mußte der Frühling ohne Liebe vergehen, und wo man eine der hübschen Töchter dieses starken und stolzen Geschlechts, das hier wohnt, etwa an ihrer Thür lehnen sah, da konnte man bemerken, daß ihre Augen träumerisch blickten, wie in weite Fernen verloren. Waren doch die jungen Leute, denen ihre traurigen oder sehnsüchtigen Gedanken galten, allesamt auf den nordischen Meeren beim Fischfang.
Aber hier war es lachender Sommer mit weicher Luft, welche die alte Großmutter umschmeichelte, die unter frohem Schwirren der Insekten und Blumenduft dahin ging, um den Tod ihres Einzigen zu erfahren. Immer näher kam sie dem schrecklichen Augenblick, wo sie vernehmen sollte, was sich so himmelweit weg, auf dem chinesischen Meer zugetragen. Jetzt befand sich die gute alte Großmutter auf dem Weg, welchen Sylvester in seiner Todesstunde vorausgesehen, und ihre Angst hatte ihm die letzten Zähren ausgepreßt – war sie doch vorgefordert, um zu hören, daß er tot sei. Ganz genau hatte er sie gesehen in ihrem braunen Shawltuch, der weißen Haube, mit dem Regenschirm in der Hand, wie sie sich sputete auf dem steinigen Weg! Und diese Erscheinung bereitete ihm solchen Schmerz, daß er sich krümmte und wand im Todeskampf, während der riesige Feuerball der Tropensonne prachtvoll unterging und seine Strahlen durch die geöffnete Luke des Lazarettschiffes sandte, um ihn sterben zu sehen. Die qualvolle Vision hatte ihm die alte Großmutter im Regen gehend gezeigt, während sie in Wirklichkeit vom Sonnenschein umflutet war, der ihres kommenden Jammers zu höhnen schien.
Je näher sie ihrem Ziel kam, je bänglicher ward ihr zu Mut, und unbewußt beschleunigte sie ihren Schritt noch mehr. Nun war sie in dem altersgrauen Städtchen; ging durch dessen enge Gassen und nickte den alten Frauen zu, die sie im warmen Sonnenschein da und dort am Fenster sitzen sah. »Wohin hat sie es nur so eilig in ihren Sonntagskleidern am Werktag?« dachten sie und blickten ihr neugierig nach.
Der Herr Kommissar war nicht auf dem Marinebureau anwesend, und nur ein ganz junger, etwa fünfzehnjähriger Schreiber saß an seinem Pult, ein äußerst häßlicher, schwächlicher Mensch. Da er zum Fischer untauglich war, hatte er sich Schulkenntnisse sammeln müssen, um seine Tage damit zu verbringen, daß er auf seinen Schreibstuhl gebannt und mit Schreibärmeln angethan, hier von Früh bis zum Abend aufs Papier kritzelte.
Nachdem die alte Frau ihren Namen genannt, erhob sich der Schreiber mit wichtiger Miene, um abgestempelte Schriftstücke aus einem Fach zu nehmen. Es waren eine ganze Reihe – was bedeutete das? Zeugnisse, Papiere mit großen Siegeln, ein Seemannspaß, der vom Meerwasser gelb geworden war, und der wie die anderen Papiere einen Modergeruch ausströmte.
Langsam breitete er eins ums andere vor der armen Alten aus, die zu zittern begann und der alles vor den Augen verschwamm, hatte sie doch die zwei Briefe erkannt, welche Gaud für sie an ihren Enkel geschrieben, und die uneröffnet zurückgekommen waren ... Das hatte sie vor zwanzig Jahren beim Tod ihres Sohnes Pierre schon einmal erlebt – die Briefe waren damals aus China zurückgekommen und ihr durch den Herrn Kommissar zugestellt worden.
Der Schreiber begann jetzt mit gesuchter Wichtigkeit vorzulesen: »Moan, Jean Marie Sylvester, eingeschrieben zu Paimpol, Folio 213 unter Matrikelnummer 2091; sein Ableben erfolgte an Bord des »Bien-Hoa« am 14. des ...
»Was ist ihm passiert, mein guter Herr? Wovon lesen Sie da?«
»Von seinem Ableben – er ist verschieden,« erklärte der schwächliche Mensch.
Er war gewiß nicht boshaft, der kleine Schreiber, und wenn er der armen Frau das Schreckliche so unvermittelt mitteilte, so geschah es aus Mangel an Verstand und Urteilskraft bei diesem dürftigen Geschöpf. Da er sah, daß die Frau das schöne Wort nicht verstand, wiederholte er es ihr in bretonischem Dialekt: »Marw eo« (er ist tot).
»Marw eo!« sprach sie ihm in meckerndem Ton hohen Alters nach, so wie ein armseliges klangloses Echo ein ganz gleichgültiges Wort wiedergiebt.
Wohl hatte ihr die Bedeutung der zwei Worte aufzudämmern begonnen, nun sie aber vor der vollendeten Thatsache stand, schien es sie nicht zu rühren. Ihre Leidensfähigkeit hatte mit dem Alter wirklich abgenommen – der Schmerz stellte sich nicht mehr augenblicklich ein. In ihrem Kopf drehte es sich dergestalt, daß sie Sylvesters Ende mit dem Tod eines ihrer Söhne verwechselte, hatte sie sie doch alle hergeben müssen, einen um den andern. Sie brauchte einen Augenblick Zeit, um sich klar zu machen, daß es sich um ihr Letztes handelte, den heißgeliebten Enkel, um dessen Wohl sich alle ihre Gedanken drehten, deren Klarheit die düstere Periode des Kindischwerdens schon bedrohte.
Sie empfand Scham davor, dem kleinen Beamten ihre Verzweiflung sehen zu lassen; ihr graute fast vor ihm: teilt man denn einer Großmutter so den Tod ihres Enkels mit? Starr und steif blieb sie vor dem Kanzleitisch stehen und drehte die Fransen ihres braunen Shawls in den gefurchten Waschfrauenhänden hin und her.
Wie weit von zu Hause war sie doch weg; mein Gott, sie mußte ja den ganzen weiten Weg äußerlich ruhig und anständig noch einmal machen, ehe sie ihr armes Hüttlein erreichte, wo sie sich mit ihrem Kummer einschließen konnte, wie ein verwundetes Tier, das sich in sein Erdloch verkriecht, um darin zu sterben. Sie bemühte sich, nicht zu denken und noch gar nicht ordentlich zu begreifen, so sehr fürchtete sie sich vor dem weiten Heimweg.
Der Schreiber händigte ihr, als der Erbin, eine Anweisung auf dreißig Frank, den Erlös von Sylvesters Sachen, ein, darauf gab er ihr die Papiere und zuletzt die Kriegsmedaille. Linkisch nahm sie es mit Fingern, die sich gar nicht mehr schließen wollten, that es von einer Hand in die andere, denn sie vermochte ihre Taschen nicht zu finden.
Ohne nach rechts oder links zu schauen oder einen Menschen anzusehen, ging sie mit etwas vorgeneigtem Körper durch die Stadt, wie jemand, der jeden Augenblick zu fallen droht.
Gleichwohl eilte sie sich, strengte sich übermäßig an um fortzukommen, das Blut brauste ihr in den Ohren. Sie übernahm ihre Kräfte dergestalt, als wäre die arme abgenutzte Maschine ihres Körpers ein letztes Mal zu voller Geschwindigkeit aufgezogen, unbekümmert darum, ob die Federn springen.
Beim dritten Kilometer Weges ging sie ganz vornübergebeugt, völlig erschöpft; ihr Holzschuh stieß manchmal an einen Stein, was sie als heftigen Schmerz im Kopf verspürte. Nur noch ihre Hütte erreichen und sich darin vergraben können – ach, nur nicht hinfallen und von den Leuten heimgetragen werden!