Hermann Löns
Dahinten in der Heide
Hermann Löns

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Goldammer

Schwer und tief war der Schlaf des Mannes, und doch sprang er klaräugig auf die Füße, als Tritte im Heidkraute knisterten. Der Gendarm stand vor ihm und musterte ihn vom Hute bis zu den Stiefeln.

Er sah gut aus, der Beamte; er war einen knappen Zoll kleiner als Volkmann: er hatte ein offenes Gesicht, einen prachtvollen blonden Bart und helle, blaue Augen. Und da er inwendig so war wie außen, so stellte er sich erst recht barsch an und sagte mit rauher Stimme: »Zeig mal deine Papiere!« Er zog die Augenbrauen hoch, als der Stromer antwortete: »Erstens habe ich keine, und zweitens möchte ich Sie höflichst ersuchen, mich nicht zu duzen. Sie sind wohl noch nicht lange von der Front fort?«

Der Gendarm bekam einen roten Kopf; er sah ein, daß er eine Dummheit gemacht hatte. Der Mann trug schäbige, aber gutsitzende Kleidung, und das Schuhzeug, das waren hochfeine Jagdschuhe von braunem genarbten Leder mit ausgenähtem Rand und Schnellschnürung, und, Donner ja, er hatte das ganze Gesicht voller Schmisse und ein Benehmen wie der Herr Amtsrichter. Köllner lenkte ein: »Entschuldigen Sie, es war nicht so schlimm gemeint. Und ich sehe, daß ich mich irrte; eine Steckbriefbeschreibung paßte ungefähr auf Sie, bis auf die Schmisse. Und einen krummen Zeigefinger haben Sie rechts auch nicht. Aber Sie werden doch Papiere haben?« Der andere schüttelte den Kopf. »Nein, sie sind mir vor vierzehn Tagen in Hamburg gestohlen.« Der Beamte wiegte den Kopf hin und her. »Ja, dann müssen Sie mich schon begleiten.«

Er brach seine Rede mitten im Worte ab und sah in die Heide hinunter. Auf dem weißen Pattwege kam ein barhäuptiger Mann angelaufen; er schrie und winkte zu dem Hügel hinauf und zeigte nach einem Wacholderbusche hinter sich, wo ein weißer Frauenhut leuchtete. Es war Ruloff Ramaker; er war in Schweiß gebadet und keuchte: »Komm schnell, schnell, das Fräulein ist von einer Adder gebissen.«

Mit großen Sätzen sprang Volkmann den Hügel hinab und war eher bei dem Machangel als Ramaker und Köllner, denn jener war außer Atem, und dieser mußte erst sein Pferd abbinden.

Einen Blick warf Volkmann auf das junge Mädchen, als er tief den Hut zog. Er sah Erstaunen in ihrem Gesicht, und das Blut schoß ihm in den Kopf; aber schon kniete er nieder, nahm den schmalen, kräftigen Fuß in die Hand und fragte: »Wo?« Eine Stimme, die ihm süßer klang als das Lied des Goldammers, trotz der Angst, die darin klirrte, oder vielleicht um so mehr noch, antwortete: »Hier!« Und die schmale, leicht gebräunte Hand zeigte nach der großen Zehe. »Das ist gut«, meinte der Mann. »Wie lange ist es her?« fragte er dann, indem er einen Bindfaden hervorholte. »Eben.« Er nickte. »Keine Angst; Sie sind gesund, und der Biß sitzt gut. Aber nun muß ich Ihnen weh tun.«

Er schlang den Bindfaden um die Zehe, schnürte ihn fest, steckte einen Heidstengel darunter, wirbelte ihn zweimal herum und tat einen schnellen Schnitt in die Zehe. »Hat es sehr weh getan?« fragte er dann. Das Mädchen schüttelte den Kopf und lächelte aus ihrer Blässe heraus.

»Soll ich etwas Alkohol besorgen?« fragte der Gendarm. »In zehn Minuten bin ich bei der Wirtschaft.« Volkmann nickte. »Besser ist besser. Reiten Sie los; ich und er, wir wollen das Fräulein Ihnen entgegentragen. Gehen ist nicht gut; die Hauptsache ist Ruhe und kaltes Blut. So, mein Fräulein, nun ziehen Sie bitte den Strumpf über, und legen Sie Ihre Hände auf unsere Schultern. Sie brauchen keine Angst zu haben; von hundert Otterbissen geht kaum einer schlimm aus und auch meistens nur bei Kindern.«

Mit schnellen Schritten gingen die beiden Männer die Landstraße entlang, auf ihren verschränkten Händen das Mädchen tragend, das ihre Arme um die Schultern der Männer gelegt hatte. Ruloff Ramakers Gesicht glühte vor Verlegenheit; Lüder Volkmann aber sah düster aus.

»Es ist doch nicht gleich«, dachte er, »ob man noch ein anständiger Kerl vor der Welt ist oder nicht.« Er wünschte, er wäre alt und häßlich gewesen, aber ohne den Sprung in seinem Rufe; dann hätte er mit dem Mädchen sprechen dürfen, mit ihr, die an Wuchs und Angesicht und Stimme ganz so war wie jene Frau in Göttingen, vor der er floh, weil er sie so liebgehabt hatte.

Viel schöner war diese hier noch, viel adliger von Gestalt, und noch süßer hatte ihre Stimme geklungen, viel, viel süßer. Und der Duft ihrer goldenen Flechten war köstlich. Wie gern hätte er zu ihr gesprochen; aber sollte er, der Strolch, den jeder Gendarm stellen durfte, dieses Weib hier anreden? Zu Fürstinnen spricht man nicht ungefragt. Rot schlug ihm die Scham in das Gesicht, und tief seufzte er auf.

»Ich bin Ihnen wohl sehr schwer?« fragte die klare Stimme an seiner Schulter. Er schüttelte den Kopf; er wollte weiter schweigen, aber die Stimme öffnete seine Lippen. »Wie ist das gekommen, mein Fräulein?« Sie lächelte. »Ich laufe so gern barfuß in dem reinen Sande und auf der trockenen Heide; an die Schlangen hatte ich nicht gedacht.« Sie schwieg und wartete auf eine Gegenrede.

Mit scheuen Blicken streifte sie sein Gesicht. Daß es noch solche Männer gab! Das war ja eine Gestalt aus dem Nibelungensang, trotz des schäbigen Rockes, trotz des Halbwochenbartes.

Was er wohl sein mochte? Wie er wohl auf die Landstraße gekommen war? Auf der linken Backe hatte er drei lange Schmisse und einen rechts unter der Lippe. Wie schön der Mund dieses Mannes war, ein stolzer Knabenmund. Mitleid stieg in ihr auf und feuchtete ihre blauen Augen.

»Da kommt der Gendarm«, sagte der Mann und sah sie an, und dann wurde er rot wie ein Weib, denn er sah in ihren Augen, daß sie Anteil an ihm nahm, und sie wandte den Kopf ab, denn auch ihr war das Blut in das Gesicht geschossen.

»Es ist guter Portwein«, sagte der Beamte, als er die Flasche hervorzog, »das gnädige Fräulein können ihn ruhig trinken. An den Doktor ist schon telefoniert; er ist unterwegs.« Er sah die Männer an. »Soll ich einen von Ihnen ablösen?« Volkmann und Ramaker schüttelten die Köpfe und setzten sich in Bewegung.

Als sie nach einer Weile bei der Wirtschaft waren, stand Doktor Hellweger schon da. Er sah Volkmann erstaunt an, untersuchte den Fuß, nickte mit dem Kopfe und sagte, als er die Wunde ausgewaschen und statt des Bindfadens einen Gummiring um die Zehe gelegt hatte: »Wie lange nach dem Biß ist der Schnitt gemacht?« Und als das Mädchen sagte: »Nach höchstens fünf Minuten«, fuhr er fort: »Dann ist keine Gefahr da; es ist nur eine ganz kleine örtliche Schwellung vorhanden. Noch ein Gläschen Portwein, ehe der Wagen kommt! Das hält das Herz frisch.«

Volkmann sah den Arzt an. »Das ist eine veraltete Theorie, Herr Doktor; das Schlangengift geht durch die Blutbahn in den Verdauungstraktus. Alkohol ist gutes Gegengift, doch nur, weil er das Gift im Magen bindet. Versuche an Hunden, bei denen ich zugegen war, haben das ergeben.« Der Arzt machte runde Augen und fragte: »Sind Sie Mediziner?« Der Strolch schüttelte den Kopf und ging in das Haus; Ramaker folgte ihm.

»Da kommt mein Wagen, liebes Fräulein«, rief Hellweger. »Wo ist der Herr, der mir geholfen hat?« fragte das Mädchen. »Ich muß ihm danken.« Der Arzt trat auf die Deele und sah sich um. »Sie haben sich nur ein Glas Milch geben lassen und sind schon weiter«, antwortete die Frau. Der Doktor schüttelte den Kopf. »Merkwürdig!« Holde Rotermund wurde blaß, als er ihr sagte, daß die Fremden schon fort wären.

Als der Arzt sie nach dem Pfarrhause von Hülfingen fuhr, dachte er darüber nach, wo er den Mann schon gesehen hatte, denn daß er ihn kannte, das wußte er. Diesen Prachtkopf und den zackigen Schmiß auf der rechten Backe vergaß man nicht. Der Arzt blätterte in seiner Erinnerung hin und her, fand aber die richtige Stelle nicht.

Der Wagen hielt vor der Pfarre. Ein Jägeroffizier trat an den Schlag, küßte Holde beide Hände, grüßte den Arzt, machte sich bekannt und sagte: »Urlaub bekommen; der Alte brummte zwar, ging aber nicht anders. Zu große Sehnsucht!«

Er lachte, daß die weißen Zähne in seinem hübschen Gesicht blitzten; aber als seine Braut aus dem Wagen stieg, zog er die Stirne kraus, denn er sah, daß sie nur einen Schuh anhatte. »Ja«, erklärte sie lächelnd, »mich hat eine Schlange gebissen. Ich war ein bißchen barfuß im Sande herumgelaufen.«

Der Leutnant sagte nichts, aber seine Lippen schlossen sich fest zusammen, und seine Stimme klang kalt, als er der Magd zurief, sie solle Hausschuhe bringen.

Bevor er Holde in das Haus geleitete, dankte er in verbindlicher, gemessener Weise dem Arzte. Als dieser sagte, daß ein fremder Mann, allem Anscheine nach ein verbummeltes Genie, die Erste Hilfe geleistet und die Bißstelle ausgesaugt hatte, fuhr Leutnant von Zollin zurück und machte ein Gesicht, als hätte er ein Haar in der Zigarre gefunden. Er lud den Arzt ein, am Frühstück teilzunehmen, der aber dankte kühl und fuhr los.

Das Frühstück verlief laut, aber es war keine Laune dabei. Holde Rotermund lag auf dem Sofa, aß fast nichts und hatte ein nachdenkliches Gesicht, so daß ihre Vatersschwester so lange ihrer Angst Ausdruck gab, bis das Mädchen sagte: »Aber Tantchen, liebes, Gefahr ist gar nicht; mir ist der Portwein in die Glieder gefahren.«

Zerstreut hörte sie zu, wie ihr Verlobter vom Dienst, von der Jagd und von den Rennen sprach, und daß die Prinzessin Mathilde sich nach ihr erkundigt und gesagt hatte: »Frau Leutnant von Zollin schlägt uns noch einmal alle tot mit ihrem Gesicht«; er lachte seiner Braut zu und hob das Glas gegen sie.

Die aber sagte: »Ich glaube, ich muß erst ein bißchen schlafen« und hielt dem Bräutigam die Backe hin. »Nicht mehr?« fragte der und küßte sie fest auf den Mund, und mit purpurrotem Gesicht machte sie sich los.

In ihrem Schlafzimmer stand sie vor dem Waschtisch und sah in den Spiegel. Dann fuhr sie sich mit dem Schwamm über das heiße Gesicht und dreimal über ihre brennenden Lippen.

Sie lag auf dem Bette und sah gegen die weißen Deckenbalken; Dienst, Jagd, Rennen, der Hof, das war alles, wovon Wladislaw sprach, heute und morgen und übermorgen.

Wovon der fremde Mann wohl sprach? Wer mochte er sein, und wo mochte er jetzt sein? Ihr war es, als hörte sie seine Stimme immer noch, diese warme, gute, reine, volle Stimme. Draußen lachte ihr Bräutigam. Ach ja, er war ja ein netter Kerl, und hübsch war er und schnittig gewachsen und artig und aufmerksam; aber, aber, an dem, was sie rührte, ging er gleichgültig vorbei; wenn am Himmelsrande das rote Licht und das schwarze Gewölk Hochzeit machten, sah er nur die Rehe in den Wiesen, und in der Heide erblickte er nichts als Ödland. Was sie schon bald gedacht hatte, jetzt wurde es ihr klar: Sie paßten nicht zusammen.

Im Garten sang der Goldammer; heute früh hatte er gesungen: »Wie, wie hab ich dich lieb!« Aber nun sang er: »Mein Nest ist weit, weit, weit!«


 << zurück weiter >>