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Am Donnerstag, 14. April, lange vor der festgesetzten Stunde, nahmen André Lhéry und Jean Renaud vor dem kleinen Kaffeehause Platz, das sie ohne Mühe gefunden hatten, am Meeresrande auf der asiatischen Seite, eine Stunde von Konstantinopel, zwischen den von der geheimnisvollen Zahide bezeichneten beiden Dörfern. Es war dies einer der wenigen einsamen Punkte am Bosporus, der sonst überall von Häusern und Palästen umsäumt ist. Die Dame hatte gut zu wählen verstanden. Geradeaus eine einsame Wiese, einige mehrhundertjährige Platanen, und unweit davon von einem Hügel herab bis zum Meeresstrande sich senkend, eine vorspringende Spitze der kleinasiatischen großen Wälder, in denen noch Räuber und Bären hausen.
André Lhéry und Jean Renaud befanden sich ganz allein vor dem baufälligen alten Häuschen, worin ein weißbärtiger, wortkarger Greis eine Kaffeewirtschaft betrieb, die aber augenscheinlich wenig besucht wurde.
Die beiden Freunde erwarteten mit Ungeduld den Beginn des Stelldicheins, die Nargilehs rauchend, die der alte Türke ihnen brachte, erstaunt und fast mißtrauisch über den Besuch dieser beiden feinen Herren mit hohen Hüten, in seiner Hütte, die sonst nur von Hirten und Fährmännern besucht wurde. Noch dazu in dieser Jahreszeit und bei dem schlechten, windigen Wetter.
»Es ist wirklich äußerst liebenswürdig von Ihnen,« sagte Jean Renaud zu Lhéry, »meine Begleitung angenommen zu haben.«
»Sparen Sie Ihre Dankbezeigungen, Kleiner,« entgegnete jener. »Ich nahm Sie mit, um jemand zu haben, an dem ich meinen Unmut auslassen kann, wenn die Dame nicht kommt!«
»O, dafür ist mir nicht bange!« sagte Jean Renaud mit schalkhaftem Lächeln, nachdem er einen Blick rückwärts in die Ferne geworfen. »Denn, sehen Sie nur, wenn mich nicht alles trügt, naht sich dort hinter Ihrem Rücken schon die Erwartete!«
Mit einem Ruck wandte André sich um. In der Tat bog soeben eine Talika aus einem kleinen Gehölz hervor und kam, hin und her schwankend, auf dem holprigen Wege näher. Zwischen den vom Winde bewegten Vorhängen des Wagens bemerkte man im Innern mehrere weibliche Gestalten, völlig schwarz, die Gesichter mit einbegriffen.
»Holla, das sind ja mindestens ein Dutzend!« sagte André unwillig zu seinem Freunde. »Können Sie das begreifen, daß man gleich truppweise zu einem Stelldichein kommt?«
Inzwischen stand der Wagen im Begriff, bei dem Kaffeehäuschen vorüberzufahren, als eine weißbehandschuhte, kleine Hand sich aus der schwarzen Umhüllung hervorstreckte und ein Zeichen machte.
»Es ist richtig,« sagte André, »aber es sind ihrer drei. Welch sonderbares Abenteuer!« Und Jean Renaud die Hand gebend, fuhr er fort: »Ich lasse Sie nun allein! Seien Sie vorsichtig, wie Sie es versprochen haben. Bezahlen Sie auch dem würdigen alten Wirt unsere Zeche, ... wie das Ihre Pflicht erheischt!«
Sodann folgte er von weitem der Talika, die bald in einer einsamen Schlucht unter einer Platanengruppe anhielt. Drei schwarze Gestalten, schwarz vom Kopf bis zu den Füßen, sprangen behende aus dem Wagen hervor auf den grünen Rasen. Es waren zarte, schlanke Gestalten, unter deren schwarzen Umhüllungen seidene Schleppen hervorsahen. Alle drei setzten ihren Weg zu Fuß fort, unter dem Wehen des kalten Windes, vor dem sie häufig die Stirn beugen mußten. Sie verlangsamten allmählich ihre Schritte, als wollten sie André einladen, sich zu ihnen zu gesellen. –
Man muß im Orient gelebt haben, um Andrés Erstaunen und seine Bewegung zu begreifen, indem er sich den Türkinnen näherte, da er doch seit langer Zeit gewöhnt war, diese Klasse von Frauen als durchaus unnahbar zu erachten! War es denn möglich? Sie hatten ihn herbestellt, sie erwarteten ihn, und sie wollten mit ihm sprechen?!
Als die drei dicht hinter sich seine Schritte hörten, wandten sie sich nach ihm um.
»Herr André Lhéry, nicht wahr?« fragte die eine mit ungemein sanfter, frischer, aber ein wenig schüchterner, zitternder Stimme.
Als er statt aller Antwort sich bejahend verbeugte, fuhren unter den drei Tcharchafs drei weißbehandschuhte kleine Händchen hervor, die sich ihm darboten, und über die er sich nacheinander niederbeugte. »Sie haben mindestens doppelte Schleier vor den Gesichtern,« sagte sich André; »das sind drei Rätselbilder, drei unerforschliche Parzen!«
»Entschuldigen Sie uns,« begann wieder die sanfte Stimme, die vorhin gesprochen, »wenn wir wenig sprechen oder Albernheiten sagen; ... wir sind halbtot vor Angst! ... Das merken Sie uns wohl an?«
»Wenn Sie wüßten,« – sagte eine zweite Stimme, – »welche List wir anwenden mußten, um hierherkommen zu können; wieviel Neger und Negerinnen wir unterwegs beseitigen mußten ...!«
»Auch dieser Kutscher,« – fiel die Dritte ein, – »den wir gar nicht kennen, kann uns ins Verderben bringen!«
Ein allgemeines Schweigen folgte. Der eiskalt stürmende Wind hinderte alle am Atemholen und machte das Sprechen unmöglich. Dennoch gingen nun die vier gemeinsam weiter, als wären sie alte Bekannte, die einen gewohnten Spaziergang miteinander machten.
Die, welche zuallererst gesprochen hatte, und welche die Anführerin des gefahrvollen Unternehmens zu sein schien, ergriff wiederum das Wort; nur um die peinliche Pause zu unterbrechen, sagte sie zu André: –
»Sie sehen, wir sind unser drei hergekommen ... –«
»Ja, das sehe ich!« erwiderte der Angeredete, der sich nicht enthalten konnte, zu lächeln.
»Sie kennen uns nicht,« ergänzte jene, – »und doch sind Sie schon seit Jahren unser Freund!«
»Wir leben mit Ihnen durch Ihre Bücher!« sagte die Zweite.
»Und nicht wahr,« fragte die Dritte, »Sie werden uns sagen, ob die Geschichte der ›Medje‹ wahr ist?«
Jetzt sprachen sie alle drei zu gleicher Zeit, als hätten sie Eile, viele Fragen während dieser Zusammenkunft zu tun, die, wie sie wußten, nicht lange währen konnte. Die Geläufigkeit, mit der sie sich in französischer Sprache ausdrückten, überraschte Lhéry ebenso sehr wie ihre mit Furcht gemischte Kühnheit. Da in diesem Augenblick der Wind den Gesichtsschleier der einen in die Höhe wehte, so gewahrte er ihr Kinn und einen Teil des Halses, deren untadelhaft schöne Form auf große Jugend schließen ließ. Wie sie alle drei zugleich sprachen, klangen ihre Stimmen wie Musik, und André, der sich schon gefragt hatte, ob er nicht durch drei Levantinerinnen getäuscht sei, zweifelte nun nicht mehr daran, es mit echten Türkinnen zu tun zu haben; der sanfte, zarte Ton ihrer Stimmen galt ihm als ein sicherer Beweis ihrer Abstammung: denn sobald drei »Pérotes« gleichzeitig sprechen, denkt man unwillkürlich an die Papageienabteilung eines zoologischen Instituts.
Sich zu André wendend, sagte die, welche ihn schon am meisten interessierte: – »Vorhin habe ich wohl bemerkt, daß Sie lachten, als ich sagte: wir sind unser drei hergekommen; Sie hatten mich indessen nicht ausreden lassen. Ich wollte sagen, daß wir heute drei seien und daß, wenn Sie öfter unserer Aufforderung zu folgen geneigt wären, wir stets drei sein würden, da wir unzertrennlich sind. Nie aber werden Sie unsere Gesichter sehen; wir sind nichts als drei schwarze Schatten!«
»Vielmehr: drei ›Seelen!‹« ergänzte eine andere. »Wir werden für Sie drei Seelen bleiben, ... drei arme, kummervolle Seelen, die Ihrer Freundschaft bedürfen.«
»Es ist eigentlich unnötig, uns voneinander zu unterscheiden; aber wer weiß, ob Sie erraten werden, welche von uns an Sie geschrieben hat? Sie, die sich ›Zahide‹ nennt? ... Wohlan, sagen Sie, welche ist es?«
»Sie selbst, Madame!« antwortete André ohne Zögern, So war es auch, und hinter den Schleiern ertönten Ausrufe des Erstaunens in türkischer Sprache.
»Nun,« sagte Zahide, »da wir beide, Sie und ich, alte Bekannte sind, so ist es wohl meine Pflicht, Ihnen jetzt diese meine beiden Mitschwestern vorzustellen. Ist das geschehen, so haben wir alle gesellschaftlichen Formen, die hier zu beobachten wären, völlig erfüllt. So hören Sie denn! ... Der zweite schwarze Domino, hier, der größte an Gestalt, heißt ›Nechedil‹ – er ist boshaft. Der dritte aber, der sich eben abwendet, heißt ›Ikbal‹ – und ist tückisch: nehmen Sie sich vor ihm in acht! ... Ich bitte Sie nun, uns von diesem Augenblick an nicht mehr miteinander zu verwechseln!«
Alle diese Namen waren selbstverständlich erborgt, was André sogleich durchschaute. In Wirklichkeit gab es ebensowenig eine Nechedil oder eine Ikbal, wie eine Zahide. Der zweite Tcharchaf verdeckte das regelmäßige, ernste Gesicht mit dem etwas träumerischen Blick Zeynebs, der älteren der beiden Cousinen der einstigen Braut. Der dritte Tcharchaf aber verbarg die kleine Stumpfnase und die großen lachenden Augen Méleks, der jungen Türkin mit den roten Haaren, die früher einmal über André Lhéry sich dahin geäußert hatte: »er müsse über die Jugendtorheiten schon längst hinaus sein!« – Allerdings eine in der Zwischenzeit durch frühzeitigen Kummer und durchweinte Nächte sehr veränderte Mélek, deren angeborenes, heiteres Temperament aber alle ihre Leiden überwunden und ihr fröhliches Lachen wieder erweckt hatte. –
»Welche Idee machen Sie sich wohl über uns?« fragte Zahide nach einer Pause, die der Personenvorstellung gefolgt war. »Welche Art von Frauen sind wir? Welcher gesellschaftlichen Klasse gehören wir an? ... Bitte sprechen Sie!«
»Du lieber Gott! Bestimmtes werde ich Ihnen darüber erst später sagen können. Aber ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich zu vermuten anfange, Sie seien keine Kammerfrauen.«
»Ah! ... Nun, und unser Alter? Zwar hat das keine Bedeutung, da wir nichts als ›Seelen‹ sein wollen; indessen halten wir uns verpflichtet, Ihnen sogleich eine vertrauliche Mitteilung zu machen: – wir sind alte Frauen, Herr Lhéry, sehr alte Frauen!«
»Das hatte ich bereits gewittert ...«
»Nicht wahr?« fiel »Ikbal« (Mélek) ein, mit melancholischer Gebärde und gut nachgemachtem Zittern in der Stimme, »nicht wahr? Das Alter ›wittert‹ man, wie Sie sehr richtig sagen, immer sogleich, welche Mittel man auch anwenden möge, um es zu verbergen! ... Aber, bitte, sprechen Sie sich genauer aus; ... nennen Sie Zahlen, damit wir sehen, ob Sie ›Physiognom‹ sind ...?«
Dieses Wort sprach sie wohl wegen des störenden Schleiers mit einer drolligen Betonung aus.
»Zahlen wünschen Sie zu hören?« entgegnete André. »Würden Sie die Zahlen, die ich nennen müßte, auch nicht verletzen?«
»O, keineswegs!« ... »Wir haben schon solange auf alles verzichtet!« ... »Sprechen Sie unbesorgt!«
So riefen die drei durcheinander.
»Nun denn! ... Sie erschienen mir gleich anfangs als Großmütter, im Alter von nicht weniger als ... achtzehn bis vierundzwanzig Jahren!«
Alle drei lachten herzlich unter ihren Schleiern, ohne zu bedauern, daß ihr Scherz mit dem angeblichen Alter mißlungen war, aber auch ohne sich sonderlich geschmeichelt zu fühlen, da sie sich ja wirklich jung wußten. –
Ungeachtet des immer stärker wehenden kalten Windes setzten die vier ihren Weg weiter fort wie alte Freunde. Sie tauschten jetzt ihre wirklichen Gedanken und Ansichten gegeneinander aus, und André erfreute sich an dem Verständnis, das seine jungen Freundinnen über alles offenbarten, worüber er zu ihnen redete; auch fühlte er sich schon ganz vertraut mit ihnen.
In Begleitung ihres neuen Freundes und unter seinem Schutze wähnten sich die drei aus ihren Kerkern geflüchteten Damen schon ganz sicher, als sich plötzlich eine große Gefahr zeigte.
An einer Windung des Weges, wenngleich noch etwas entfernt von ihnen, tauchten zwei türkische Soldaten auf, die augenscheinlich dienstfrei und auf einem Spaziergang begriffen waren, denn sie trugen Interimskleidung und hatten Stöcke in den Händen, mit denen sie in der Luft umherfuchtelten.
Für die drei Flüchtlinge war dies die allergefährlichste Begegnung, denn die Soldaten sind im allgemeinen sehr strenggläubig, und sobald sie, empört über die drei Türkinnen in Gesellschaft eines Ungläubigen, Anzeige von dem machten, was sie gesehen, so liefen die Freundinnen die größte Gefahr.
Die beiden Soldaten blieben stehen, blickten verdutzt auf die sonderbare Gruppe vor ihnen, sprachen einige Worte unter sich und liefen dann in höchster Eile auf dem Wege zurück, den sie gekommen waren; ohne Zweifel um Lärm zu schlagen oder bei der Polizei Anzeige zu machen.
Aufs höchste erschreckt, sprangen die drei schwarzen Gespenster in ihren Wagen, der in gestrecktem Galopp mit ihnen davonjagte, auf die Gefahr hin, auf dem holprigen Wege in tausend Stücke zu zerbrechen.
Jean Renaud, der die Szene von weitem gesehen hatte, war herbeigeeilt, um, wenn nötig, Hilfe zu leisten. Als die Talika aus dem Gesichtskreis entschwunden war, begaben sich die beiden Freunde auf einem Seitenwege nach der Straße, die sie nach Pera zurückführen sollte.
Nachdem der erste Schreck überwunden war, wagte Jean Renaud, während die beiden Wanderer ruhig ihres Weges gingen, die schüchterne Frage:
»Nun, wie sind sie?«
»Verblüffend!« antwortete André.
»Verblüffend? In welchem Sinne? ... Sind sie niedlich?«
»Sehr! ... Doch nein, das Wort paßt nicht recht. Ihnen gebührt eine andere, eine ernstere Bezeichnung, denn sie sind ›Seelen‹, nichts als ›Seelen‹, wie es scheint.«
»Seelen?«
»Ja, lieber Freund, zum erstenmal in meinem Leben habe, ich mit Seelen gesprochen!«
»Aber unter welcher menschlichen Form waren diese Seelen? ... Sind es denn ehrenhafte Frauen?«
»O, was das betrifft: – es gibt nichts Ehrenhafteres unter der Sonne! ... Und wenn Sie sich etwa eingebildet hatten, es würde sich hier für mich ein Liebesabenteuer entwickeln, so haben Sie sich geirrt, mein junger Freund! Die Idee müssen Sie aufgeben.« –
André beunruhigte sich sehr wegen der Rückkunft der drei Flüchtlinge. Er sagte sich: »Es war doch ein sehr befremdliches Unternehmen, das die armen kleinen Türkinnen da gewagt hatten, im offenen Widerspruch gegen alle Gebräuche und Gesetze des Islams! ... Aber im Grunde war das Ganze doch von lilienhafter Reinheit und Unschuld! – Ein Gespräch mit drei Frauen, ohne jede Zweideutigkeit; über Seelenangelegenheiten mit einem Manne zu sprechen, dem sie nicht einmal eine Ahnung über die Form ihrer Gesichter gewähren? ... Kann das ein Verbrechen genannt werden? ... Nimmermehr!« ... Er hätte viel darum gegeben, die armen Täubchen in Sicherheit, hinter ihren vergitterten Harem, zurückgekehrt zu wissen. Was aber konnte er versuchen, für sie zu tun? ... Fliehen, sich fernhalten, wie er es getan, ... weiter vermochte er nichts. Jede offene oder verdeckte Einmischung seinerseits konnte den armen Aufrührerinnen nur Schaden bringen. –