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Fünftes Kapitel.
Unter Leibeigenen.

Es war sicher unerlaubt und ungerecht und unverzeihlich. Es war undankbar im höchsten Grad, unlogisch und unsittlich. Zumal nachdem ich mir vorgenommen hatte, zum mindesten während unserer gemeinsamen Kulturfahrt, im Interesse der Objektivität, jede Abneigung gegen ihn zu unterdrücken!

Trotz alledem: ich empfand sie, still und fest und keck: meine alte Wut gegen den Baron! Das verflixte Gemüt spielte mir wider alle Vernunft seinen Streich und zeigte sich reizbar und eben ›ungemütlich‹ – nur weil ich gestern und heute schlecht geschlafen hatte! Nur weil sich in meinen sonst traumlosen, abgrundtiefen Schlaf plötzlich Bilder und Ereignisse drängten, die nicht ganz ohne Zusammenhang mit der Öffentlichkeit standen, mit der mich der Baron täglich vertrauter machte.

Wir waren am späten Abend bei Bariansky auf einmal – ich weiß nicht, wie – von der Theologie auf die Politik gekommen. Ich war schon zu müde, um noch eigene Ansichten zum besten zu geben, obwohl ich, beiläufig gesagt, einer sehr bestimmten Parteirichtung angehöre: ich bin anarcho-konservativ. So aber benutzte mein Begleiter die Gelegenheit, um mich mit seinen bizarren Urteilen zu überschütten. Geduldig, mit dauerndem Kopfnicken, hörte ich zu und dachte an nichts Böses. Anders mein Gehirn! Dieser tückische Schmarotzer nahm, ohne daß ich es ahnte, die trefflichen Reden des Barons in seine bekannten Windungen auf und wählte dann ausgemacht die folgenden Nachtstunden, um sie im Traum als tollstes Durcheinander von sich zu geben.

Man denke sich das Ungeheuerliche: ich, der unschuldigste Mensch von der Welt, erblicke mich im Traum – als deutschen Reichstagsabgeordneten.

Wer begreift nicht meine entsetzte Beklommenheit!

Ich armer, bescheidener Staatsbürger, der bislang zur Lenkung des Staatsschiffes nur gerade so viel, wie jeder Stallknecht und Lumpensammler – in allen Ehren diese hochachtbaren Gewerbe! – hatte beitragen dürfen: nämlich einen Wahlzettel, beileibe nicht selber, sondern durch Vermittlung des wohlmeinenden Kommissars, in die Urne zu legen – – ich war jählings ausersehen, mit unter den vierhundert geistvollsten Männern der Nation zu raten und zu taten! Grausame Gnade des Geschicks für der Unmündigsten einen unter den Unmündigen!

Was ich zuerst in meiner unheimlichen Traumsituation erkannte, war, daß ich, mit Rücksicht auf meinen roten Farbengeschmack, auf der äußersten Linken hatte Platz nehmen dürfen. Schüchtern, wie ich war, sah ich mich in meiner Nachbarschaft gar nicht erst lange um, sondern blickte gleich andächtig empor zur Rednertribüne. Dort stand ein sehr flotter, jovialer Herr mit hochgedrehten Schnurrbartspitzen und schmetternder Stimme, der im reinsten Ostelbisch zu uns herüberschnarrte. Vergeblich strengte ich mich an, einen Satz von ihm zu Ende zu hören: meine Nachbarschaft setzte jedesmal, just vor den Schluß, ein lautes Gelächter, in das ich begreiflicherweise fröhlich einstimmte. Denn mir war es zunächst eine Erlösung, daß man unter den Auserwählten auch lachte. Ich setzte mich ein gut Teil behaglicher zurecht und beteiligte mich vergnügt an jeder neuen Lachsalve. Trotz der zahlreichen Unterbrechungen gelang es mir allmählich, etwas wie Zusammenhang aus der Rede herauszuhören.

Zur Debatte des hohen Hauses stand – man höre und staune über die Blödigkeit von Träumen! – schlichtweg › die Volksseele‹!

Ich muß gestehen, daß ich mir von diesem Konglomerat noch nie, auch nur die geringste Vorstellung hatte machen können. Soviel wurde mir aber klar, daß der Herr Redner eine sehr bestimmte Vorstellung von der ›Volksseele‹ haben mußte, denn er erklärte haarscharf, was sie nicht sei, was sie nicht liebe, was sie nicht verstehe und so fort. Eben jetzt verkündete er mit eindrucksvollem Schwung: »Nicht länger wird es sich die deutsche Volksseele gefallen lassen, daß man ihr statt gesunden, körnigen Hausbrots hohle soziale Phrasen bietet und nichts als Phrasen!« »Bravo!« rief ich unwillkürlich laut in den gelben Saal hinein. Denn schließlich hatte der Mann doch jedenfalls recht, auch mit Beziehung auf sich selber. Und »Bravo!« tönte es vielstimmig – von der anderen Seite des Hauses. In meiner Umgebung aber lachte man lauter denn je. Ich sah mich verdutzt um und begegnete mehreren verwunderten Blicken. Von hinten legte sich unerwartet eine Hand auf meine Schulter; ein schwarzbärtiges Gesicht beugte sich an mein Ohr und spöttisch flüsterte es mir zu:

»Wer sind Sie doch gleich, mein Herr? Sie meinten Ihr Bravo doch wohl ironisch? Einen Augenblick!«

Da stand auch schon der Flüsterer, ein hagerer Mensch in einem freiheitlich geschnittenen Turnerrock, neben mir, winkte gebieterisch und führte, oder besser, drängte mich in eine Ecke.

»Ihr Kredo, mein Herr!« zischelte er mich an. »Glauben Sie an unsere Unfehlbarkeit? Glauben Sie, daß die wirtschaftliche Entwicklung keine andere Tendenz hat, als die von uns gewünschte – die Konzentration? Glauben Sie, daß unsre Gegner nichts sind, als Brot- und Fleischwucherer, Krautjunker, Schlotbarone, Hampelmänner, Windfahnenschwenker, Radaudeutsche, Panzerplattenpatrioten, Volksknebler und so weiter, und so weiter?«

»Ich glaube,« stotterte ich … »Alles glaube ich, was Sie wollen!«

Dabei schob ich ihn instinktiv von meiner beengten Brust und rannte fluchtartig davon, nach rechts und immer weiter nach rechts, bis ich auf der äußersten Rechten, wie durch Zufall, einen leeren Platz erblickte und mich erschöpft niederfallen ließ.

Die Herren, die mich atemlos dort ankommen sahen, schauten sich mit einem feinen Lächeln an und rückten gleich von vornherein etwas ab von mir. Glücklicherweise wechselte gerade jetzt der Redner, und sie konnten sich fürs erste nicht weiter mit mir beschäftigen.

Auf der Tribüne stand nämlich – ausgesucht mein finsterer Freund im Turnvaterrock, der mir eben noch das Glaubensbekenntnis abgehört hatte, und belferte ingrimmig nach rechts herüber, so ziemlich immer auf mich los. Er handhabte die ›Volksseele‹ wesentlich anders als der Herr Vorredner, und rief, indem er mich herausfordernd fixierte: »Die Volksseele, meine Herren, die gewisse Leute im Munde führen, ist nichts als das naive Spiegelbild ihrer eigenen egoistischen Interessen!«

»Sehr richtig!« rief ich unwillkürlich laut in den gelben Saal hinein – einmal, um den guten Mann durch meine Zustimmung zu versöhnen, und dann, weil er schließlich doch jedenfalls recht hatte, auch in Beziehung auf sich selber.

Die feinen Herren um mich her schienen die Sache anders aufzufassen. Sie lachten überlaut, und die mir zunächst Sitzenden maßen mich armen Sünder mit recht zweifelhaften Blicken.

Du lieber Gott! ich hatte doch nicht gewußt, daß man im hohen Hause so gern lachte! Und auch lachte, wenn es der Herr Redner bitterlich ernst meinte!

Um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, erhob ich mich diesmal sofort. Und doch zu spät!

Ein Herr mit vornehmen, weißen Koteletten trat verbindlich grüßend an mich heran. »Einen Augenblick!« bat er sehr höflich und führte mich beiseite. »Wie ist doch Ihr werter Name? Ihr ›Sehr richtig‹ war doch wohl ironisch zu verstehen? Sie glauben doch mit uns, daß von einer richtigen Volksseele nur reden kann, wer auf den Grundlagen der bestehenden Ordnung, des christlichen und monarchischen Staates steht? Sie glauben doch …«

»Um Gottes willen!« schrie ich entsetzt auf. »Ich glaube – alles, alles was Sie wollen, glaube ich!« und stürzte nach der Mitte, denn nach links oder rechts traute ich mich ja nicht mehr; um nichts in der Welt!

Neben einem rundlichen Kaplänchen, das mir, halb verschlafen, gütig zunickte, wollte ich mich niederducken; denn wenn schon einmal in diesem Hause so viel geglaubt werden mußte, dann war es vielleicht am besten … Aber wer beschreibt meinen Schreck? Im selben Augenblick schwingt der Präsident die Glocke und erteilt das Wort – – ich mußte mich verhört haben! Nein! Noch einmal! Barmherziger Gott – mein Name! Mir – mir erteilt er das Wort!

Gleich darauf stehe ich auch schon – der furchtbaren Schnelligkeit und Konsequenz des Traumes folgend – oben auf der Rednertribüne und habe den ersten Satz im Mund.

»Meine Herren!« rufe ich, von unsichtbaren Gewalten frech besessen, »Meine Herren! Sie wissen alle nicht, was ›Volksseele‹ ist, denn dieses Monstrum ist überhaupt nichts zum Wissen – – weil es gar nicht existiert!«

Weiter kam ich nicht.

Mit Recht erhob sich ein ohrenbetäubender Lärm auf allen Seiten des Hauses, der mich wie eine Woge zu verschlingen drohte. Ich sah eben noch, wie der Präsident, der plötzlich Reinhold Bellarmin Sonnenglanz auf ein Haar glich, nach dem Hute griff, um die Sitzung zu unterbrechen. Ich streckte mich verzweifelt, denn hundert Hände waren gegen mich ausgereckt – da empfing ich auch schon einen Schlag – auf den Kopf … Denn ich war dem Haupt meines Bettes zu nahe gerückt, und erwachte. – – –

Ich behaupte, daß man um so empörter über einen solchen Traum sein wird, je mehr man in Staat und Gesellschaft jene notwendigen Übel sieht, denen wir einen Teil unserer köstlichen Freiheit opfern, um sie nicht ganz zu verlieren. Den Beweis zu dieser Behauptung mache jeder sich selbst. Für mich lag er an jenem Tag in der Tatsache eines dumpfen Schädels, der mir treu geblieben war – auch als gegen Abend der Baron bei mir eintrat.

Er fand mich sehr apathisch.

Immer geneigt, alles auf sich und seine Erfolge zu beziehen, klopfte er mir leutselig auf die Schulter, zeigte seine blanken Zähne und meinte mit einer Gutmütigkeit, die ganz verteufelt herauskam:

»Na, Doktor! Wir sind doch nicht schon schachmatt? Die moderne Welt fordert für ihr Verständnis ein Maß von Kräften, wie Sie es sich wohl nicht träumen ließen – was?«

»Nichts von Träumen, wenn ich bitten darf!« antwortete ich gähnend. Gähnend nicht aus Unerzogenheit, sondern aus dem Bestreben, meine Gereiztheit unter allen Umständen zu verdecken.

»Ich will Ihnen entgegenkommen. Bester!« fuhr er im selben Ton fort und setzte sich neben mich auf das Sofa, in dessen Ecke ich kauerte. »Nehmen wir für heute abend etwas Leichteres vor! Wie denken Sie über das Theater? Das Schauspiel, meine ich? Wir könnten heute eine interessante Premiere hören!«

»Danke, Baron!« sagte ich so gelangweilt wie möglich. »Die dramatische Kunst ist das Gebiet, auf dem ich Ihren Ansichten von vornherein nicht widerstreite. Ich würde mich ja lächerlich und unerträglich machen, wenn ich leugnen wollte, daß dort alle Beteiligten, Dichter und Darsteller, Direktoren, Publikum und Kritik das Unmöglichste möglich machen!«

Wohlgefällig strich der Baron über seine samtene Weste, um sie von unsichtbarem Staub zu befreien, und zwinkerte mich durch seine Brille liebreich an:

»Das sagen Sie, Doktor? Entweder ist das unlogisch, und Ihre Überzeugung von der Kümmerlichkeit der Gegenwart hatte da immer eine merkwürdige Bresche, oder –« er drohte mir selbstgefällig mit dem Finger, »oder Sie haben unter dem Eindrucke der letzten Tage angefangen, sich auffallend zu bessern!«

»Ganz wie Sie wünschen!« gab ich lakonisch zur Antwort.

»Also etwas anderes! Wollen Sie eine politische Versammlung mitmachen?« schlug er harmlos vor.

»Um aller Liebe willen, Baron!« rief ich entrüstet und griff an den schmerzenden Kopf. »Die hab' ich ja heute nacht im Traum absolviert! Kein Wort davon!«

»Ach!?« meinte er mit ironischem Staunen. »Also auch nichts. Na, denn – entweder ein sehr fesselnder Vortrag – –«

»Müssen es denn immer Redereien sein? Immer Vorträge oder Gespräche oder Plädoyers oder dergleichen Martyrien?« stöhnte ich trostlos.

»Doktor,« sagte der Baron verändert und mit feierlichem Ernst, »wir leben im Zeitalter des Worts!«

»Des Geschwätzes!« war ich in meinem bösen Ärger versucht, zu verbessern.

»Eine Kultur,« fuhr er fort, »die hervorragend geistig ist, wird sich immer mehr in Worten, als in bloßen Taten spiegeln. Sehen Sie unsere Parlamente …«

»Freilich, freilich!« lenkte ich sofort ein. »Das sind Rede-Bedürfnisanstalten im vornehmsten Sinn des Worts! Das sind – –«

»Na also!« unterbrach er mich, gottlob etwas weniger feierlich. »Sie fügen sich! Entweder ein Vortrag mit dem Thema: ›Die gemeinsamen Wurzeln von Perversität und Kunst‹, oder –«

»Oder?« fragte ich mit angstvoller Neugier.

»Oder wir wohnen den Sitzungen eines Kongresses vorgeschrittener Frauen bei, nach Ihrem Belieben!«

Entschlossen sprang ich auf und entschied kurzweg, mit verzweifeltem Heldentum:

»Geben wir den Frauen den Vorzug vor der Perversität! Kommen Sie!« – –

Mir war es in meinem Leben nie eingefallen, an dem wirtschaftlichen Ernst der sogenannten ›Frauenfrage‹ zu zweifeln. Ich versuchte, dies dem Baron unterwegs klar zu machen, und verschwendete zu diesem Zweck ein nicht geringes Maß von Kenntnissen; ich hatte dabei die stille Hoffnung, er möchte, in Anbetracht meiner Schädelverhältnisse, von unserem neuesten Unternehmen abgebracht werden können. Aber ich täuschte mich! Er erklärte mir ebenso höflich wie bestimmt, ich habe von den Zielgedanken der Bewegung keine Ahnung und meine Kenntnisse seien mehr als akademisch; ich würde von der Neuheit der Erfahrungen auch in diesem Bereich ebenso auf den Kopf geschlagen sein, wie … O! Als wäre ich nicht schon genug auf den Kopf geschlagen gewesen! So ein Schäker!

Wir saßen leidlich bald in der schwülen Ecke eines Sälchens von kaum zwanzig Quadratmetern, das stickvoll mit lauter Damen war. Man müßte ein Zola sein, um das spezifisch weibliche Fluidum zu analysieren, das uns umhüllte; ein moderner Lyriker, um zu beschreiben, wie aus einer anderen, mir verdeckten Ecke eine weiche, melodische Stimme emporzitterte – ganz wie aus diesem ewigweiblichen, sinnbetörenden Aroma geboren.

Doch seltsam! Recht im Gegensatz zum zarten Wohllaut der Stimme standen die Worte und Sätze, die deutlich und deutlicher in meinen Winkel herüberdrangen.

Die Rednerin – im Interesse der Objektivität natürlich ein Fräulein und, eben deshalb, wie der Baron mich belehrte, eine Autorität in sexuellen Fragen – gab zunächst einen Überblick über die bekannte Entwicklung der Eingeschlechtigkeit zur Zweigeschlechtigkeit bei den niedrigen Lebewesen, und machte dann den Übergang zu ihrer Hauptaufgabe mit dem wehmütigen Bekenntnis:

»Soweit wie der Bandwurm, der kraft seiner männlichen und weiblichen Organe befähigt ist, sich selber zu begatten, sind wir leider noch nicht!«

Man denke sich diesen Satz, zart wie einen Seufzer hingehaucht von späten Mädchenlippen, und man wird seine Wirkung auch auf verhärtete männliche Gemüter ermessen. Meine Aufmerksamkeit, die fürs erste nicht überwältigend war, wurde durch diesen Wehruf zauberhaft schnell erweckt und war vollständig, als es mir erst gelungen war, für einen Augenblick die Sprecherin zu sehen: sie war bald auswendig gelernt, denn das schmächtige, schmalhüftige und glattbrüstige Persönchen bestand eigentlich nur aus ein paar verzehrenden, heißblütigen Augen, die ruhelos hin- und herzuckten, und eben aus jener diskreten Stimme, die die indiskretesten Worte sprach und nichts Geringeres prophezeite, als den Umsturz der überlebten männlichen Kultur und den Anbruch der weiblichen.

Der Baron hatte wieder einmal recht gehabt! Ich war in den Anfängen der Bewegung stecken geblieben. Ich kannte die ›neue Frau‹ nicht.

So schnell sollte ich sie auch nicht kennen lernen.

Was sie nicht war, nicht mehr sein konnte und wollte, wurde erschreckend klar: Hinweg mit der patentierten Ehefrau, der Wirtschafterin, der Haussklavin, der ›goldenen Gans‹, die nur dazu diente, gerupft zu werden von ihrem despotischen Besitzer! Hinweg aber vor allen Dingen mit dem krassesten Ausdruck des männlichen Egoismus, mit jener Einrichtung, in der das neue Weib nichts sieht, als eine Prostitution ohnegleichen – hinweg mit der Ehe!

Die Versammlung nahm diesen wütenden Ausfall, der so sanft hingehaucht wurde, wie alles übrige, mit unterschiedlichen Zeichen lebhafter Zustimmung auf. Mehr oder weniger alle Zuhörerinnen schoben ihre verehrlichen Sitzpartieen erregt auf den Stühlen hin und her und erinnerten unwillkürlich an eine Kundgebung, mit der gewisse Wasservögel ihre sämtlichen Gefühlsausbrüche zu begleiten pflegen. Einige sehr rauhe, sehr tiefe Stimmen riefen ›Bravo‹; eine dieser Ruferinnen saß nahe bei uns und ich konnte, erschreckt und betroffen, nach ihr ihre ganze Gruppe beurteilen: Es war der Typus Virago, der nicht allein durch sein haariges, derbspöttisches Gesicht, sondern auch durch die Anmut seiner eckigen Glieder, seiner kunstlosen Kopftracht und seiner durchaus geschmackfreien Kleidung unersetzlich ist. Einige frühreife Mädchen, die im Gegensatz dazu sehr schick, fast todschick, gekleidet waren, lächelten sich geheimnisvoll an – geheimnisvoll, denn es blieb ein Geheimnis, ob mehr Verlegenheit oder mehr Lüsternheit in ihren Puppenfrätzchen war; die spätreifen dagegen sahen kühn und verzückt in Traumfernen, fuhren sich durch die Tituslocken und witterten Morgendämmerung einer neuen Zeit. Nur stattliche ältere Damen mit weißen Scheiteln und schwarzen Häubchen sahen stilllächelnd in den Schoß und trösteten durch ihre Ruhe ein paar hausbackene Weibchen, die zwar auch fortgeschritten waren, aber nicht soweit, wie etwa die anwesenden Mitglieder des ›Vereins zur Bekämpfung der weiblichen Scham‹.

Mein Umblick dauerte länger, als sich Fräulein Elvire von Sinnig – so hieß die Glutäugige – gönnte, um die Wonnen des Beifalls zu kosten. Der Baron, der meine wachsende Teilnahme mit Vergnügen konstatierte, führte mich durch einen bedeutsamen Blick zu ihr zurück.

Sie war jetzt eben damit beschäftigt, zu zeigen, unter welchen Bedingungen die ›neue Frau‹ in die Erscheinung treten konnte. Scharf ging es zu Gericht, und mir wollte sich vor Staunen der Mund nicht mehr schließen.

Mutterrecht statt Vaterrecht! Das war der Kampfruf. Die Menschenrechte waren bisher Männerrechte gewesen. Bei den Barbarenvölkern mußten wir wieder lernen, was Natur war. Dem Weib, der Wurzel des Menschheitsbaumes, gebührte das Übergewicht, denn – ›Mutterschaft geht vor Vaterschaft! Ist überhaupt die einzig nachweisbare Elternschaft!‹

Mir schauderte: ich sah an der Geschichte der Menschheit hinab wie am Hang eines Abgrundes. Die zarte Stimme im jenseitigen Winkel strich leis und fest die Väter von Jahrtausenden aus.

»Vaterschaft ist nicht nachweisbar, beruht und beruhte immer nur auf Überzeugung, und die Völker, die ihre Rechtsformen, ihr Staatsgebäude darauf bauten, bauten auf eine Theorie, die sich niemals beglaubigen läßt: Wir haben alle, die wir unter der Sonne leben, eine nachweisbare Mutter und einen nicht nachweisbaren Vater!«

Das Blut stieg mir ins Gesicht. Es war gewiß altmodisch und prüde, aber ich empfand diese Behauptung wie eine empörende Beleidigung, und ich erhob mich instinktiv, als müßte ich laut ›Pfui!‹ rufen. Rechtzeitig zog mich der Baron auf den Stuhl zurück und meinte freundlich: »Zähmen Sie Ähre Begeisterung, Doktor! Ich werde Sie nachher mit Fräulein von Sinnig bekannt machen!« Und ich setzte mich und schüttelte resigniert den Kopf: »Ich danke, Baron! Es geht schon vorüber!« Ich fügte mich darein, daß die Menschen etliche tausend Jahre lang so dumm gewesen waren, ihre Rechts- und Staatsverhältnisse auf bloßen Vermutungen aufzurichten, bis Elvire von Sinnig hinter den Schwindel kam: O langsamer, mühvoller Schritt der Weisheit und Erkenntnis!

Aber nein! Es war gar nicht nur Dummheit von Jahrtausenden gewesen: die abgründige Bosheit war es, die Bosheit des Mannes gegen das › leibeigene‹ Geschlecht. Er pochte auf das Vaterrecht, denn er wollte Erben für sein Kapital.

»Und solche Schmach ertrug das Weib! Ach, was erträgt nicht ein leibeigenes Geschlecht! Gebärapparat für den Großkapitalisten: das ist die Stellung der Frau nach Vaterrecht!«

Die bärtigen Jungfrauen knirschten und blickten höhnischer als je. Die frühreifen Mägdlein fühlten sich furchtbar heiß und mußten sich die glühenden Wangen fächeln; die spätreifen schossen finstere Feuerblicke; die stattlichen alten Damen räusperten sich, und von den hausbackenen Weiblein entfernten sich mehrere mit hochroten Stirnen.

Ich aber hatte die blöde Empörung überwunden und spielte möglichst gleichmütig mit meinen Fingern: als einzige Männer im Saal durften wir uns keinesfalls getroffen fühlen. Das war einfach Ehrensache. Der Baron hatte mich wieder einmal angesteckt. Er hatte »Sehr gut« gerufen und ich beteuerte ihm ernsthaft: »Sie haben recht! Es fragt sich, ob man nicht noch weiter gehen könnte! Die Männer und Väter haben ausgespielt!«

Die Ehe war hinabgetan, das kapitalistische Vaterrecht war hinabgetan, die ganze männliche Kultur war hinabgetan – und nun lag die Bahn frei für die ›neue Frau‹!

Zu meiner Enttäuschung war es der trefflichen Jungfrau von Sinnig nicht möglich, ein Exemplar der gewünschten Rasse auf dem Tisch des Hauses niederzulegen. Es war auch kindlich von mir, etwas Derartiges zu erwarten. Man kommt nirgends ohne Idealismus aus! Die ausbündigsten Realisten, wie etwa unsre braven Entwicklungsfanatiker, haben irgendwo ihre kleine menschliche Blöße, die mit einem Schmachtläppchen aus der verspotteten Rumpelkammer des Idealismus verhängt werden muß. Das heißt, sie sind verschämte Idealisten. Der Unterschied aber zwischen den früheren unverschämten und den heutigen verschämten Idealisten ist der, daß erstere von der Luft, letztere – von der Zukunft leben! So begannen wir mit der Musik der Zukunft; ihr folgte der Staat der Zukunft, die Religion der Zukunft und was solcher Zukünfte mehr sind. Warum sollte da das Weib der Zukunft fehlen? Banausen, die da behaupten, schließlich lebten die Menschen doch in erster Linie von der Gegenwart! Sodom und Gomorrha über Leute, wie mich, die die ›neue Frau‹ mit Händen greifen möchten!

Elvire von Sinnig dachte reifer. Sie wußte, daß zuerst an Stelle der alten, eingerissenen Bedingungen die neuen gesetzt werden mußten, aus denen dann die ›neue Frau‹ so notwendig hervorging, als zwei mal zwei vier gab!

Also: die Frau wird Familienhaupt statt des Mannes! Sie darf keine vaterrechtliche Ehe mehr eingehen. Sie trifft, sobald sie durch Erwerb oder Besitz selbständig ist, nur eine Liebeswahl, und ihre Kinder werden eben ihre Kinder sein. Entsprechend müssen auch die Lohnverhältnisse umgekehrt und die Mütter vor den jammervollen Vätern bevorzugt werden. Überhaupt: »Väter werden nicht gesucht und nicht festgenagelt! Wer nicht freiwillig und aus Liebe bleibt, der geht!«

Wieder unterbrach ein starker Beifall den melodischen Fluß der kräftigen und doch so zart gesprochenen Worte.

Auch bei mir war der letzte Rest des Widerspruchs wie weggeblasen; meine Stimmung hob sich von Minute zu Minute, und ich schenkte dem Baron einen langen Blick aufrichtiger Anerkennung, den er triumphierend in sich sog. Ich war ergriffen. Es war Gerechtigkeit in diesen Ausführungen! Hätte man nicht den verwünschten Männern alles nehmen können? Statt dessen war man großmütig in seiner Siegerlaune und ließ ihnen das Recht aller männlichen Kreatur. Väter konnten sie nicht mehr sein, aber Erzeuger durften sie bleiben!

Und nun kam sie doch noch – die ›neue Frau‹!

Nicht freilich in derber Wirklichkeit; aber auf den Sohlen der Poesie trat sie in den Saal, herbeigezaubert von den süßesten, ersterbendsten Tönen der guten Elvire, in einer hinreißenden, allumfassenden Schlußekstase: Die ›neue Frau‹, die zum Bewußtsein ihres Menschentums erwacht ist; die liebt und lebt, wenn das Herz und das Blut glüht! Sie wartet nicht – o nein – sie wartet nicht! Sie gibt sich demjenigen hin, ›dessen Herz und Sinne den ihrigen entgegenjauchzen – vielleicht unterm glitzernden Sternenzelt, vielleicht im holden Waldversteck‹, und ihr Kind, das nur ihr gehört, hält sie, nicht eine Sünderin – eine Siegerin, jubelnd der Sonne entgegen!

Rührung, Schluchzen, Klatschen, Hochrufe umtosten die jungfräuliche Elvire. Sie stand da, gesenkten Hauptes und mit geschlossenen Augen, inmitten der Glückwünsche ihrer Anhänger und Neider, – und hoffte auf die Zukunft.

Der Baron aber war zartsinnig genug, mich aus dem Sälchen hinauszuschieben. Unter den Siegerinnen war jetzt kein Platz für das Trottelgeschlecht der Besiegten! –

Ich folgte, tief mit der Verarbeitung meiner Erfahrungen beschäftigt, dem voranschreitenden Kulturvermittler über einen kurzen Korridor. Wir standen bald vor der offenen Tür eines zweiten überquellenden Saales. Die Hörer standen weit in den Gang heraus – so gut besucht war diese Sektionssitzung. Und wir mußten uns begnügen, so weit vorzudringen, daß wir ab und zu einen Blick ins Innere des Raumes werfen konnten.

Diesmal bestand das Publikum nicht bloß aus Damen, sondern war ziemlich reichlich mit Männern und Jünglingen durchsetzt. Sehr begreiflich! Denn drüben wurde das Daseinsrecht des männlichen Geschlechts auf das dürftigste Mindestmaß reduziert; hier aber, wo die › neue Liebe‹ behandelt wurde, lag schon im Thema eine bescheidene Gewähr für eine würdigere Stellung der Männerwelt.

Auch die Sprecherin war anders, ja entgegengesetzt geartet. So viel ich entdecken konnte, war es eine starke, ergrauende Dame mit sehr strengen Zügen, einem Kneifer auf der Nase und einem langen Bleistift in der Hand, der beständig zwischen besagter Nase und ihrem Konzept hin- und herging. Was ihre Gestalt vorteilhaft hob, war eine grellgrüne Seidenbluse, mit der sie, wie ich glaube, die ewige Jugend der Liebe sehr diskret und eindrucksvoll symbolisierte. Auch insofern erzielte sie eine vorteilhafte Gegenwirkung zu Elvire von Sinnig, als ihre Stimme an Festigkeit der eines Unteroffiziers nichts nachgab, sich aber dafür mit lauter süßen und sanften Dingen befaßte. Die ›neue Liebe‹ war etwas sehr Diskretes; die ›neue Frau‹ etwas sehr Indiskretes.

Es wäre der Zartheit des Gegenstandes wenig angemessen, wollte man auch diesen Vortrag in seinen Einzelheiten wiedergeben. Auch wäre es langweilig.

Das Fräulein – ein solches war es auch hier, im Interesse der Objektivität natürlich! – hatte sich mit Erfolg bei einer bekannten nordischen Schönrednerin in die Schule begeben und dort meisterhaft gelernt, den zeitgemäßen Mangel an Gedanken durch schönselige Gefühle zu ersetzen. Eine eminente Fähigkeit, die ich einmal sehr hübsch als ›die diskrete Scheu der modernen Psychologie vor Verallgemeinerungen‹ bezeichnen hörte.

Jedenfalls standen wir, wie immer, vor Neuheiten und lauter Neuheiten! Voran vor einer Neugestaltung der Seele überhaupt. »Erlesene Sensibilität, vibrierende Nerven, wechselnde Stimmungen, Reizsamkeit der Empfindungen haben die Frau und der Mann von heute als Zeichen ihrer Überlegenheit, als ihre kulturellen Errungenschaften vor jeder anderen Generation voraus!«

Welch ein Umschwung! dachte ich beschämt bei mir. Die Narren aller Zeiten bis auf mich hatten Genialität der Empfindung und des Geistes in die Einheit gesetzt; in der Einheit und Vereinfachung glaubten sie den Sinn ganzer Menschenleben zu ergründen: sei es, daß diese Einheitlichen Kunstwerke schufen oder Gedankensysteme bauten oder auch nur ihren schlichten Charakter zimmerten! Nun lag des Rätsels Lösung im Chaos! In der Vielheit! Und je buntscheckiger und regelloser es schillerte in Kopf und Herz, um so näher war man der ›neuen Seele‹! Um so eher durfte man hoffen, als ›neuer Mann‹ und ›neues Weib‹ – das ›neue Kind‹ zu schaffen!

Ich war eben im Begriff, mich mit der ganzen Leidenschaftlichkeit eines Neubekehrten in die ›Mikroskopie der Erotik‹ zu versenken; ich lernte, wie die modernen Frauen alle nicht › en mâle, mais en artiste‹ geliebt werden wollen. Da fiel durch Zufall mein irrender Blick auf ein Mädchen von weichen, vollen Formen. Ihr madonnenhaftes Gesicht ließ durch seine Linien auf flämische Herkunft schließen. Es war träumerisch der Rednerin zugekehrt. Andächtig lauschte die jugendliche Schöne auf die Geheimnisse der ›neuen Liebe‹. Jetzt tauchte in einer anderen Türe des Saals, ihr gegenüber, ein männlicher Zuhörer auf, dem es eben erst gelang, seine massive, beinahe plumpe Gestalt in die Türöffnung zu drängen, und mit einer Miene die Versammlung zu überblicken, die gutmütig und breit, aber im Grund verächtlich und brutal war. Er hatte dicke, sinnlichrote Lippen unter einem hellstruppigen Bart.

Eine Weile wurde mir durch ein Geschiebe meiner Nachbarn jeder Ausblick vereitelt. Ich hörte nur die Rednerin, die mit Nachdruck deklamierte:

»Moderne Frauenliebe unterscheidet sich von der älterer Zeiten auch durch die Unermeßlichkeit der Forderung an ihre eigene Fülle und Vollkommenheit und an eine entsprechende Fülle und Vollkommenheit des Mannes!«

Gleich darauf gewann ich meinen Ausblick wieder.

Und siehe da! Meine kleine, allerliebste Slawin hatte die Richtung ihres Madonnengesichts leicht verändert und ihre schmachtenden Augen sogen sich fest und fester an der saftigen Gestalt des beschriebenen Gegenüber, die offenbar für sie die neue, unermeßliche »Forderung an Fülle und Vollkommenheit des Mannes« jäh erfüllte.

Mir huschte der ketzerische Gedanke durch den Kopf, daß vielleicht doch die ›neue Liebe‹ sich mit der alten in einen feststehenden Bestand von Menschlichem Allzumenschlichem werde teilen müssen. Da ergriff mich auch schon mein Baron beim Arm und führte mich weiter.

Es war reichlich spät am Abend. Ich versicherte den Baron, daß ich kaum mehr imstande sei, neue Erfahrungen in mich aufzunehmen. Umsonst! Mein Mentor bestand darauf, daß wir, nach der ›neuen Frau‹ und der ›neuen Liebe‹, noch einen Blick auf das ›neue Kind‹ werfen müßten.

Das › neue Kind‹ wurde in einer dritten Abteilung des Kongresses produziert und demonstriert. Für diese Kulturschöpfung hatte man, natürlich im Interesse der Objektivität, wieder ein Fräulein gewonnen, überdies eine Dr. phil. und selbstverständlich in der Schweiz promoviert. Von ihrer Erscheinung vermag ich nichts auszusagen, denn sie blieb mir dauernd verborgen, und ich war nachgerade der Anstrengungen müde, deren es bedurfte, um die jeweiligen Vorkämpferinnen von Angesicht zu schauen. Die Töne, die an mein Ohr schlugen, waren recht temperamentvoll und pathetisch.

Und die Worte!

Ach der Baron hatte ja so recht gehabt! Wahrhaftig: wir leben im Zeitalter des Wortes! Man könnte geradezu sagen – so überlegte ich bei mir, als es des Silbengeklingels immer mehr wurde – daß das Wort den Gedanken ersetzt. Fraglos ein gewaltiger Fortschritt für Redner und Hörer! Ein Fortschritt in die Tiefe des Reinmenschlichen! Denn so gewiß als das Wort der Natur näher steht als der Begriff und gar der Gedanke, so gewiß ist auch die Klangfarbe schöner Worte für moderne Menschen ein höheres Verständigungsmittel, schafft eine Verbindung feinerer Art von Seele zu Seele, als der dumme, rechteckige, nüchterne Vernunftsinn, der etwa in diesen Worten stecken könnte! Wie hatte doch kürzlich der Baron so treffend zitiert? »Dieses Abschweifen, diese allumfassende Leichtigkeit, welche die Ideen nur kurz zusammendrängt oder leise hinhaucht, diese klare Tiefe, diese leichte und doch inhaltsvolle Musik des Stiles ist das vornehmste Kennzeichen der Moderne!« Was sind ›Lieder ohne Worte‹ gegen solche ›Worte ohne Sinn‹?

Doch zurück zum ›neuen Kind‹! Ehe dieses Abschweifen der Moderne mich so befallen hat, daß ich ›die Hingabe an die werdenden Menschen‹, die doch das A und O sein soll, darüber vernachlässige – – denn, so hallte es jetzt eben durch die Gänge: »Nicht im Jenseits werden wir selig, sondern im Diesseits – in unsern Kindern und Kindeskindern!«

Ich zerdrückte eine Träne.

Es war eine Träne des Glücks über die neue Seligkeit. Welche Welt stak in dieser Verheißung! Unsre Väter und Vorvater, die Blindgeborenen, hatten das Jenseits gesucht und gesucht, und derweil hatten sie es schon geschaffen, als sie uns erzeugten! Wir waren das Jenseits vergangener Geschlechter, und künftige Geschlechter waren wieder unser Jenseits, und so die ganze Menschheit: nichts als zeugendes und gezeugtes Jenseits!

Und dann kam es wie eine Fanfare dahergeschmettert:

»Wir haben die Emanzipation des Arbeiters, wir haben die Emanzipation der Frauen; wer trägt die Fahne denen voran, die furchtsam, ihrer selbst kaum bewußt, lange, lange schon des Führers harren – den Kindern?!«

»Recht so!« rief ich beinahe laut und klopfte dem Baron begeistert auf sein Schlüsselbein, daß er seine stahlgrauen Augen unter der Brille weit aufriß und schmunzelte. »Recht so! Auch die Autorität der Eltern muß in Stücke gehauen werden! Warum gibt es noch keine Kinder ohne Eltern? Warum werden die Kinder bei der Wahl ihrer Eltern nicht befragt? Warum prüfen und prügeln sie ihre Lehrer nicht, statt umgekehrt? Warum – –?

Der Baron sah sich etwas ängstlich um und hielt mir die Hand vor den Mund.

»Still, still, Doktor!« flüsterte er und drängte mich vom ›neuen Kinde‹ weg, ehe es zu Ende geschaffen war …

»Wer verwandelt ihre Furcht in Empörung?« schallte es uns nach, »in Empörung gegen das Formelwesen der heutigen Schule, gegen die Knutenerziehung und – wenn es sein muß, gegen ihre Eltern selbst

»Da hören Sie!« sagte ich gekränkt. »Warum soll ich schweigen? Sind das nicht dieselben Resultate? Meine eigenen Schlüsse! Sind das –«

»Gewiß, Doktor!« warf er besänftigend dazwischen. »Sie haben einen gefährlichen Fehler, den Sie sich abgewöhnen müssen! Sie –«

»Sie nennen es einen Fehler, wenn ich …«

»Sie reden zu bestimmt! Sie fassen den Gedanken zu scharf! Statt sich mehr nur an die Worte zu halten! Sie müssen noch lernen, daß man die Ideen nur hinhaucht! Keine Konsequenzen! Um Gottes willen nicht diese altbackenen Konsequenzen!«

»Ach, die ›Musik des Stiles‹,« seufzte ich kleinlaut. »Ich verstehe Sie schon, das Abschweifen, die allumfassende Leichtigkeit, die klare Tiefe – o, wer sie schnell genug lernen könnte!«

»Wie meinen Sie?« fragte der Baron, denn ich hatte mich in Murmeln verloren.

»Nichts mehr, Verehrter!« entgegnete ich stracks. »Ich bin zu erfüllt.«

»Es wäre da noch eine sehr interessante Sitzung über die ›Dienstbotenfrage‹, Doktor!«

»Lieber Freund!« sagte ich so einschmeichelnd wie möglich, und zog ihn, meinen Arm ihm fest unterschiebend, die Treppe hinab. »Lassen Sie mich raten, was die ›neuen Dienstboten‹ auf dem Boden der neuen Kultur verlangen können, und ersehen Sie aus meinen Ansichten, wie mich der heutige Abend erleuchtet, an Erkenntnissen gefördert hat!«

Ich sprach mit so echter Warme und drückte seinen Arm so heftig an meine Hüfte, daß er sich zufrieden gab. Gleichzeitig holte ich auch schon zu meiner ›Dienstbotenrede‹ aus und begann mit Emphase:

»Die Dienstboten müssen, zum Ersatz für ihr unberechtigtes, der Menschheit unwürdiges Sklaventum, sämtliche Rechte der dienstherrlichen Familienglieder erhalten! Nur müssen sie noch delikater behandelt werden als diese selbst! Sie haben als Ehrengäste des Hauses zu gelten! Ehe sie ein Haus betreten, haben sie das Recht, die eventuelle Herrschaft auf ihre wirtschaftlichen und sittlichen Eigenschaften peinlichst zu prüfen. Ihr Lohn muß mindestens ein Drittel des vom Hausherrn versteuerten Einkommens betragen. Sie reden in allen Angelegenheiten mit und wahren immer und überall den Standpunkt, daß sie nicht um der Herrschaft willen da sind, sondern die Herrschaft um ihretwillen. Sie haben stündlich Ausgang. Ihre Liebhaber, Cousins oder sonstigen Freunde haben stündlich Zugang. Ihre etwaigen Kinder sind wie solche des Brotherrn zu behandeln, und die Hausfrau ist verbunden, deren Aufzucht möglichst zu erleichtern, nach Kräften zu unterstützen. Im Frühjahr haben sie eine Rivierareise zu beanspruchen, im Sommer Seebäder oder Gebirgsluft, im Winter Sankt Moritz mit Schneeschuhsport! Im Heiratsfall sind sie selbstverständlich auszustatten. Überdies erwerben sie sich vom ersten Dienst-Tage an eine Kranken- und Altersrente von mindestens fünf Mark täglich, die der Staat von der Herrschaft einzieht. Ihr Bildungsdrang ist in jeder Hinsicht zu befriedigen: Mutterschul-Kurse, Dienstboten-Hochschul-Kurse, Theater, Bier- und Symphoniekonzerte und so fort, und so fort. Kurz: die Pflichten sind Sache der Herrschaften, die Rechte aber …«

»Halt!« rief der Baron lachend. »Halt, Doktor: Was sagte ich Ihnen eben? Keine Konsequenzen! Sie gehen ja gleich wieder zu weit! Sie eilen noch über die Gegenwart hinaus. Sie vergeben Trümpfe und nennen Ziele, die –«

»Das kommt davon! Ich sehe eben die ›neue Magd‹! Die Magd der Zukunft, Baron! Sie haben mich ja heute belehren lassen, daß wir alles sub specie aeterni beziehungsweise futuri sehen müssen! Rein alles!«

Diesmal war es mir unzweifelhaft, daß er mich wirklich mißtrauisch und betroffen musterte. Einen Augenblick schnitt er einen verdammt häßlichen Mund und zog eine scharfe Stirnfalte.

Ich war wohl etwas zu weit gegangen in meiner Begeisterung.

Und doch hätte ich mich beim besten Willen nicht zügeln können. Die vielen Neuheiten hatten mir die Sinne verwirrt. Schon meine Meditation über die ›Worte ohne Sinn‹ war bedenklich gewesen. Jetzt vollends hatte sich meiner Phantasie der einfach unwiderstehliche Drang bemächtigt, das Vernommene noch durch kühnere Gebilde zu übertreffen.

Es war wirklich ratsam, mich so schnell wie möglich von meinem Geleitsmann zu trennen. Ich rief den nächsten besten Kutscher an, stammelte einige dunkle Worte, drückte dem Baron die Hand, stieg ein und fuhr davon – nur um meinen Freund nicht durch weitere Unbedachtsamkeiten an meiner Ehrlichkeit irre zu machen oder gar zu erzürnen. Ich besaß immer Zartgefühl im richtigen Moment …

Während ich so durch die nachtleeren, fast finsteren Straßen dahinsauste, machte mir der kühle Wind, verbunden mit einem erfrischenden Schneegestöber, den Kopf noch bedeutend freier und kecker, als er schon war. Ich hatte die Dreistigkeit, meine kritischen Gedanken fortzuspinnen. Ein eigenartiges Völkchen, dachte ich bei mir, diese Gegenwartsmenschen! Ein unternehmungslustiges Völkchen, ohne Frage! Da haben sie glücklich nach einigen tausend Jahren und mehr das bißchen Entwicklungsgeschichte aus der Natur, oder eigentlich nur aus ihrem eigenen Köpflein herausdestilliert; kommen sich deshalb eilends als unglaubliche, nie dagewesene ›Wirklichkeitsmenschen‹ vor, als Praktiker ersten Ranges. Und was tun sie, um ihren Wirklichkeitssinn so schlagend wie möglich zu erweisen? Ausgemacht aus lauter Theorieen, mit souveräner Verachtung jedes ursprünglichen Empfindens, züchten sie das ›neue Weib‹, die ›neue Liebe‹, das ›neue Kind‹ – fehlt nur noch der ›neue Mann‹! Oder sollte der vielleicht überflüssig sein? Für eine feminine Kultur, wie diese – wer weiß …?

Unvermittelt, wie das immer eine Unart meiner Einbildungskraft war, fiel mir plötzlich ein, wie ich am Morgen, von meinem Fenster aus, einem Eichhörnchen zugesehen hatte, das in einer benachbarten Loggia seinen Käfig hatte, und, in dem Wahne, vorwärtszuhüpfen, rastlos und ohne es zu wissen, immer nur das Rad drehte, in dem es gefangen saß. Wenn nun gewisse Lebewesen, die zufällig Menschen heißen, recht ähnlich …

Ich sollte mit meiner gefährlichen Reflexion nicht weiter kommen.

Eben fuhr ich um eine Straßenecke und sah im Schein der Laterne ein verliebtes Pärchen friedlich, trotz Wind und Wetter, seines Wegs ziehen. Potz Blitz – es stimmte! Es war meine entzückende, kleine Slawin mit den schmachtenden Augen am Arm des ›neuen Mannes‹ …

Da dachte ich mit Schmerzen an die Enttäuschung, die es absetzen mußte, wenn dereinst all die neuen Kinder zu neuen Menschen heranwüchsen, und dann doch wieder, wie durch ein Mißverständnis – die alten Kindsköpfe aufhätten!


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