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53.

Der Donnerstag, der dreißigste November, war pünktlich und ohne Gnade eingetroffen; ein sehr gleichgültiger Tag für die Mehrzahl der Menschen aller Klassen, die in Konstantinopel ihr Wesen treiben; aber für André Lhéry und für Djenane ein sehr wichtiger Tag, der für ihr ganzes Leben entscheidend sein konnte.

Beim Morgengrauen erwachten beide fast zur selben Zeit, unter demselben Himmel und in derselben Stadt, – wenigstens noch für einige Stunden. Beide hatten alsbald das Wetter geprüft, das zu ihrem Bedauern kalt, stürmisch und regnerisch war.

André hätte es schon deshalb heiter und sonnig gewünscht, weil er noch einen allerletzten Besuch Stambuls beabsichtigt hatte, was er nun zu unterlassen genötigt war.

Djenane ihrerseits befürchtete, daß diese Witterung es ihr unmöglich machen würde, André bei seiner Abfahrt noch zu begrüßen. Welchen Vorwand sollte sie erfinden für eine Promenade, während es regnete? ... Und wie konnte sie sich der doppelten Spionage der schwarzen Eunuchen und ihrer eigenen Dienerinnen entziehen?

Auch Zeyneb, die Djenane auf ihrer Fahrt nach dem Kai in Galata begleiten sollte, war besorgt wegen der Ausführung dieses Planes bei so ungünstiger Witterung.

André beruhigte sich bald über die Störung, und auch die Abreise an sich erregte ihn nur noch in geringem Maße. Er hatte sich die Sache eigentlich schmerzlicher gedacht. Mit Ueberraschung gewahrte er in seinem Innern schon eine Art Loslösung aus den hiesigen Verhältnissen, bevor er abgereist war. Mit Bezug auf Djenane sagte er sich:

»Ein kurzer Abbruch war das beste; wenn ich erst fern sein werde, wird sie sich rasch beruhigen, und schließlich wird sich für sie alles ausgleichen unter den Liebkosungen ihres Hamdi!«

Um zwei Uhr verließ er das Hotel, in dem er während der letzten Tage gewohnt hatte. Nachdem er noch durch einen langen Blick von Stambul und Eyub Abschied genommen, machte er sich auf den Weg nach Galata.

Um vier Uhr begann es zu dunkeln; es war dies die planmäßige Abfahrtszeit des Dampfers, und auch die Zeit, zu welcher Djenane ihr Kommen in Aussicht gestellt hatte. – Nachdem André eine Kabine ausgewählt und sein Gepäck untergebracht hatte, nahm er seinen Platz auf dem Deck ein, von wo aus er die ganze Straße übersehen konnte, durch welche der Wagen mit den beiden Freundinnen kommen mußte. Er wurde aber sogleich von den liebenswürdigen Mitgliedern der verschiedenen Botschaften, unter denen sich auch der ganz melancholisch dreinschauende Jean Renaud befand, und vielen anderen Freunden umringt, die gekommen waren, Abschied von ihm zu nehmen. So dankbar er auch allen die ihm dargereichten Hände drückte, so fürchtete er doch, dadurch verhindert zu werden, die Annäherung des erwarteten Wagens zu bemerken. Der Kai und die dahin führenden Straßen waren ohnehin von einer solchen Menge schreiender, tobender Menschen so überfüllt – wie dies jedesmal bei der Abfahrt oder der Ankunft der Paketboote üblich ist, – daß eine Uebersicht sehr schwer wurde.

Das zweite Glockenzeichen zur Abfahrt nötigte alle, die nicht mitreisten, das Schiff zu verlassen, so daß André nicht weiter in seiner Beobachtung der Straßen behindert wurde; aber leider zeigte sich noch immer nicht das sehnsüchtig Erwartete.

Doch halt! dort hinten; das muß es sein! Ein ganz gewöhnlicher Mietswagen, wie sie es ja gesagt hatte, – drängte sich mühsam durch die Menschenmenge hindurch; das Wagenfenster war herabgelassen, und im Innern bemerkte man zwei schwarzverschleierte Frauen. Als der Wagen in langsamer Fahrt dicht am Kai vorüberfuhr, erhob eine der beiden Frauen plötzlich ihren Schleier: – »Djenane!« sagte sich André höchst überrascht. Djenane, die von ihm gesehen sein wollte, die ihn eine Sekunde lang mit einem so schmerzlichen Ausdruck anblickte, daß der davon Getroffene ihn nimmermehr vergessen konnte!

Ihre Augen glänzten in Tränen; aber schon war nichts mehr davon zu sehen; der Schleier fiel herab, und André sagte sich, daß dies die wirkliche, die ewige Trennung bedeute, ebenso, als wenn man ein geliebtes Gesicht durch den Sargdeckel verdeckt.

Sie hatte sich nicht zum Wagenfenster herausgelehnt, ihm keinen Abschiedsgruß zugewinkt, kein Zeichen gegeben, nichts als diesen einzigen Blick, – der übrigens genügte, um eine türkische Frau in die größte Gefahr zu bringen.

Aber dieser Blick war tiefer in Andrés Herz gedrungen als alle Worte und alle Briefe! Diese Gruppe von Freunden, die ihm vom Kai aus noch Abschiedsgrüße zugerufen und zugewinkt, waren für ihn nicht mehr vorhanden; er sah nur immer dem Wagen nach, der langsam durch die Menge weiterfuhr. Und seine Augen wurden allmählich wie umnebelt: es schwankte alles vor ihm. Was war das? Träumte er? ... Der Wagen, der ganz langsam fortfuhr, schien sich in rasender Schnelligkeit zu entfernen, und zwar in entgegengesetzter Richtung als die Pferde! ... Nein, der Wagen ging jetzt in die Breite, wie ein Bild, das man fortträgt, ... und alles andere machte es ebenso: die Menschen, die Häuser, die ganze Stadt ...!

Ach! das Paketboot war abgefahren! ... ohne Geräusch, ohne eine Erschütterung, ohne daß man eine Umdrehung der Schraube vernommen hätte.

Da seine Gedanken anderweitig in Anspruch genommen waren, hatte er darauf nicht geachtet. Das große Paketboot, von Schleppdampfern gezogen, entfernte sich vom Kai, ohne daß man eine Bewegung spürte; man sollte meinen, daß der Kai sich entfernte, immer schneller, mit allem, was sich darauf befand. Der Lärm der Menge schwindet, man unterscheidet nicht mehr die Hände, die ein Lebewohl nachwinken, und sieht auch nicht mehr den weiterfahrenden Wagen unter den Tausenden von roten Punkten, von denen jeder einen türkischen Fes bezeichnet.

Ungeachtet der beginnenden Abenddämmerung war bisher Stambul noch deutlich zu sehen gewesen, jetzt verschwand es aber allmählich im Nebel. André richtete jedoch seine Blicke immerfort darauf, solange noch ein Schatten davon zu erkennen war.

*

Bei sinkender Nacht in der Marmara. André, der fortwährend nachsann, sagte sich: »Zu dieser Stunde werden sie bei sich zu Hause angekommen sein!« Und er stellte sich in seinen Gedanken ihre Rückkehr vor, sodann ihren Eintritt ins Haus, unter den forschenden, mißtrauischen Blicken, endlich ihre Einsperrung und ihre trostlose Einsamkeit an diesem Abend! ...

Man befand sich noch ganz in der Nähe des türkischen Landes: der eben aufflammende nur wenig entfernte Leuchtturm ist der von der »Spitze des Serails«, er durchleuchtet die Finsternis des Meeres.

Aber André hatte die Empfindung, schon unendlich weit zu sein; die Abfahrt hatte wie mit einem Beilhieb die Fäden zerschnitten, die sein türkisches Leben mit der Gegenwart verbanden, und jene Zeit – in Wirklichkeit so nahe, aber doch durch nichts mehr verbunden und zurückgehalten – löst sich völlig los, fällt und sinkt plötzlich in den Abgrund, wo sich alle Dinge in nichts auflösen.


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