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Der Baron hatte sich für den zweiten Tag unserer Kulturfahrt einen aparten Kontrast zum ersten ausgedacht. Schon um zehn Uhr am Morgen holte er mich aus den Federn – ich sage schon, denn nach den Gehörstrapazen des vergangenen Abends war ich erst weit hinter Mitternacht eingeschlafen und mit einem Brummschädel aufgewacht, den ich auf Rechnung des ›neuen Ohres‹ setzte.
Ich war noch recht dösig und graugestimmt, auch weidlich einsilbig, als wir durch die Stadt fuhren. Die Taxameterdroschke, in die mich mein Cicerone gepackt hatte, hielt schließlich vor einem mächtigen, braunroten Backsteinbau, und nach manchem Kreuz- und Querlauf über Treppen und Wandelgänge fanden wir uns in einem – Schwurgerichtssaal! Als solchen nämlich erkannte ich, nach einigem Augenreiben, den hohen, mäßig großen, menschenüberfüllten Raum, in dem wir unversehens, zwischen Gevatter Schuster und Handschuhmacher auf einer Tribüne saßen und der Dinge warteten, die da kommen sollten.
Gevatter Schuster und Handschuhmacher!
Das war denn doch nur mein erster unvollkommener Eindruck, den ich gleich im stillen abbitten mußte. Bei näherem Augenschein erwiesen sich nämlich die Zuhörer als eine durchweg auserlesene Gesellschaft. Der Baron verfehlte nicht, mich über meinen unwürdigen Irrtum sofort aufzuklären.
Nichts weniger als Schuster und Handschuhmacher! Vielmehr alles Leute von erklecklichem, staatsbürgerlichem Ansehen: etliche Geheimräte, unterschiedliche Offiziere in Zivil, Finanzgrößen, Literaturgrößen, Leuchten der Wissenschaft und Sterne der Politik! Und beileibe nicht nur Herren! Wie hätte auch sonst ein so berückender Duft von Parfümen die stickige Luft verklären können! Es saßen Damen dazwischen, Damen von einer Distinktion, die mich bedrückte, und von einer schlichten Pracht der Toilette und vornehm-hysterischen Mienen, die mich noch mehr bedrückten. So oft die Haupttüre des Saales aufging, wogten nervös die Federn ihrer Hüte und schlugen über den Glatzen ihrer beziehentlichen Ehemänner oder Hofmacher zusammen, blitzten die ringstrotzenden Finger und knackten die Lorgnetten. Dann verstummte für eine Sekunde das zarte Geflüster, das sanft hinüber und herüber schwirrte, um gleich darauf zu befriedigtem oder enttäuschtem Murmeln anzuschwellen.
Mein Baron nickte und lächelte und winkte nach allen Seiten vertraulich mit den Händen. Dabei nannte er mir erbarmungslos all die stolzen Namen bis hinauf zu den Logen, wo zwei diplomatische Exzellenzen mit einem – sagen wir vorsichtshalber – Unterstaatssekretär die Köpfe zusammenstreckten, und in der Loge daneben einige Damen der Hocharistokratie hinter einem Fächer lachten und sich mokierten. Irgend ein schlitzäugiger Prinz aus Japan oder Siam stand noch zu erwarten.
Ich hätte vergessen, wo ich mich befand, wenn nicht eben jetzt plötzliche Ruhe eingetreten wäre. So bekam ich einen freien Augenblick. Einige Köpfe und Damenhüte vor mir hatten die Güte, auseinanderzufahren: ich sah die Geschworenenbank, erhaschte mit einem ersten Blick den hohen Gerichtshof, der gerade Platz nahm, um die Verhandlung zu eröffnen, und – den Angeklagten!
Also das war Reuschel! Der berühmte Raubmörder Reuschel! Der Mann, der in aller Mund war! Den alle Zeitungen abgebildet und alle Reporter interviewt hatten! Der wochenlang eine hochlöbliche Polizei genasführt und damit ein hochlöbliches deutsches Publikum erlustigt und in atemloser Spannung gehalten hatte! Der sich mit seiner kühnen Flucht über Gott weiß was für Kornspeicher und Hausdächer, durch seine erfinderischen Verkleidungen und seine dreisten Allüren nicht nur zu einem, von der Knabenwelt angebeteten, neuen Apachenhäuptling, sondern zu einem allbewunderten Volksheros auszuwachsen schien!
Also das war Reuschel! Der kleine Mann mit den O-Beinen, auf denen ein schmächtiger Körper sich wiegte; mit dem plumpen, viel zu dicken Kopf, mit der gewöhnlichen, aufgestülpten Nase und den ewig zwinkernden Schweinsäugelchen; dem auffallend runden, niedrigen Schädel, der dünnbehaart nach dem Wirbel zurückfloh – das war Reuschel! – Daß doch in dieser unvollkommenen Welt immer die Erfüllung hinter der Erwartung zurückbleiben muß – auch bei ihren größten Männern!
Doch mit diesem Räsonnement stand ich allein. Wenigstens nach der fieberhaften Aufmerksamkeit zu schließen, mit der alle Augen, voran die weiblichen, diesen Großen der Nation verschlangen!
Und er wuchs! Die Bewunderung der andächtigen Hörerschaft, die er bisweilen mit einem jähen, leeren Blick streifte, ging offenbar als erhebende Kraft auf ihn über. Nur seine ersten Worte waren gedrückt und unsicher. Bei der Verlesung der Anklage, ja schon bei seinen ausgiebigen Vorstrafen gewann seine Selbstgewißheit zusehends, und bei Eintritt in die Tatverhandlung stand er da mit dem freimütigen Anstand eines Mannes, der weiß, daß er von der Hochachtung seines halben Volkes getragen wird.
Mit welcher Vorsicht aber auch, mit welcher Nachsicht, mit welcher – ich möchte fast sagen Zartheit – behandelte ihn der hohe Gerichtshof selber! Es war etwas mehr als Schonung in dem Tone, mit dem ihn der Vorsitzende befragte; in der Milde, mit der er seine herablassend-kurzen Antworten entgegennahm.
Dann hatte Reuschel das Wort. Er malte den Vorgang, wie er in seiner Erinnerung sich spiegelte. Mit jedem Satz steigerte sich seine Eleganz und Gewandtheit. Bald wußte er den Geist durch die geniale Sprunghaftigkeit seiner Ideen, bald das Gemüt durch die Empfindsamkeit seiner Gefühle zu überraschen. Selbstverständlich war nicht er der Täter, sondern der beliebte andere, ein Bekannter, ein Kollege, den er um keinen Preis verraten durfte – das ging gegen seine Ritterlichkeit, gegen seine Ehrenhaftigkeit als Verbrecher!
»Welch ein prächtiger Kerl!« »Welch ein begabter Kerl!« »Welche Haltung! welche Taktik – einfach famos!« so schwirrte es durch die hingenommene Schar der Hörer und Hörerinnen. Ein gereiftes Mädchen, eine Schriftstellerin, die in unsrer Nähe saß und meinem Baron bekannt war, mußte von ihrem Nachbar bei den Händen gehalten werden, um nicht zu klatschen – so begeistert war sie von dem o-beinigen Gegenstand ihrer psychologischen Studien. War es da zu verwundern, daß Reuschel selbst sich mit einer gewissen sarkastischen Hoheit einen geriebenen, einen schweren Jungen nannte, der manches auf dem Kerbholz habe – nur diesen Raubmord nicht! Er konnte ja schon jetzt aus warmen Blicken lesen, was ihm Hunderte von Briefen im Gefängnis zugerufen, was ihm aus Blumen und Eßpaketen geströmt, die täglich für ihn eingelaufen waren: er galt für ein Genie seiner Art, restlos und ohne Abzug.
Die Vernehmung des Angeklagten war zu Ende. Es folgte die Beweisaufnahme. Zuerst das Zeugenverhör. Hatte man vorher Gelegenheit gehabt, den großen Reuschel als geschickten und wirkungsvollen Rhetoriker kennen zu lernen, so entpuppte er sich jetzt als Dialektiker und Debatter von nicht geringerer Kraft. Erfahrene Verbrecher verstehen sich ja meistens auf die Kunst, Zeugen irr zu machen und einzuschüchtern. Aber die Sicherheit, mit der Reuschel zuweg ging, war unerreicht! Er hatte, wenn er sprach, immer recht und trieb seine Opfer durch virtuose Biegungen und Beugungen derart in die Enge, daß man sich oft besann, wer eigentlich auf der Armesünderbank saß: der Beklagte oder die Zeugen oder gar der hohe Gerichtshof selber. Dabei wußte er so spöttische und dann wieder so naivkomische Trümpfe auszuspielen, daß er auf der Zuhörertribüne wahre Lachsalven auslöste und sogar die gestrengen Herren am Richtertisch sich eines munteren Schmunzelns manchmal nur mit äußerster Selbstbeherrschung erwehrten.
In diesen Spiegelgefechten, denen alles mit einer Wonne und Befriedigung folgte, als säße man nicht mehr vor dem Angesicht der unerbittlichen Themis, sondern unter einem fröhlichen Zirkus-Schauzelt, erfand der Angeklagte Worte – Worte von einer so tiefdringenden Wahrheit, ja von so gesunder und echter Lebensweisheit, daß ein benachbarter Journalist sich die eifrigsten Notizen für ein bald darauf im Buchhandel erschienenes ›Reuschel-Brevier‹ sammelte. Einige der bestgeprägten sind mir im Gedächtnis geblieben: ›Wenn wir immer nur mit Möglichkeiten und Hypothesen arbeiten, kommen wir nie ans Ziel!‹ ›Unglaublich, wie leichtsinnig das schöne Geschlecht vor Gericht mit der Wahrheit umspringt!‹ ›Ich bitte, doch nach dem alten Justizgrundsatz zu verfahren: In dubio pro reo!‹ ›Jeder macht sich von der Sache ein Bild und hält nur seines für das richtige‹ – und ›die Behauptung, daß ich hier nur Schwindeleien vorbringe, stehe nicht fester als die, der Mond sei ein Pfannkuchen!‹
Eine kleine Mittagspause, in der man vor dem Gerichtsgebäude Atem schöpfen, einige Butterbrote verschlingen und die Ansichtskarte, auch die gerahmte Photographie Reuschels kaufen konnte, muß ich übergehen.
Es folgten die Gutachten der Sachverständigen. Sie waren nicht so genießbar und verdaulich, als die eben bezogene Stärkung, weil die schwierigsten und verzwicktesten Hypothesen der Kriminalpsychologie und Kriminalanthropologie in allen Schattierungen durch etwa sechs Vertreter sich bekämpften.
Wer vermöchte das Ergebnis aus diesem Durcheinander hochgeschraubter wissenschaftlicher Erkenntnisse zu ziehen!
Nur darin stimmten die verschiedenartigen Ansichten alle überein, daß ein bestimmtes Urteil, inwieweit und inwiefern der Angeklagte für seine Tat vollverantwortlich sei, nicht gefällt werden könne.
Der große Reuschel wurde noch größer: er zeigte sich jetzt als ein in jeder Hinsicht interessanter und abnormer Fall. Einem der Sachverständigen war es gelungen, seinen Stammbaum bis in den Anfang des achtzehnten Jahrhunderts zu verfolgen: Aus den erlauchten Ahnen des Hauses Reuschel und seiner Seitenlinien enthüllte sich eine Galerie von fünf Trunkenbolden, einem halben und einem viertel Idioten, zwei oder drei Schwindsüchtigen, einem Kleptomanen, zwei Homosexuellen, und wahrscheinlich auch – im vierten Glied mütterlicherseits in ungerader Verästelung – eines Räuberhauptmannes. Auffallend war nur, daß der Vater des Angeklagten ein unbescholtener, rechtschaffener Flickschuster und ebenso seine Mutter eine anständige Frau gewesen war. Aber die Entwicklung liebt ihre Sprünge. Und dann: Frau Reuschel hatte drei Jahre vor des Sohnes Geburt, bei einem Eisenbahnunglück, eine Gehirnerschütterung davongetragen. Das gab doch sehr zu denken.
Kurz: Elemente der erblichen Belastung waren zweifellos reichlich vorhanden. Aber der sichere Schluß, daß Reuschel das Gros seiner verbrecherischen Anlagen seinen Ahnen verdanke und also ein Opfer vergangener Sünden sei, ließ sich nicht recht daraus ableiten. Ebensowenig konnte man, auch bei voller Würdigung seiner hohen Gaben, mit Sicherheit feststellen, ob er moralisch defekt sei. Seine Zurechnungsfähigkeit bei der Tat war auch nicht gut in Abrede zu stellen. Mit anderen Worten: man wußte zu viel, um etwas Rechtes zu wissen.
Trotz dieser tiefgründigen Gutachten, trotz der glänzenden Witzfeuerkugeln des Beklagten selber, schien meinem einfältigen und sicherlich veralteten Rechtsbewußtsein denn doch die Schuld Reuschels an dem Raubmord in der Wacholdergasse fraglos erwiesen zu sein. Gleichwohl war ich überrascht, daß der Herr Staatsanwalt, der sich bisher sehr zurückgehalten hatte, der unzweideutigen Stimmung des hochgebildeten Publikums gar keine Rechnung trug und mit dem geistvollen Reuschel höchst unsanft umsprang. In meiner Umgebung empfand man ein Unbehagen sondergleichen, als der ältliche Herr mit dem nüchternen, hartgeschnittenen Kopf und den rücksichtslosen Augen in seiner Klagrede den allverehrten oder mindestens allbewunderten Helden als einen abgefeimten Spitzbuben zeichnete und mit kühler Bestimmtheit die Umstände zu einem Bild zusammenfaßte, dessen Wahrhaftigkeit überzeugend war und keinen Zweifel zuließ, daß Herr Reuschel eben doch – die Witwe Heineke in der Wacholdergasse in niederträchtigster, listigster Weise beschwatzt, überfallen, geknebelt, niedergeschlagen und ihrer paar Groschen beraubt habe. Er bat die Geschworenen ohne Umschweife, die Schuldfrage zu bejahen.
Als er geendigt hatte, rauschte ein Sturm der Entrüstung und des Unwillens über die Tribünen. Mein Baron zuckte, wie er es in solchen Fällen immer tat, die Achseln und meinte verächtlich: »Unglaublich, daß so veraltete Anschauungen in einem Rechtsstaat noch vorgetragen werden dürfen!« Dabei zeigte er mir einen sozialdemokratischen Berichterstatter, der eben schimpfend und mit hochrotem Gesicht seine Bank verließ, um für alle Fälle schon jetzt einen Bericht über ›Klassenjustiz‹ für sein Abendblatt zu telephonieren. Es war auch zu unglaublich!
Nur durch den energischen Hinweis des Vorsitzenden, daß der Gerichtssaal noch immer kein Parlament sei, wurde wieder einige Ruhe hergestellt und der Verteidiger des Angeklagten, ein jugendlicher, höchst beliebter Moderedner konnte das Wort zur Abwehr ergreifen.
Und er ergriff es! Nachdem er sein Haupt mit der strohgelben Lockenmähne leuenhaft geschüttelt und einen treuherzigen Blick aus den blauen Polenaugen von sich geworfen hatte, ließ er seine melodischen Worte wohlgefällig und kunstvoll durch den Saal auf- und abschwellen.
Seine erste Aufgabe war, Mitleiden zu erwecken. Nach der scharfen, rein verstandesmäßigen Rede des Staatsanwalts war es sehr angezeigt, zu einer gemütvolleren Auffassung überzugehen. Zu dem Ende mußte der bewundernswerte Reuschel jetzt von der Bildfläche abtreten, um dem bedauernswerten Reuschel Platz zu machen.
Ausgehend von der weniger geistreichen, als zeitwirksamen Phrase, daß der Mensch nur das Produkt seiner Verhältnisse sei, versetzte er die etwas wässerigen, psychologischen Theorieen der Sachverständigen mit kräftiger, soziologischer Würze. Man erfuhr mit Teilnahme, daß die Eltern Reuschel ihren hoffnungsvollen Sprößling in jungen Jahren mit übergroßer Härte behandelten und seine frühzeitig entwickelte Anlage, mein und dein zu verwechseln, statt durch liebreiches Zureden durch eine gehörige Tracht Prügel zu bekämpfen suchten, das heißt mit völlig veralteten, pädagogisch unhaltbaren Maßregeln. Durch eine so grundverkehrte Erziehung wurde der arme Knabe verschlossen und verbittert. Er mied das Elternhaus und wurde vorzeitig in den ›Kampf ums Dasein‹ hinausgestoßen – um so mehr, als auch die heutige schablonenmäßige Volksschul-Erziehung seiner Eigenart nicht die nötige Rechnung trug und so ebenfalls mehr verdarb als verbesserte. Seine nachfolgende Lehrzeit als Schlosser sollte ihm die erste Bekanntschaft mit den Gerichtsschranken vermitteln, eine Bekanntschaft, der er von da an unverbrüchliche Treue hielt. Sein Meister ertappte ihn bei der Kasse und brachte ihn, trotz reuiger Bitten, kurzerhand zur Anzeige! Welch ein Barbar! Im Gefängnis erhielt er die Nachricht vom Tod seines Vaters, dem die Schande das Herz gebrochen hatte. Es war bezeichnend für die ursprüngliche Güte seines Wesens, daß er bei dieser Trauerkunde einige Tränen von sich gab. Ganz auf sich selber gestellt, mußte der arme, schwache Jüngling nunmehr erbarmungslos seinen – natürlich pathologischen – Neigungen erliegen. Er war bald ein dauernder Gast unserer Strafanstalten.
Die Wangen des strohgelockten Anwalts entbrannten im Rot der Entrüstung, als er dazu überging, den entsittlichenden Tiefstand des Gefängnislebens zu kennzeichnen, wo die bejammernswerten Opfer krankhafter Neigungen, statt mit Liebe und Einsicht in ihre jeweiligen Persönlichkeiten, mit unnötiger Strenge gequält, schikaniert, als bloße Nummern behandelt werden!
Etliche Damen auf der Tribüne begannen sich zu schneuzen, und im Auge eines goldschweren Kommerzienrats, dem sein weiches Herz aus den fettverschwommenen Gesichtszügen leuchtete, meinte ich eine Träne blitzen zu sehen.
Dies war auch der erhebende Moment, in dem ein vor mir sitzender Verlagsbuchhändler den hochherzigen Entschluß faßte, mit dem Angeklagten wegen einer Selbstbiographie in Verhandlung zu treten.
Gehoben von der sichtlichen Rührung der Tribüne ging der Verteidiger von der ersten Aufgabe, Mitleiden zu erwecken, über zu seiner zweiten: aus dem Angeklagten den Ankläger zu machen. Nicht Reuschel war es eigentlich, den die erste Schuld traf, sondern es war – der Staat. Das wurde nicht so klipp und klar ausgesprochen, aber es mußte jedem Verständigen sonnenklar werden. Man hatte sich nicht damit begnügt, dem armen Menschen viele Jahre seines Lebens im Gefängnis und Zuchthaus zu vergällen: man hatte ihn auch noch durch Polizeiaufsicht und Ausweisungen wie ein verwundetes Wild aus jedem neuen Schlupfwinkel gehetzt, bis er immer wieder hinter Schloß und Riegel die einzige Heimat der Ausgestoßenen fand. Nein, nicht der arme Reuschel – die heutige Gesellschaft und ihre Einrichtungen waren hier schuldig: wie so viele vor ihm, war auch Anastasius Reuschel ein Opfer, ein Märtyrer der Gesellschaft!
Hatte schon ›das verwundete Wild‹ und ›die einzige Heimat der Ausgestoßenen‹ diese und jene weiblich-rührsame Seele zu verdächtigem Räuspern und Schlucken genötigt, so gingen diese Geräusche jetzt an verschiedenen Stellen in mehr oder minder verhaltene Schluchztöne über. Aus den Reihen der Männer aber drangen stolztrotzige Bravorufe, die sich der Vorsitzende verbitten mußte.
Das Plaidoyer des Verteidigers hatte seinen Höhepunkt erreicht. Mit erfreulicher Kürze ging er zur Sache selbst über und zerpflückte die Anklage im Vorbeigehen so gut es eben ging. Zum Schluß zog er noch einmal alle Register, spreizte seine sämtlichen Pfauenfedern und bestürmte die Geschworenen, durch einen Freispruch der edelsten Tugend unseres Zeitalters zum Siege zu verhelfen: der Humanität!
Im Zuschauerraum hatte man inzwischen begonnen, auf Freisprechung oder Verurteilung des Angeklagten Wetten einzugehen.
Reuschel verzichtete darauf, den effektvollen Worten seines Verteidigers schon jetzt etwas hinzuzusetzen. Infolgedessen replizierte der Staatsanwalt. Seinen Standpunkt fand man unerträglich. Er hatte eine ganz ungehörige Art, die Dinge beim Namen zu nennen, und als er gar soweit ging, den Geschworenen zuzurufen, sie hätten nicht die Humanität, sondern ihr Rechtsgefühl zu Rate zu ziehen; ja, als er meinte, die jetzt beliebte Auffassung vom Verbrechen führe folgerichtig dazu, alles zu entschuldigen, zu weichlicher, krankhafter Urteilslosigkeit, zum Geniekultus des Verbrechens – – da ruhten die Blicke der aufgeklärteren, gebildeteren Hörer mit unsäglichem Mitleid auf seiner Beschränktheit.
Das Hin und Wider der Repliken zwischen Verteidiger und Staatsanwalt begann zu ermüden. Die beiden übertrafen sich in selbstgefälligen Gereiztheiten. Bemerkenswert war nur noch, daß der erstere – empört über die Halsstarrigkeit seines Gegners, der sich gar nicht für seine Theorie vom Verbrechen als sozialer Krankheitserscheinung erwärmen wollte – eine amerikanische Depesche aus dem Busen zog und der staunenden Umwelt verkündete, es sei soeben einer pennsylvanischen Kinderschutzgesellschaft gelungen, den Beweis zu erbringen, daß man Diebstahl mit einer Lanzette und moralische Verkommenheit durch medizinische Behandlung heilen könne.
Leider unterbrach der Vorsitzende diese hochinteressanten Ausführungen mit der Bemerkung, es sei nicht angängig, die Verhandlung zu einer wissenschaftlichen Kontroverse auszuspinnen.
Zur allgemeinen Wiederbelebung der Sensation ergriff der Angeklagte Reuschel das Schlußwort. Er schien befangener als zuvor, sei es, daß ihn die ärgerliche Bestimmtheit des Staatsanwalts etwas verdutzt hatte, oder – was bei einem so großen Manne wahrscheinlicher ist – daß er durch ein bescheideneres Auftreten die Rührseligkeit, die sein Anwalt so glücklich hervorgerufen hatte, seinerseits vermehren wollte. Doch blieb er freimütig genug, um sich von seiner Bedeutung nichts zu vergeben. Auch jetzt wieder zeigte er sich rednerisch von der glänzendsten Seite. Am tiefsten ergriff er dort, wo er die ursprüngliche Zartheit seines Gemüts unter der verhärteten Kruste des Verbrechers durchschimmern ließ, und kaum ein Auge blieb trocken, als er beiläufig erzählte, wie er einmal die letzten Groschen – allerdings gestohlenen – Geldes einem Kind in die Hand gedrückt, das über seine in den Schmutz gefallene Butterstulle weinte!
›Man fragte sich unwillkürlich‹ – so schrieb der Herausgeber einer Wochenschrift in seinem Sitzungsbericht – ›ob nicht vielleicht eine solche Natur, reich in ihrem Widerspiel zwischen zartesten Empfindungen und härtesten Handlungen, mehr wert ist als der alltägliche Philister! Ob sie nicht gar in ihrer seelischen Unausgeglichenheit den Übergang, den unglücklichen Durchgangspunkt zu einer höheren, freieren Art von kommenden Menschen darstellt!‹ Ganz meine Meinung!
Reuschel schloß mit einem lauten Appell an die Geschworenen, deren Bänke er mit den Gebärden eines Helden angestikulierte, und rief die denkwürdigen Worte: »Wir leben in einem christlichen Jahrhundert und sollten einem nicht überführten Menschen nicht die Möglichkeit abschneiden, noch einmal ins Leben zurückzukehren!«
Das war zuviel. Die Begeisterung auf den Tribünen erreichte den Siedegrad und brodelte in hellen Sympathiekundgebungen über. Der Vorsitzende drohte mit Räumung. Während sich die Geschworenen ins Beratungszimmer zurückzogen, wurden dem Angeklagten von vielen schönen Damen Kußhände zugeworfen und einige beherzte Herren gingen soweit, ihre biedere Rechte, über die trennenden Schranken weg, dem Märtyrer der Gesellschaft anzubieten. Leider blieb ihm versagt, sie zu ergreifen, aber er lohnte seinerseits mit dankbaren Zeichen seiner Huld. –
Es dauerte recht lange. Noch immer öffnete sich die Tür des Geschworenenzimmers nicht. Die Schwüle im Saal war unerträglich. Obwohl ich auf die vorgeschrittene Zeit hinwies, ließ sich mein Baron nicht erweichen. Seit Stunden brannten schon die Lampen über uns; der Magen knurrte rebellisch. Ich meinte bescheiden, man könne vielleicht das Ergebnis der Verhandlung später in der Stadt durch Extrablätter erfahren. Da kam ich bös an. »Ich dachte, Doktor, Sie wären Idealist genug, um in weltbewegenden Stunden nicht an sich selber zu denken!« Demütig bat ich um Entschuldigung, und bekannte ehrlich, daß eben mein kriminalanthropologischer Idealismus erst heute – dank seiner Führung – aus der Taufe gehoben worden sei.
Und dann traten endlich, unter atemloser Stille, die Geschworenen herein.
Alle Ohren waren gespitzt, alle Hälse gereckt, alle Augen aufgerissen.
Im Gegensatz zu soviel Erregung sprach der Obmann mit ruhiger Stimme. Die Geschworenen erkannten auf – schuldig.
Die Wirkung glich nicht der des bekannten Funken im Pulverfaß, sondern einem kalten Wasserstrahl. Verblüffung und Enttäuschung mischte sich mit der, jetzt unverkennbaren, Abspannung: man war, wie es bei einem sensationshungrigen Publikum öfter vorkommen soll, mit einem Mal nicht mehr sonderlich interessiert. Die Gesichter nahmen da und dort den Ausdruck verächtlicher Blasiertheit an: man hatte ja gewußt, daß es so kommen würde! Es war gar nicht anders zu erwarten! Es war wie immer!
Und damit erhob sich ein beträchtlicher Teil des Publikums, der die Aburteilung nicht auch noch abwarten wollte, und drängte nach dem Ausgang.
Mein Baron gab sich ebenfalls das blasierteste Aussehen von der Welt, stand würdevoll auf, drehte der Verhandlung gähnend den Rücken, betupfte sich die etwas erhitzte Stirn mit dem schwarzgeränderten, duftenden Seidentuch, zupfte seine tadellose Halsbinde zurecht, zog den zweiten Glacéhandschuh wieder über und – trat dann, Gott sei Dank, mit mir den Rückzug an.
Auf den Gängen war es noch lebendig.
Es hatten sich einzelne Gruppen gebildet, die schon wieder ganz andere Dinge beredeten, als den Fall Reuschel.
Ein kleines Häuflein Begeisterter machte eine Ausnahme. In seiner Mitte stand ein Herr, der auf einem furchtbar dicken, kugligen Kopf ohne nennenswerte Züge einen schönen Zylinder wiegte, und immerwährend mit dem stählernen Knopf seines Spazierstockes vor seiner Umgebung hin und her fuchtelte.
Mein Baron, der den Mann mit dem dicken Kopf kannte, wollte vorbei.
»Holla, Herr Baron!« rief ihn der Treffliche an und stellte ihn kurzweg, indem er auch vor ihm den stählernen Stockknopf tanzen ließ. »Sie werden nicht fehlen wollen, wenn es sich um eine wohltätige Sache handelt!«
Der Baron verzog ein wenig das Gesicht und sagte höflich: »Bitte!«
»Es hat sich ein Komitee gebildet! Für Herrn Reuschel! Verstehen Sie? Wir zeichnen uns mit Beiträgen in eine Liste. Die Zukunft des Ärmsten selber ist durch die Großmut einer ungenannten Spenderin« – damit deutete er unschuldig und unzweideutig auf eine nahestehende Dame – »sichergestellt! Er wird zweitausend Mark Rente haben!«
»Sehr schön. Sehr edel,« erwiderte der Baron und sah sich die Dame an, die sicherlich anthropologisch und psychologisch noch schwerer zu begutachten war wie der große Reuschel. »Was noch?« setzte er nachdenklich hinzu.
»Es handelt sich darum, auch Reuschels Braut, die er nach Absitzung seiner Strafe voraussichtlich heiraten könnte –«
»Vorausgesetzt, daß er nicht lebenslänglich eingesponnen wird, oder gar –« der Baron vollendete mit der Bewegung des Halsabschneidens.
»I wo! Wird er nicht! Und wenn – die gebildeten Kreise müssen zeigen, was sie von einer solchen Strafrechtspflege denken! Übrigens wird Revision angemeldet, und –«
»Zeichnen Sie für mich hundert Mark!« unterbrach der Baron den feurigen Redner, nickte verbindlich, schob den stählernen Stockknopf und dann dessen Inhaber lächelnd beiseite und holte mich bei einer Säule ein, hinter der ich Schutz gesucht hatte, weil ich denn doch meine Reuschelverehrung noch nicht mit gutem Gewissen in Gold umsetzen konnte.
Wir stiegen die Treppen hinab und benutzten einen Seitenausgang, denn vor dem Haupttor staute sich der gebildete und der ungebildete Mob zu Tausenden und demonstrierte für seinen Reuschel.
Der Baron war wieder besserer Laune geworden.
»Zu dumm,« rief er aus, »daß das Volk, das da auf den Geschworenenbänken sitzt, noch immer sein unverschämt ›gesundes‹, altmodisches Rechtsbewußtsein hat – finden Sie nicht auch?«
»Zu dumm,« beteuerte ich lebhaft, »zu dumm! Ich bin Ihnen dankbar, Baron! Ich habe ungemein viel gelernt, auch heute!«
»Sagte ich's Ihnen nicht?« triumphierte er.
Wir traten über die Schwelle des Kriminalgebäudes.
»Speisen Sie mit mir bei Bariansky?« fragte er wohlwollend.
Ich sagte zu, und wir saßen gleich darauf im Wagen und fuhren ins Innere der Stadt.
Die winterlich frische Luft versetzte mich in die beste, gesprächigste Stimmung.
»Wir haben hier fraglos den interessantesten Typus des modernen Genies!« ließ ich mich hören, während ich die Füße behaglich unter die warme Decke steckte und die Augen vergnügt über die volkreichen, hellen Straßen schweifen ließ. »Ein Schulbeispiel nebenbei,« fuhr ich fort, »daß Genies keine Mirakel sind, wie man uns bisher weismachen wollte, sondern durchaus naturgesetzliche, gesellschaftlich bedingte Erscheinungen! Das ist auch – ebenfalls nebenbei gesagt – der Grund, warum man in der Gegenwart mit dieser Bezeichnung nicht so zimperlich und wählerisch zu sein braucht. Jeder andere Kopf kann ein Genie sein! Haben Sie noch nicht die verblüffende Steigerung origineller Physiognomieen beobachtet? Lauter Originalköpfe! Allein bei uns in Deutschland beinahe sechzig Millionen Originalköpfe!«
Der Baron sah mich von der Seite an, als mache ihn mein Enthusiasmus etwas mißtrauisch.
Ich eilte flugs zum Thema zurück.
»Wie man mit solchen Männern, wie diesem Reuschel verfahren müßte? Der Staat in seiner Rückständigkeit wird sie ja wohl noch eine Weile hinter feste Schlösser setzen. Aber das Volk muß aufgeklärt, muß mitgerissen werden! Die gesetzgebenden Körperschaften müssen bestürmt werden! Es gilt, die Gefängnisse in komfortable Krankenhäuser umzuwandeln! Bis auch diese wegfallen können! Bis – –«
»Sehr gut!« schmunzelte der Baron und sah mich durch seine Brillengläser unendlich befriedigt an.
»Ah – Sie machen mich noch zum Fanatiker der Gegenwart!« rief ich mit wachsender Wärme. »Man müßte so famose, begabte Menschen, wie diesen Reuschel, auf Händen tragen! Weg mit dem dummen, vernunftwidrigen Rechtsempfinden gegenüber so hervorragenden Männern! Sie vergehen sich ja nur, weil sie zufällig in ein Milieu hineingeboren sind, in dem sie sich und ihre Bedeutung nicht anders bemerkbar machen können! Stellt sie an verantwortungsvolle Stellen! Nehmt sie in die besten Kreise auf! Gebt ihnen Raum, und sie werden statt ›Verbrecher‹ – Moltkes und Bismarcks werden!«
»Jetzt delirieren Sie, Doktor!« sagte mein Begleiter mit jenem meckernden Lachen, von dem ich nie recht wußte, ob es ernsthaft oder spöttisch war.
Er klopfte mir aber dazu so anerkennend auf die Schultern, daß ich mich nicht irre machen ließ. Heiter wie ein Olympier fuhr ich fort:
»Soviel steht nach allem fest, was Sie mir heute zu zeigen die Güte hatten: es wird bald eine Lust für jeden sein, ›Märtyrer der Gesellschaft‹ zu heißen!«
Der Wagen hielt. Wir stiegen aus und verschwanden gleich darauf – einen dichten Strom von Vorübergehenden durchquerend – im Vestibül von Bariansky.