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Der Monat Mai war vorübergegangen, ohne daß Djenane zurückgekommen oder auch nur geschrieben hätte, wann sie kommen werde. Am 1. Juni sagte sich André, der sich wieder in seiner vorjährigen Wohnung in Therapia befand, als er bei wunderschönem Sonnenschein erwachte, wie schnell doch die Zeit verginge; jetzt blieben ihm kaum noch fünf Monate. Der Gedanke des Scheidens quälte ihn jetzt unaufhörlich.
Seine Stimmung besserte sich jedoch jedesmal, sobald er hinaustrat in Gottes freie Natur. Dann vergaß er zeitweise seine quälenden Gedanken an die Zukunft und überließ sich völlig dem Genuß der Schönheiten, welche die Gegenwart ihm in so überreichlicher Fülle darbot.
Sein erster Ausflug führte ihn nach der »Ebene des Großherrn«, wo er im vergangenen Jahre eine köstliche Stunde verlebt hatte. Leider fehlte ihm jetzt die angenehme Gesellschaft, in der er sich damals befand; deshalb hielt er sich auch nicht allzulange dort auf.
Am folgenden Tage beschäftigte ihn sein neuer Caique. Man hatte ihn benachrichtigt, daß das Boot, ganz frisch vergoldet, von Stambul angelangt sei und unter seinen Fenstern angelegt habe, und daß die Ruderer wünschten, ihre neuen Livreen zu probieren. – Für seinen letzten Sommer im Orient wollte er in einem glänzend ausgestatteten Fahrzeuge an den Freitagen bei den Spazierfahrten nach den »Süßen Wassern« erscheinen. Er hatte sich zu diesem Zweck eine ganz orientalische Zusammenstellung der Farben ausgedacht: die Westen der Ruderer und der lange, schleppende Teppich waren von kapuzinerfarbenem Samt und mit Goldstickerei versehen; der auf dem Teppich nach türkischer Manier sitzende Diener trug eine Kleidung in Himmmelblau mit Silber. Nachdem die Bootsmannschaft ihre neuen Kostüme angelegt hatte, ging André hinunter, um sich von der Wirkung der Farben auf dem Wasser zu überzeugen. Er war zufrieden und streckte sich dann im Caique aus, um zunächst eine Probefahrt bis zur asiatischen Spitze zu machen. Die Fahrt gelang zu seiner großen Freude vollkommen.
Am Abend desselben Tages erhielt er einen Brief von Zeyneb, die ihm ein Stelldichein für den nächsten Tag der »Süßen Wasser« erteilte, nur um im Caique miteinander zu kreuzen. Sie schrieb ferner, daß alles immer gefahrvoller werde; die Überwachung sei verdoppelt; man habe ihnen auch verboten, in der schlanken Barke, die sie sonst selbst ruderten, längs der Küste spazieren zu fahren.
Uebrigens aber lag in Zeynebs Klagen nie eine Bitterkeit. Sie verweilte gern bei dem Gedanken an ihren baldigen Tod. – In einer Nachschrift erzählte sie noch, daß der arme alte Mevlut {ein Eunuche aus Aethiopien} »sich habe sterben lassen«, in seinem 83. Lebensjahre; und daß dies ein wahres Unglück sei, denn er liebte sie, da er sie erzogen hatte, und er würde sie nie verraten haben, weder für Silber noch für Gold. Auch sie hatten ihn geliebt; er war sozusagen ein Mitglied der Familie.
»Wir haben ihn gepflegt,« schrieb sie, »gepflegt wie einen Großvater!«
Aber dieses letzte Wort war nachher durchstrichen, und an dessen Stelle las man oben darüber, von Méleks Hand geschrieben: »Großonkel!«
*
Am darauffolgenden Freitag fuhr André dann zum erstenmal in der Saison nach den »Süßen Wassern« in seinem Caique. Er kreuzte wiederholentlich mit den beiden Freundinnen, die ebenfalls die Farben der Rudererlivreen von Blau in Grün mit Gold geändert hatten. Die Schwestern waren in schwarzen Tcharchafs, die Schleier halbdurchsichtig, aber über das Gesicht herabgezogen.
Andere schöne Damen, ebenfalls schwarzverschleiert, wendeten den Kopf, um ihn anzusehen; ... Damen, die in halbliegender Stellung auf dem Wasser vorüberfuhren, das heute von rätselhaften Besucherinnen überfüllt war – alle diese Unsichtbaren beschäftigten sich mit ihm, vielleicht, weil sie seine Bücher gelesen hatten, oder weil er ihnen von anderen gezeigt worden war. Wer konnte wissen, ob er nicht bei Gelegenheit der abenteuerlichen Besuche bei den drei Freundinnen mit einigen unter ihnen im vergangenen Herbst gesprochen hatte, ohne ihr Gesicht zu sehen?
Er fing hier und da einen aufmerksamen Blick auf, oder ein freundliches Lächeln, das unter der schwarzen Gaze kaum zu bemerken war. Auch spendeten sie augenscheinlich alle der von ihm ersonnenen Farbenzusammenstellung Beifall. Das Caique glitt mit seinem Glanz von Kapuzinerrot und Hortensiablau über das grüne Wasser, zwischen grünen Wiesen und dem dunklen Grün der Bäume, dahin.
Alle erstaunten über diesen Europäer, der sich als echter Orientale entpuppte! ...
Und er, der zuweilen recht kindisch sein konnte, freute sich darüber, die Aufmerksamkeit der hübschen Unerkennbaren erregt und vielleicht im geheimen ihre Gedanken durch seine Bücher beherrscht zu haben, die gerade in diesem Jahre in den Harems viel gelesen wurden.
André ließ sein Caique am Fuße der Anhöhen anlegen, die von den Zuschauern und Zuschauerinnen des Wasserkorsos besetzt waren; er stieg ans Ufer, um unter den schattigen Bäumen ein Nargileh zu rauchen und von der Höhe aus das bewegte Leben auf dem Wasser zu betrachten. In diesem Augenblick überließ er sich völlig den jugendlichsten Illusionen; alle quälenden Gedanken hatte er vergessen.