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2.

Etwa vierzehn Tage später, als der Himmel beim Herannahen der Regenzeit düsterer, und die Hitze über diesem gelben Tongking drückender lag, wurde Sylvester, den man nach Hanoi zurücktransportiert, nach der Reede von d'Ha-Long, und dort auf ein Hospitalschiff gebracht, welches nach Frankreich zurückkehrte.

Er war auf einer Tragbahre von einer Ambulanz zur anderen getragen worden und man hatte ihn bei jeder zu ein paar Ruhetagen behalten. Was für ihn geschehen konnte, war gethan worden; unter diesen schlechten Verhältnissen hatte sich aber die Brust mit Wasser gefüllt, und die Luft ging immer noch gurgelnd durch das Loch ein und aus, das nicht zuheilen wollte.

Die Kriegsmedaille war ihm verliehen worden und Sylvester hatte sich einen Augenblick darüber gefreut; er war aber nicht mehr der Krieger von ehedem mit dem entschiedenen Auftreten, der klangvollen Stimme und knappen Ausdrucksweise – Schmerzen und Fieber hatten das alles wie weggeweht. Er war wieder zum Kind geworden und hatte Heimweh; sprach nie mehr, mußte er aber antworten, so klang die Stimme schwach zum Verlöschen. Ach, er fühlte sich so krank und war so weit, so entsetzlich weit fort – es dauerte so lange, bis er heimkommen konnte; würde er bei den immer mehr schwindenden Kräften auch nur noch so lange leben? ... Das Bewußtsein der ungeheuren Entfernung verfolgte ihn unablässig; es bedrückte ihn beim Erwachen, wenn nach Stunden tiefster Erschöpfung die furchtbaren Schmerzen in seinen Wunden die Oberhand gewannen, Fieberhitze ihn verzehrte und die Luft so unheimlich in die durchschossene Brust drang. Er hatte flehentlich darum gebeten, daß man ihn auf jede Gefahr hin einschiffen möchte.

Da Sylvesters Körper schwer war, ließ er sich schlecht in der Hängematte transportieren, und ohne daß es die Träger wollten, bereiteten sie doch dem hin und her geschüttelten Kranken große Schmerzen. An Bord wurde er in eins der kleinen eisernen Hospitalbetten gelegt, die in langer Reihe nebeneinander stehen. Nun machte er die Reise in umgekehrtem Sinn, nachdem er herwärts fast wie ein Vogel in der freien Luft im Mastkorb gelebt, empfand er die drückende Schwüle unten im Schiffsraum, den Geruch der Medikamente und Ausdünstung der Wunden erfüllte – Elend in sich und Elend um sich her!

Während der ersten Tage hatte das Gefühl, auf dem Heimweg zu sein, etwas Besserung zuwege gebracht; von Kissen gestützt, vermochte er im Bett zu sitzen, und verlangte zuweilen nach »seiner Kiste, dem in Paimpol gekauften weißen Holzkistchen, das seine kleinen Schätze barg: die Briefe der Großmutter Ivonne, neben denen von Gaud und Yann; weiter fand sich ein Heft, in welches er die Lieder eingeschrieben hatte, die er von den Matrosen an Bord gehört, und ein Buch des Konfucius in chinesischer Sprache, das er bei einer Plünderung an sich genommen; auf die weiße Rückseite der Blätter hatte er seine Erlebnisse während des Feldzugs in schlichter Weise niedergeschrieben.

Der Monat Mai brachte Sylvester keine Besserung, und schon in der ersten Woche hielten die Ärzte den Tod für unvermeidlich.

Man befand sich jetzt in der Nähe des Äquators, in der schrecklichen Hitze und der Region der Gewitterstürme. Der Transportdampfer verfolgte seinen Weg durch die wildbewegte See und schüttelte die Betten mit den Verwundeten und Kranken unbarmherzig. Seit man d'Ha-Long verlassen hatte, war schon mehr als einer gestorben und auf dieser großen Straße nach Frankreich in die Tiefe gesenkt worden, daher standen eine Anzahl der kleinen Betten leer – die Insassen waren von ihrem Elend erlöst.

An diesem Tag war es sehr dunkel im Krankenraum, weil man der Wogen halber die Eisenluken der Stückpforten hatte schließen müssen, was die Atmosphäre noch erstickender machte.

Mit Sylvester ging es schlecht – das Ende war da. Er lag immer auf der durchschossenen Seite und drückte sie mit der wenigen Kraft, die noch in seinen beiden Händen war, zusammen, um die schreckliche Flüssigkeit drinnen auf der einen Seite zu halten, damit er wenigstens mit der einen Lunge atmen konnte. Diese war jedoch auch angegangen; der Todeskampf trat ein.

Visionen aller Art ängstigten den wandernden Geist des Sterbenden; gräßliche Gesichter und geliebte Gestalten sah er in dem schwülen Halbdunkel auftauchen und sich über ihn neigen, und der traumhafte Zustand führte ihn bald in die Bretagne, bald nach Island.

Am Morgen hatte er den Priester rufen lassen; einen Greis, der viele, viele Matrosen in ihrer letzten Stunde getröstet; hier aber trat ihm entgegen, was er noch kaum gesehen: in mannhaftem Körper eine kinderreine Seele.

Sylvester verlangte Luft – ach Luft – es gab aber nirgends welche, und die Windfächer vermochten keine Luft mehr zu erzeugen; der Krankenwärter fächelte mit einem buntbemalten chinesischen Fächer beständig über ihm, damit konnte er ihm aber nur die schreckliche Stickluft zuwedeln, die hundertmal schon ein- und wieder ausgeatmet war und welche die Lunge nicht mehr aufzunehmen vermochte.

Manchmal packte ihn eine wahnsinnige Angst, in welcher er aus seinem Bett wollte, an dem doch bereits der Tod saß, o er mußte hinauf aufs Deck, um sich dort neuen Lebensodem zu holen! Ach, die glücklichen Kameraden in den Wandtauen und Masten! Aber all seine Anstrengung führte zu nicht mehr als einer geringen Lageveränderung des Kopfes, den unvollkommenen Bewegungen ähnlich, die man bei geträumter großer Anstrengung im Schlafe macht. Nein, er konnte nicht mehr und sank zurück in das zerlegene unordentliche Bett, wo er das Ende immer näher kommen fühlte, und nach solch ungeheurer Anstrengung verlor er jedesmal für einen Augenblick das Bewußtsein.

Um ihm zu willfahren, öffnete man endlich eine Luke, obgleich es ein gefährliches Beginnen war bei der unruhigen See; es kam aber keine Luft, sondern nur ein blendend rotes Licht herein. Es war gegen sechs Uhr und die untergehende Sonne zeigte sich durch zerrissene Wolken in ihrer ganzen Pracht am Horizont; ihr greller Schein zitterte bei dem Schlingern des Schiffes im Krankensaal, wie eine unstet getragene Fackel.

Luft? ach nein, es kann keine herein, denn das bißchen, das es draußen gab, vermochte nicht hier einzudringen und die Fieberdünste zu verscheuchen. Auf der unendlichen Fläche des Tropenmeeres gab es ja nichts als eine schwüle Feuchtigkeit, schwer und unbrauchbar zum Einatmen. Nirgends ein Luftzug, nicht einmal für die Sterbenden, die danach lechzten.

... Eine letzte Vision ängstigte Sylvester unsäglich: seine alte Großmutter kam mit dem Ausdruck herzzerreißender Angst unter niedrig gehenden schwarzen Wolken und heftigem Regen auf dem Weg nach Paimpol daher; sie war aufs Marinebureau gefordert, wo ihr die Eröffnung gemacht werden sollte, daß er tot sei.

Er quälte sich im Todeskampf und das Röcheln trat ein. Der Wärter wischte mit einem Schwamm das Wasser und Blut weg, welches in Strömen aus der Brust aufstieg und ihn zu ersticken drohte. Und die Sonne leuchtete immer fort, als wollte sie am Abendhimmel einen Weltbrand entfachen; eine Feuergarbe schoß durch die offene Luke und sandte ein paar Strahlen auf Sylvesters Bett, dessen Haupt sie mit einem Glorienschein umgab.

... Zur selben Zeit schien die Sonne auch in der Bretagne; Wohl war es die gleiche Sonne, nur sah sie ganz anders aus: sie stand hoch am blauen Himmel und schien mit weißlichem Schein auf die Großmutter Ivonne, die nähend auf ihrer Thürschwelle saß, und eben das Mittagsläuten vernahm.

Auch in Island erschien die Sonne zu Sylvesters Todesstunde, aber dort war es Morgen. Mit bleichem Schein ruhte ihr trauriges Licht auf dem Fjord, wo sich die »Marie« eben aufhielt; der Himmel war diesmal von jener Reinheit, wie sie in den nordischen Meeren vorkommt, welche den Gedanken an erkaltete Planeten erwecken, die keine Atmosphäre mehr haben. Mit eisiger Genauigkeit zeigte sie die Einzelheiten der Steinwüste, die Island heißt: von der »Marie« aus gesehen, schien die ganze Insel wie auf einer Stelle festgebannt, aufrecht dazustehen. In eigentümlicher Beleuchtung stand Yann und fischte wie gewöhnlich in diesem mondscheinähnlichen Licht.

... In dem Augenblick, wo die Feuergarbe, die durch die Luke eingedrungen war, langsam verblich und die Tropensonne in dem goldigscheinenden Meer verschwand, brachen die Augen des Sterbenden; sie drehten sich so gewaltsam aufwärts, als wollten sie im Kopfe verschwinden. Darauf zog man die Augenlider mit den langen Wimpern herab; die durch die Krankheit bewirkte Veränderung verschwand und Sylvesters Schönheit erschien allmählich wieder. So lag er in feierlicher Ruhe da, wie eine schlafende Marmorstatue.


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