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Viertes Kapitel.
Christliches Allzuchristliches.

Der Rentner Sonnenglanz, mit seinem vollen Namen Reinhold Bellarmin Sonnenglanz, war mit irdischen Glücksgütern so reich gesegnet, daß er sich kaum einen materiellen Genuß zu versagen brauchte. Um so lobenswerter war es, daß er seinen Eifer auch in die Gewinnung geistiger Genüsse setzte, und zwar ganz erlesener geistiger Genüsse!

So hatte er sich fest und unabänderlich in seinen Kopf gesetzt – ein modernes Religionsgespräch zu veranstalten.

Ein modernes Religionsgespräch! Unser Reinhold Bellarmin Sonnenglanz war einer von den beneidenswerten Optimisten, die der wonnigen Überzeugung leben, daß eigentlich alle geistigen Gegensätze der Welt nur auf – Mißverständnissen beruhen. Diese Meinung war ihm besonders unerschütterlich auf religiösem Gebiet. Da sich ihm selber alle Bekenntnisse der Vor-, Mit- und Nachwelt in einem beseligenden Dunst von Übereinstimmung und friedlicher Gleichheit aufgelöst hatten, so glaubte er, wenn es ihm nur erst gelänge, die verschiedensten Spezies, und zwar für diesmal vornehmlich der christlichen Theologie, zur Aussprache bei sich zu versammeln, so könnte die Verständigung und gemeinsame Erhebung zu seinem großartigen Standpunkt gar nicht ausbleiben.

Es war ihm gelungen. Erfreulicherweise fiel die Erfüllung seines Lieblingswunsches in meine ›Kulturwoche‹, wie der Baron sie scherzhaft zu nennen liebte.

In Reinhold Bellarmins pomphafter Vorort-Villa hatte sich die fabelhafte Gesellschaft versammelt, und mein Freund, der natürlich mit Sonnenglanz auf vertrautem Fuße stand, machte mir das Vergnügen, mich in diese seltene Versammlung einzuführen.

Entgegen den bisherigen Milieus, mit denen mich der Baron bekanntgemacht hatte, erwartete uns hier eine gewisse Gemütlichkeit. Wenigstens fürs erste.

Ein ausgezeichnetes Religions-Festessen, das dem geistigeren Teil des Abends in nichts nachstand, übte die vom Gastgeber sicherlich feinberechnete Wirkung, daß das Mißtrauen, mit dem die einzelnen Parteigrößen sich bei der Begrüßung gemessen hatten, in eine erste Einhelligkeit sich löste: es war die allen Richtungen gemeinsame Anerkennung der deliziösen Sonnenglanzschen Küche, die in einem namhaften Appetit, in befriedigtem Schmunzeln und schließlich sogar in einer neutralen Unterhaltung über kulinarische Genüsse an den Tag trat.

Nachdem man vom Tisch aufgestanden war und sich in sinnbildlicher Verbrüderung die Hände gereicht hatte, nach einem Verdauungslikör und bei einer ff. Importzigarre – traten die ersten Gruppenbildungen hervor. Ich fühlte mich leicht beklommen; der Anblick so vieler Geistlichkeit rief bei mir das recht triviale, aber unfreiwillige Gefühl hervor, es möchte auf mich etwas abfärben. Das rührte von meiner dummen alten Abneigung gegen das Schwarze, die ich sogar in so feierlicher Stunde nicht ganz los werden konnte, – zumal sogar der Baron, der ausnahmsweise heute einen Gehrock trug, mir ein zugeknöpftes pastorales Wesen zu haben schien, und das um so mehr, je länger wir uns in diesem eigenartigen Kreis aufhielten.

Allmählich bemühte sich auch Sonnenglanz sein joviales Wesen in stilvollere Gemessenheit zu verwandeln. Und nun währte es nur noch kurze Zeit, bis wir uns in einem neuen, weiten Gemach vereinigten und um einen bänglich langen Tisch Platz nahmen.

Am oberen Ende etablierte sich Sonnenglanz als Präsidium. Rechts von ihm ein greiser Pastor von mächtigem Körperbau, die Hand immer auf einen Krückstock gestützt, den seine Gicht nötig machte; er hatte ein starkgeschnittenes, derb- aber großzügiges Gesicht, aus dem eine Adlernase und ein breites Kinn gebieterisch hervorsprangen. Noch gebieterischer, rechthaberischer blickten zwei graue, bald feuerglänzende, bald eisspitzenstarre Augen. Seine Stirn war überschattet von dichten, schlohweißen Haaren, die lang über den Kopf herabfielen und sich in Ringeln auf seinem Rockkragen stießen. – Links von Sonnenglanz saß ein mittelgroßer Mann von knochiger Gestalt und eben so knochigen Zügen. Seine lebendigen, allsehenden Augen lagen tief und heiß in den Höhlen. Sein Alter war unbestimmbar. Nach Schnitt von Kleid und Haar war er unverkennbar katholischer Priester. Er bewegte sich auffallend gewandt, lächelte oft verbindlich und hatte feine, trotz seiner sonstigen Knochenhaftigkeit, glatte Hände.

An diese beiden schlossen sich, bis herunter zu uns, die übrigen Gäste.

Während neue Erfrischungen gereicht wurden, räusperte Sonnenglanz wiederholt in die zunehmende Stille hinein. Dann nahm er den entscheidenden Anlauf und wandte sich mit vergnügtem Nicken zur Rechten.

»Herr Pastor Schwertbauer, Sie als der Älteste stellen uns wohl das Thema?«

»Es sei,« rief der Pastor nach kurzem Bedenken, »man muß den Stier bei den Hörnern fassen und dem Belial hinter die Larve greifen! Was dünket euch von Christo? sei das Thema!«

Dabei blickte der alte Herr mit kampflustigem Grimm um sich, als wollte er die Manipulation des Hörnerfassens und Belialentlarvens gleich an jedem beliebigen Gegner erproben.

»Welch ein Bauer! Altgläubig natürlich!« flüsterte mir der Baron zu.

»Ich denke, wir sind einverstanden,« sagte Sonnenglanz verbindlich und blinzelte fragend nach allen Seiten. »Schön,« setzte er hinzu, als kein Widerspruch laut wurde, »und Sie Herr Pastor, haben die Güte, zuerst zum Thema zu reden!«

»Die Güte hab' ich!« antwortete es rechts mit rauher, fester Stimme. »Was ich glaube, ist die volle, lautere Botschaft unseres Bibelbuchs, kein Titel mehr und keiner minder! Ich glaube, was jeder von uns hätte in der Schule lernen können und worum zu streiten unter Christenmenschen sollte kein Grund sein: daß Jesus Christus ist der eingeborene Sohn Gottes, wahrer Gott und wahrer Mensch, der uns erlöst hat und versöhnt mit dem Vater durch Kreuzestod und Auferstehung – da drauf leb' ich und da drauf sterb' ich!«

Der alte Pastor hatte die Arme auf Tisch und Stock gestemmt, während er so sprach; seine Stimme war feierlich, von verhaltenem Groll durchzittert und von herbem Stolz gehoben; seine Blicke schweiften feurig über den Tisch hin und bei den letzten Worten stieß er den Krückstock hart auf den Boden, als wollte er ihre Wucht noch besonders bekräftigen.

»Welch ein Knorren!« klang es, schlecht unterdrückt und spitzig von der anderen Seite des Tisches.

»Den Knorren nehm' ich an, Bruder!« rief Schwertbauer zurück. »Ein Knorren der Mann, ein Knorren das Bekenntnis!«

»Schön gesprochen, Pastor!« ließ sich mit lustigem, spöttischem Ton der linke Nachbar des Knorrens vernehmen, der Bruder von Reinhold Bellarmin, ein kleiner, wohlgenährter Arzt mit keckblitzenden Äuglein. »Schön gesprochen! Bloß frißt's nicht jeder so leicht mit Haut und Haar!«

»Ganz richtig, Herr Doktor Sonnenglanz! Ganz richtig, meine Herren!« mit diesen Worten erhob sich jetzt ein Stadtpfarrer – derselbe, der Schwertbauer mit einem Knorren verglichen hatte – ein Mann mit kluger, scharfer Miene, aber unheimlich nervös und mit einem Organ begabt, das wie toll von unten nach oben lief, dann umschnappte und wieder zurücksank. »Was der Herr Vorredner mit einem übermäßigen Aufwand von Überzeugung –«

»Danke, Bruder!« unterbrach ihn Schwertbauer. »Mit der Überzeugung hält's jeder so gut er kann; wer wenig hat, braucht wenig aufzuwenden!«

»Was der Herr Vorredner aussagte,« fuhr der Stadtpfarrer mit noch spitzerer Betonung fort, »ist uns allerdings von Kindheit an sattsam bekannt. Es sind die üblichen, handfesten Bauernbegriffe, die auch für die Kindheit der Menschheit recht und gut gewesen sein mögen. Der moderne Mensch« – er machte bei diesem modernen Menschen eine Handbewegung, die offenbar das Überlegen-Moderne versinnbildlichen sollte, aber verzweifelt schulmeisterlich herauskam – »der moderne Mensch, die Großmacht der Gebildeten weiß mit diesen materialisierten, grobschlächtigen, versteinerten Dogmen nichts mehr anzufangen! Er –«

»Zieht die Unklarheiten vor!« rief der Pastor dazwischen.

»Ich bitte, den Herrn Redner nicht zu unterbrechen,« sagte Sonnenglanz mit einer strahlenden Würde, die sich sichtlich einem Parlamentspräsidium nachbildete.

»Der moderne Mensch,« begann mit zunehmender Gereiztheit unser Stadtpfarrer von neuem, »der durch die Errungenschaften der Gegenwart seinen Blick erweitert, durch die Erkenntnisse der Naturwissenschaften« – die Naturwissenschaften veranlaßten ihn zu einem tiefen Bückling, der seinem schwarzen Hornzwicker das Gleichgewicht kostete – »seinen Blick verschärft hat, gewinnt zu diesem übernatürlichen Christus und seinen übernatürlichen Heilstaten kein Verhältnis mehr!«

»Kurz, Bruder, was dünket Euch von Christo?« polterte der Pastor wieder dazwischen, zum Entsetzen von Sonnenglanz, der ihn begütigend am Arm nahm, aber zurückgeschoben wurde.

»Deshalb muß die moderne Theologie« – die Worte des unterbrochenen Redners überstürzten sich jetzt – »sie muß vom Menschen Jesus ausgehen! Ihre Grundlage – ihr Dogma, wenn ich so sagen darf, ohne mißverstanden zu werden – ist die historische Kritik

»Eine sehr positive Grundlage!« rief eine unbekannte Stimme dazwischen.

»Die historische Kritik, die die Persönlichkeit Christi klarstellt und, weil persönliches Leben nur durch persönliches Leben geweckt wird, eben diese Person in den Mittelpunkt des Glaubens rückt.«

Der arme Stadtpfarrer rang nach Atem. Er hatte offenbar noch viel zu sagen. Aber der brave Mann hatte mehr theoretischen, als praktischen Verstand: es wollte nicht alles so heraus, wie er es wünschte, und deshalb setzte er sich mit einem wütenden Blick auf den streitbaren Knorren. Unter Gelehrten hatte er gewiß seinen Mann gestellt!

»Ist das alles, Herr Bruder?« donnerte Schwertbauer über den Tisch. »Ist das Ihr ganzes Bekenntnis? Dann mögen Sie ein trefflicher Mann sein, aber Christ sind Sie keiner! Und christlicher Seelenhirt erst recht keiner!«

»Ruhe! Ruhe!« ließ sich Reinhold Bellarmin Sonnenglanz vernehmen, »Sie schütten das Kind mit dem Bad aus, lieber Pastor! Das Wort hat Herr Parochialvikar Doktor Janssen.«

Gleichzeitig erhob sich, in unmittelbarer Nähe des Stadtpfarrers, ein hochaufgeschossener, semmelblonder, rosenwangiger Jüngling. Trotz seines lieblichen Aussehens und einer sanften, engelhaften Stimme begann er in einem hochfahrenden, herablassenden Ton damit, daß er ausfiel gegen das ›Befiehl du deine Wege-Christentum mit seinen treuherzigen Liedern und Sprüchlein‹, die ›liebe Volkstheologie, die den lieben Gott überall mit seinen Engeln helfen läßt, wo ein Kind ins Wasser fällt‹ und ›die alten Stücklein von dem lieben, guten Gott!‹

Ich sah mir dabei den altgläubigen Donnerer an. Seine Augen hatten jetzt die eisige Härte angenommen, und seine Stirnader schwoll. Er wäre im nächsten Augenblick losgebrochen. Da kam ihm aber ein unerwarteter Helfer in Sonnenglanz, dem jüngeren, der plötzlich kühl dazwischen sagte:

»Herr Janssen, ich stehe nicht gerade gut mit dem Christentum; dafür bin ich bekannt. Aber Sie belieben geschmacklos zu werden. Verzeihen Sie, Herr Janssen!«

Der Parochialvikar lächelte verlegen.

»Man kann dem Bollwerk der sogenannten Heilstatsachen, diesem Spielwerk von Wundern und Heiligkeiten, nicht anders zu Leibe, als mit dem kritischen Hammer der modernen Theologie!« Und nun schwang Herr Janssen diesen Hammer, zwar mit weniger Ironie, aber mit dem gleichen Maß von ›Geist‹, wie er sagte, den er gegen den ›Materialismus von links und rechts‹ ins Feld führte. Er war bestrebt, unterhaltend zu sein. Dazu diente ihm zweierlei: ein gesuchtes, elegant sein wollendes Deutsch, das sich mit den Kenntnissen der verschiedensten Gebiete spreizte, und das Liebäugeln mit den Gedanken Nietzsches, worin bekanntlich die Leute am stärksten sind, denen der Übermenschenprophet die meisten Fußtritte zugedacht hatte.

Der semmelblonde Parochialvikar redete endlos.

Dreiviertel seiner einstündigen Predigt weihte er dem erwähnten neuen Dogma der ›historischen Kritik‹, indem er ›den schäbigen Dualismus‹, ›die zum Spott prädestinierte Jungfrauengeburt‹, ›die handfeste Auferstehung‹ – kurz, die bisherigen Werte des Christentums ebenso gründlich als verständnisvoll zerzupfte.

Der alte Schwertbauer war aus seiner jähen Heftigkeit in einen grimmigen Humor verfallen. Trotz der friedsamen Vorstellungen des Präsidiums pflegte er mit seiner Krücke hier und dort zu den Worten des Parochialvikars den Takt zu schlagen, um, wie er vernehmlich brummte, ›dem kritischen Hammer schlagen zu helfen‹!

Man begann zu gähnen. Sogar der sinnverwandte Stadtpfarrer hatte den Hornzwicker abgenommen und rieb sich ermattet die Augen. Der katholische Priester lächelte still vor sich hin und rührte sich nicht. Um so unruhiger wurden wir anderen, den Baron ausgenommen, der mit einer mir neuen, inbrünstigen Andacht die Worte von den Lippen des rotwangigen Zerhämmerers ablas und in sich schlürfte.

Endlich riß selbst dem Präsidenten der Geduldsfaden, zumal er sah, daß sein Bruder, der ärztliche Sonnenglanz, mit dem Einschlafen kämpfte. Er sagte, so mild er konnte:

»Im Interesse der übrigen Herren Redner möchte ich den verehrten Herrn Parochialvikar bitten –«

»Zur Sache zu kommen!« platzte der Pastor heraus, »und uns zu sagen, was er eigentlich glaubt. Was er nicht glaubt, wissen wir genugsam!«

Der Vikar lächelte wieder halb verlegen, halb selbstzufrieden. Ich dachte, er würde zum Schluß kommen und hustete vergnügt.

Aber er fing jetzt erst recht an.

»Wenn uns auch das Positive nicht so als Erleuchtung kommt, wie gewissen Leuten von der Rechten, so haben wir von der Mitte doch auch unser heiliges Land: unser Jesusbild!«

Und o Schreck! er hub jetzt an, sein, wie er fest meinte, ›historisches‹ Jesusbild zu entwickeln, ungefähr in den Farben eines bekannten, friesischen Expastors, an dem wir einen Dichter verlieren durften, um einen Luther in der Westentasche dafür einzutauschen.

Es war eine Lust, zu hören, wie der mundflinke Vikar die Persönlichkeit Christi aus der ›Wunderverhüllung‹ löste! wie er mit ihrer Seele, ihrer Innerlichkeit, ihrem Übermenschentum, ihrer sittlichen Intuitivität, ihrem Genius, dem religiösen Genie an sich – jonglierte! Und wie er dann den Menschen Jesus zusammen- – nicht kleisterte, sondern baute, aus den Ergebnissen der exakten Forschung! Als ›die Grundlage deutscher Wiedergeburt‹, wie er anspruchslos versicherte! Recht und schlecht, nüchtern, dann sinnlich, dann sentimental – in allem das gute Abbild eines Heilands von Philistern für Philister! Noch sehe ich vor mir die gelungene Zeichnung des Kleinhandwerkermilieus in Nazareth und des pharisäischen Oberkirchenrats! Und das vorgetragen in der kokett-schlichten Art, die ans Gemüt greift! Erhebend aber und zeitlos das Ergebnis, das eigentliche Bekenntnis, das immer wieder in dem stolzen Refrain ausklang, mit dem die Mittelmäßigkeit selbstgefällig Götter und Genies zu sich herunterholt: »Er war ein Mensch, er war ein Mensch – ein Mensch war er, wie wir!«

Mit einem geräuschvollen Ruck hatte jetzt der altgläubige Pastor sich an seinem Krückstock aufgeschwungen und stand, Auge in Auge, seinem semmelblonden Gegner hoch aufgerichtet gegenüber. Keuchend und schwer, wie aus Stein gebrochene Stücke, schleuderte er seine Worte über den Tisch:

»Ist das euer ganzer Bettel? Dafür habt ihr jahrzehntelang am Gotteswort kritisch gesägt und kritisch geleimt, damit unser Herr und Heiland ein Stümper werde, wie ihr? Und solch ein Bekenntnis heißt sich noch christlich? Und solche Bekenner, nein, solche Verräter der lauteren Wahrheit werden noch die Herde des Herrn? Verflucht sei …«

Der alte Herr kam nicht weiter. Seine maßlosen Worte wurden in einem grauslichen Tumult verschlungen. Alle, außer Sonnenglanz dem Arzt und dem katholischen Priester, waren aufgesprungen und eiferten in verworrenem Geschrei gegeneinander. Vergeblich schwang Reinhold Bellarmin die Präsidialglocke, die er sich, weiß Gott woher, zur Hebung seines Ansehens beschafft hatte. Der nervöse Stadtpfarrer sprudelte über die Tafel. Der rosenwangige Dauerrede-Jüngling begleitete ihn mit seinem eintönigen, silberhellen Wortwasserfall. Neben ihm war ein schmächtiger Volksschullehrer, der sich bisher ziemlich ruhig verhalten und nur mitunter ungeduldig an seinen rötlichen Bartstoppeln gezupft hatte, ins Delirium verfallen und suchte mit einer grellen Stimme durchzudringen, indem er bald seine Nachbarn von der modernen Theologie, bald sein Gegenüber, den alten Schwertbauer, anschrie und angestikulierte. Der letztere hatte seinen Stuhl wie eine Brustwehr vor sich aufgestellt, krampfte sich daran fest, und begann die Krücke hoch und höher zu heben: im nächsten Augenblick konnte er sie mit dem Ruf »Hie Schwert des Herrn und Gideon!« über seinem zornglühenden Haupte schwingen. Mein Baron blieb verhältnismäßig still, rief aber, um nicht müßig zu sein, immerwährend: »Silence! Silence!« in den tobenden Kampf hinein; freilich mehr, als wollte er ihn damit anfeuern, denn besänftigen. Er lächelte wenigstens höchst malitiös dazu.

Es gehört zu den tröstlichsten Wahrheiten einer praktischen Lebensweisheit, daß auch das Schlimmste vorübergeht. Schließlich sollte es dem läutenden Sonnenglanz gelingen, mit seiner Glocke den Lärm niederzutönen, und während die Gegner zur Rechten und Linken in leiblicher Erschöpfung niedersanken, stand er, leuchtend vor Siegesfreude über einen solchen Erfolg seiner Präsidentschaft, wenn auch schweißüberglänzt und klatschmohnrot da und rief:

»Meine verehrten Herren! Es verträgt sich nicht mit der Sitte des Hohen Hauses – des Hauses,« verbesserte er seinen parlamentarischen Stil »und ist wider alle Geschäftsordnung, daß mehr als ein Redner das Wort hat. Auch muß ich freundlich bitten,« dabei lächelte er wie die liebe Morgensonne nach rechts und links »von persönlichen Injurien möglichst abzusehen und sich nur sachlich, nur sachlich, meine Herren, zu bekämpfen! Eine Verständigung scheint mir nicht im mindesten ausgeschlossen!«

»Sie ist und bleibt ausgeschlossen!« grollte der Pastor, der eine kleine Pfeife aus der Brusttasche geholt hatte, sie entzündete und die Dampfwolken von sich blies, als wollte er zwischen sich und seine Widersacher die Wolken Jehovas werfen.

»Sie ist ausgeschlossen!« begann jetzt der Volksschullehrer, während er sich erhob und fortgesetzt sein dünnes, viel zu geräumiges Feströcklein über den Lenden zurechtstrich. »Ausgeschlossen, weil der historische Jesus der modernen Schule ebenso unwissenschaftlich ist, wie der altgläubige – ungenießbar!«

Und jetzt wurde, um das Maß der Einigkeit vollzumachen, die Weisheit aufgetischt, die im Bremischen das Licht der Welt erblickt hat.

Nachdem es sich der große Stifter des Christentums hatte gefallen lassen müssen, aus einem Gott in einen religiösen Genius, in eine unerhörte Persönlichkeit, einen Helden von deutscher Feuerseele, einen Menschen, wie wir, verwandeln zu lassen, erging es ihm jetzt am schlimmsten: Unter den Händen eines Überaufklärers, der sich nicht auf das Dogma der Kirche und nicht auf das der historischen Kritik, sondern auf das der ›soziologisch-materialistischen Geschichtsgesetze‹ verschwor, wurde auch vollends sein Menschentum vernichtet. Er verwandelte sich – ein logisches Kunststück, vor dem sich jeder Gebildete in Andacht mit mir neige – vom Materialismus idealisiert, in eine soziale Idee! Nachdem ihn die vereinigten Jesusbilder-Theologen mühselig aus dem absoluten Prinzip der Rechtgläubigkeit als Menschen herausgewickelt hatten, durfte er jetzt sich als soziologisches Prinzip wiederfinden: er war nichts, als die personifizierte Idee der römischen Kirche, und seine Geschichte ließ sich symbolisch – das eben war das strengmaterialistische an dieser Originalauffassung – in allen Phasen deuten als die Geschichte einer proletarischen Volksbewegung!

Das war mein Mann! Welch ein Tiefsinn! Welch eine Gesetzmäßigkeit! Welch eine neue Unfehlbarkeit der historischen Methode! Ach – zur Wahrheit, zur absoluten Wahrheit wird doch alles erst, wenn es sozialisiert, soziologisiert, sozialethisiert – – wenn es zum Gattungsbegriff wird!

Und welch ein Ausblick! Wie wird die Geschichte sich beleben und erleuchten, wenn all die widerlich-großen Einzelmenschen, die verdammten Geniusse sich entschleiern als lauter Ideen der einen, heiligen Masse!

Eben malte ich mir mit stiller Begeisterung aus, wie erhebend es ein Friedrich der Große, ein Napoleon, ein Bismarck, ein Beethoven – und ein Nietzsche gar – noch im Grab empfinden müßten, dereinst ein Einfall von Massengnaden gewesen zu sein! Ich wollte weitermalen; da schloß viel zu früh der geistvolle Volksschullehrer, indem er fürsorglich die Schwänzchen seines Festrocks beiseite zog und sich mit befriedigtem Räuspern als der Hellste, der Freieste unter so viel Gebundenen niedersetzte.

Noch ehe ein neuer Sturm losbrechen konnte, sobald er merkte, daß der Redner den Anlauf zum Schlusse nahm, war diesmal Sonnenglanz aufgestanden. Nach dem letzten Wort schwang er die Glocke so nachdrücklich und eindrucksvoll, daß es ganz stille blieb.

»Meine Herren,« sagte er mit sichtlichem Wohlgefallen, »falls sich niemand mehr als Hauptredner zum Thema meldet, eröffne ich die Diskussion.«

Es meldete sich niemand, und Sonnenglanz fuhr fort: »Zur Diskussion stehen, wenn ich recht verstanden habe, drei Anschauungen: – Christus als Gott beziehungsweise Gottessohn; Christus als Mensch und nur als Mensch; Christus als soziologische Idee.«

Armer Sonnenglanz! Kaum war ihm diese reinliche Scheidung entfahren, als auch schon die sämtlichen Vertreter in lautem Durcheinander protestierten, aus dem nur einige Schlagworte deutlich bis zu uns herunterdrangen.

»Nichts da!« wetterte der Pastor, »Christus wahrer Gott und wahrer Mensch – das ist Christentum! Sonst nichts!«

»Kirchentum ist das, nicht Christentum!« flötete der Parochialvikar.

»Nicht nur soziologische Idee: geschichtliche Tatsache! Absolute geschichtliche Tatsache!« schrie wie ein Ertrinkender der brave Volksschullehrer.

»Nein! Nein! Nein! Nein! Alles nichts! Alles falsch! Alles einseitig!« querulierte der theoretische Stadtpfarrer in den verschiedentlichsten Tonarten, und offenbar, weil er bei seinem Erstauftreten zu kurz gekommen war, setzte er diesmal seine ganze Lunge daran und behauptete auch das Feld, um auseinanderzusetzen, daß er eigentlich – alles nicht so gemeint habe.

»Ihnen ist die Situation zu klar, nicht wahr Stadtpfarrer?« spottete Sonnenglanz, der Arzt.

Der Angeredete fand aber keine Zeit, darauf zu erwidern, sondern erklärte mit endlosem, gelehrtem Schwall, daß für ihn und seine Gruppe Christus eben doch mehr sei als bloß ein Mensch –

»Wo bleibt da die Konsequenz! Das heißt Drückebergern!« fiel ihm sein ehemaliger Mitstreiter, der Semmelblonde, in die Seite.

»Nein, nein!« wandte sich ersterer wieder heftig dagegen. »Christus offenbarte in sich das Göttliche am höchsten, reinsten!«

»Also doch Offenbarung,« rief höhnisch der qualmende Pastor.

»Nein, nein!« eiferte der Stadtpfarrer.

»Nichts von Offenbarung! Hinaus mit der Offenbarung! Halbheit! Charakterlosigkeit!« schrieen wie aus einem Munde der Parochialvikar und der Volksschullehrer. Und Sonnenglanz, der Präsident, hatte wieder all sein parlamentarisches Geschick aufzuwenden, um endlich seinem Bruder das Wort zu verschaffen, der, beide Hände in den Hosentaschen, mit dem verschmitztesten Gesicht von der Welt, schon eine Weile dastand, die Streiter lachend betrachtete, und dann anhub:

»Ich bin nicht Partei, meine Herren! Ich halte es mit den lachenden Griechen!«

»Alter Sünder,« brummte mit gutmütigem Grimm der Pastor.

»Zugegeben!« fuhr der Sünder lustig fort. »Lieber ein Sünder nach meiner Fasson, als ein Seliger – na! – eben nach einer anderen! Ich will artig sein. Ich verschlucke meine prinzipiellen Bosheiten und bleibe bei der Stange. Lassen wir die Ansicht beiseite, die mir für einen Materialisten etwas zu idealistisch ist: daß nämlich der Urheber des Christentums nur eine Art Ausschwitzung von Massengehirnen gewesen sei.«

»Oho!« wollte der Volksschullehrer dreinfahren, wurde aber von dem Präsidium noch rechtzeitig unterdrückt.

»Halten wir uns an den Menschen Christus, an den ›Nur-Menschen‹, so frage ich, was wollen Sie, meine Herren von links, eigentlich Ihrer Gemeinde sagen?«

»Die Wahrheit!« antwortete fix der Vikar. »Wir wollen sie an der Hand der großen Persönlichkeit zu selbständigen, christlichen Persönlichkeiten erziehen!«

»O weh!« erwiderte Sonnenglanz, der Arzt. »Da leben Sie also samt und sonders des schönen Wahns, als käme jetzt, ausgemacht jetzt das diamantene Zeitalter der Persönlichkeit aller! Das heißt, eine Zeit, in der Leute von wirklicher Persönlichkeit gern auf ihr Prestige verzichten möchten – aus Langerweile nämlich!«

»Zur Sache! Zur Sache!« mahnte ängstlich der Vorsitzende.

»Das gehört verdammt nahe zur Sache, lieber Reinhold Bellarmin! Das ist die unglaublich unwahrscheinliche Meinung, als würden um so mehr Individualitäten erzeugt, je mehr Gattungstiere in die Welt springen!« –

»Aber Willibald! Du wirst dir gleich einen Ordnungsruf zuziehen!« rief Reinhold Bellarmin.

»Das ist nicht unwahrscheinlich, sondern selbstverständlich!« jammerte der Volksschullehrer, der zu spüren schien, wie man ihm die geistige Sitzgelegenheit wegzog.

»Ich halte dafür, daß mit der Masse die Einzelexemplare geringwertiger werden,« sagte der lachende Grieche mit größter Seelenruhe. »Und ich frage noch einmal, wie wollen Sie dieser Masse gegenüber mit Ihrer ›Persönlichkeit‹, Ihrem ›religiösen Genius‹ und dergleichen schönen Sachen durchdringen?«

»Das ist Pessimismus!!« zeterte der Stadtpfarrer und spreizte die Finger beider Hände gegen den Frager, als stelle er ein Gespenst oder doch einen argen Versucher vor. »Wir! Wir erziehen die Masse zu Persönlichkeiten!«

»Und wie?« fragte der ungläubige Arzt.

»Wir brauchen die Masse gar nicht! Wir wollen sie gar nicht! Die Vielzuvielen!« warf der Parochialvikar dazwischen.

»Und wie?« wiederholte Willibald Sonnenglanz.

»Wie?« schrie der Stadtpfarrer. »Durch Belehrung! Durch Mitteilung der wissenschaftlichen Ergebnisse! Jeder einzelne muß heran! Muß der Quellenkunde nachgehen! Muß an die erstarrten Dogmen selber die Sonde anlegen! Kurz: muß sich sein eignes Jesusbild erarbeiten! Erarbeiten, sage ich!«

»Ojemine!« stöhnte mit komischer Verzweiflung der gläubige Pastor. »Vergib ihnen, Herr, sie wissen nicht, was sie tun! Lauter kritische Bilderzeichner! So höre nur einer!« Er schlug mit der Hand auf den Tisch und lachte, daß es dröhnte. »Eine Gemeinde, eine ganze Gemeinde von lauter Theologen!«

Und der alte Herr lachte so laut und herzlich, daß unwillkürlich alle mitlachen mußten: das Präsidium, der Volksschullehrer, der Semmelblonde, der katholische Priester, der Stadtpfarrer – – nur mein Baron nicht. Der tuschelte mir wegwerfend zu: »Wie unfein!«

»Da haben Sie die Bescherung!« jubelte Sonnenglanz, der Jüngere. »Lauter Theologen. Das Ende der Religion!« –

»Aber Willibald!« warnte Sonnenglanz, der Präsident.

»Jawohl! So was Widersinniges mußte kommen! Den lieben, alten Rationalismus, der ja doch mit oder ohne Bewußtsein all den Herren der modernen Linken im Köpfchen sitzt, den wollte ich sich verraten sehen! Widersprechen Sie nur! Ihnen ist die Naturwissenschaft in die Glieder gefahren. Die Angst vor der Entwicklungslehre ist bei Ihnen allen zu Gevatter gestanden! Deshalb reden Sie jetzt immer lieber von Persönlichkeit und Feuerseele und Menschentum und Genius, als – von Gott! Die historisch-wissenschaftliche Nebenfrage machen Sie zur Hauptfrage! Wenn aber eine Theologie – eine Gottesgelahrtheit – nichts mehr von Gott zu sagen weiß; wenn sie aus Vorsicht nur noch von den nächsten Dingen redet, statt von den letzten; wenn sie nur noch mit ›innerer Erfahrung‹ und dergleichen Mätzchen operiert, dann erklärt sie sich bankerott! Dann kann sie sich von jeder seichten Moraltrompeterei auskaufen lassen! Dann stirbt das Christentum an lauter Vernünftigkeit und Allerweltsweisheit! Keinen Dreier geb' ich für diese ausgebeinte Religion, die gar keine mehr ist! – – Mir kann's recht sein.«

Totenstille folgte auf diese mit lachendem Mund und doch mit einem Unterton von Zorn in den Kreis geschleuderten Deutlichkeiten.

Es war erschütternd, die verschiedenen Wirkungen des Schreckens zu beobachten, die sich auf den Gesichtern malten. Sogar meinem Baron sah man die innere Erregung an: seine Nasenflügel zitterten und die Augen flirrten unheimlich unter den irisierenden Brillengläsern. Verwünschungen, die ich nicht verstand, flüsterte er vor sich hin.

Und auch mir war es unfaßlich, wie ein Mensch sich so bestimmt, so unzweideutig ausdrücken konnte – in einer Zeit, wo man doch wahrhaftig die uneingeschränkten, geraden Urteile überwunden hat! Wo man doch nicht schwarz und weiß sagt, sondern weißlich oder schwärzlich, oder am besten gräulich! Unbegreiflich!

Der erste, der wieder die Sprache fand, war Sonnenglanz, der Präsident. Er läutete dreimal stark, obwohl kein Mensch an Unruhe dachte, und sagte mit gravitätischem, strafendem Ernst:

»Willibald, ich rufe dich zur Ordnung!«

Der Gemaßregelte quittierte über seinen Ordnungsruf mit einer vergnügten Verbeugung.

Der altgläubige Pastor saß schmunzelnd bei seiner Pfeife und weidete sich an der Bewegung, die sich mehr und mehr der Linken bemächtigte: die Herren hatten angefangen, lebhaft zu gestikulieren und miteinander zu beratschlagen – sichtlich überrumpelt durch den harten Angriff eines Laien, von dem man sich einer solchen Treffsicherheit nicht versehen hatte.

»Mir scheint's, ihr Herren, daß unter die Wölfe ein Pardel gefallen ist, und tat den Wölfen, was sonst sie selber tun an den Schafen!«

»Pastor Schwertbauer, es entspricht nicht dem guten Ton des Hauses –«

»Ach was, mein lieber Sonnenglanz,« fuhr der Alte unbekümmert fort, »die Wahrheit ist immer guter Ton! Und wahr ist's – mag's uns ein noch so großer Heide und Griechensklave zugerufen haben: ein ausgegräteter Fisch ist ein toter Fisch und ein entheiligtes Christentum, ein Christentum ohne Heilstatsachen, ist ein totes Christentum!«

Inzwischen hatte die geschäftige Linke dem Präsidium ein Papier zugeschoben. Reinhold Bellarmin erhob sich mit Wichtigkeit, läutete besonders klangvoll und sagte dann mit unnachahmlicher Würde:

»Es ist mir ein beschleunigter Antrag zugegangen, folgenden Wortlauts: »Da die Versammlung überwiegend auf christlichem Boden steht, wolle sie beschließen, die allen gemeinsame Voraussetzung des Gottesglaubens (»Hört, hört!« rief Schwertbauer mit Stentorstimme) von der Debatte auszuschließen‹.«

»Kneiferei! Das heißt man Kneiferei!« rief Sonnenglanz, der Arzt, nach links hinüber.

Schon erhoben sich die Gescholtenen – voran der reizbare Stadtpfarrer – zu wilder Widerrede, als der Ruf des Vorsitzenden sie übertönte:

»Willibald, ich rufe dich zum zweiten Mal zur Ordnung und mache dich auf die geschäftsordnungsmäßigen Folgen eines eventuellen dritten Ordnungsrufes aufmerksam!«

Der aber ließ sich so leicht nicht kleinkriegen, sondern erwiderte prompt:

»Und ich stelle den Antrag, man wolle das Thema der Versammlung ändern in die Frage: Ist ein Christentum, das keine bündige Auskunft gibt über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, überhaupt noch – eine Religion?«

»Abstimmen! Abstimmen!« krischen aus einem Munde Stadtpfarrer und Volksschullehrer und Parochialvikar und ihr Anhang, während gleichzeitig alle Anwesenden, hingerissen von der Bedeutung des Augenblickes, aufsprangen und je nach ihrer Meinung das Feldgeschrei der Linken unterstützten oder bekämpften.

»Abstimmen!« rief mit einer Stimme, die alle anderen wie ein Messer durchschnitt, auch der Baron. »So rufen Sie doch mit, Doktor!« lispelte er mir zu und gab mir einen leichten ermutigenden Stoß in die Seite.

»Ruhe! Ruhe!« ließ sich das Präsidium vernehmen, das ordentlich hüpfte vor Vergnügen über eine so interessante Zuspitzung der parlamentarischen Sachlage. »Wir stimmen nach der Reihenfolge des Eingangs zuerst ab über den Antrag der Linken. Wer ihm zustimmt erhebe die Rechte!«

Die Hände flogen in die Höhe. Mit ›Ja‹ stimmten auch der katholische Priester, der Baron, und, von ihm gedrängt, meine Wenigkeit.

»Ich zähle sieben Stimmen für den Antrag der Linken,« verkündete Sonnenglanz.

»Das ist die Mehrheit!« ertönte es von links. »Es braucht über den zweiten Antrag nicht mehr abgestimmt zu werden.«

»Doch, doch!« ereiferte sich der Vorsitzende, der sich die Freude einer zweiten Abstimmung nicht entgehen lassen wollte. »Die Gerechtigkeit erfordert eine Gegenprobe – – ah, Sie, Kaplan!« wandte er sich plötzlich zu dem katholischen Priester, der ihm ein Wort zuraunte, und sagte dann feierlich: »Meine Herren, ehe wir weiterschreiten, wünscht der Herr Kaplan seine Abstimmung zu motivieren.«

»Sehr begierig!« grollte Pastor Schwertbauer.

Unter gespannter Stille erklärte mit sonorer Stimme der Kaplan:

»Ich trete deshalb für die moderne, gegen die orthodoxe protestantische Theologie, ein, weil die Macht der Konsequenz auf seiten der ersteren ist. Der Dogmatismus der Lehrautorität ist ein katholisches Prinzip im Luthertum. Folgerichtig nennt also die freiere Richtung des Protestantismus das Festhalten an gewissen Grundwahrheiten des Christentums eine Willkür. (»Hört! Hört!« klang es von rechts.) Sie muß den Kampf zu Ende führen, mit Luther wider Luther, volle Freiheit wider letzte Gebundenheit, damit« – er hob den Ton seines wohllautenden Organs und lächelte seltsam – »damit die letzten Reste des göttlichen Mysteriums verschlungen werden und die Köpfe recht behalten wider die Herzen! Und wiederum, damit die Herzen, die verschmachten an der vernünftigen Dürre dieser Köpfe, sich alle wiederfinden können im Schoße der einen, heiligen Mutter!«

Der Kaplan setzte sich, als hätte er gar nichts von Belang gesprochen, als hätte er ganz nur zu sich und zu seiner Rechtfertigung geredet.

Der altgläubige Pastor aber hieb mit dem Krückenkopf auf den Tisch, daß es dröhnte:

»Hört ihr's recht? Das ist des Teufels letzte und feinste Weisheit!«

Mein Baron fuhr auf, als hätte man ihn in die Ferse gestochen, und rief in das verdutzte Schweigen hinein:

»Zur Ordnung! Zur Ordnung!«

»Zur Ordnung!« wiederholte schnellbereit die Linke, und Sonnenglanz ließ sich nicht lange mahnen. Er rief den heißblütigen Schwertbauer gebührend zur Ordnung. Dann stellte er sofort den zweiten Antrag, den seines Bruders, zur Abstimmung.

Mir aber, der ich doch so aufmerksam allem gefolgt war; der ich doch an dem Baron einen so guten Führer hatte; der ich doch meiner Stellung so unheimlich gewiß hätte sein sollen – – mir geschah etwas Unglaubliches.

Ich hob – natürlich nur ganz mechanisch – auch bei diesem Antrag die Hand hoch!

Entsetzt fiel mir der Baron in den Arm.

Aber es war zu spät.

»Sieben Stimmen für den Antrag Sonnenglanz!« verkündete betreten der Präsident.

»Unmöglich!« rief es von allen Seiten. »Es muß einer doppelt abgestimmt haben!«

O über meine Verlegenheit! Der Baron war außer sich und drang in mich, mein Versehen zu melden. Und ich mußte sprechen, ich! Dem die Schüchternheit angeboren ist!

»Meine Herren!« sagte ich denn, um mich nicht völlig bloß zu stellen. »Ich habe absichtlich beiden Anträgen zugestimmt, um dadurch meine Neutralität zum Ausdruck zu bringen. Ich sehe aber, daß ich als Laie eine ungeschickte Lösung gewählt habe und bitte um Entschuldigung.«

Man sah mich von allen Seiten mißtrauisch oder gar geringschätzig an.

Der Baron war blaß vor Ärger.

Nur Reinhold Bellarmin Sonnenglanz, der immer Herr der Situation, immer höflich blieb, half über die peinliche Lage hinweg und entschied salomonisch:

»Also, meine Herren, stehen wir sechs zu sechs Stimmen! Keiner Ihrer Anträge hat die erforderliche Mehrheit! Lassen Sie uns das ein Zeichen sein, daß wir uns nicht feindlich trennen, sondern gütlich verständigen wollen. Ich sehe auch gar nicht ein, warum eine Verständigung unmöglich sein sollte! Ich selbst trage darauf an und erteile zu meinem Antrag des Friedens das Wort dem Herrn Universitätsprofessor Doktor Benno Achselmayer!«

Diese jähe Wendung wirkte wie ein geschickter Theatercoup. Ehe sich beide Parteien über ihre Stellung zu dieser Neuigkeit einig waren, schnellte von seinem Sitze ein Männchen, das vier Fuß hoch war und bisher nur immer Notizen gemacht hatte, ohne jemals aufzusehen. Er begann, wie auf Bestellung, eine wohlgesetzte, echte und gerechte Akademiker-Rede, durchsichtig-klar wie Wasser und glatt wie Öl. Seine Meisterschaft bestand darin, daß er mit wirklicher Eleganz sämtlichen Gegensätzen die Spitze abzubrechen und den Zuhörern die erleichternde Erkenntnis zu suggerieren wußte, daß sie eigentlich im Grund alle einer Meinung seien. Das war Reinhold Bellarmins besonderer Freund.

Mir war leider durch mein Mißgeschick das rechte Interesse verloren gegangen. Überdies teilte sich mir etwas von der allgemeinen Erschöpfung mit, die nach so vielen Aufregungen nicht ausbleiben konnte. Der alte Pastor schien eben jetzt, trotz einiger Gegenwehr, einnicken zu wollen. Sonnenglanz, der Bruder, unterdrückte krampfhaft das Gähnen und allerhand leise Privatunterhaltungen entspannen sich rechts und links.

So begegnete denn auch ein neuer Redner, der den geschickten Achselmayer ablöste, tauben Ohren. Mit Unrecht. Es war ein jüngerer Mann, Neffe des Hauses Sonnenglanz, viel in Indien gereist und ein Religionsphilosoph. Aber was half es ihm, daß er tiefsinnig nachwies, in den versteinten Dogmen des Christentums stecke ein metaphysischer Kern, der, gefaßt in die griechische Logoslehre, von unvergänglichem Wert sei? Wie konnte der Ärmste modernen Theologen mit Philosophie kommen wollen? Grade so gut hätte er gleich hindostanisch sprechen können! Und auch noch zu behaupten, eine Erneuerung der christlichen Religion sei wertlos, solange man nicht von ihrem übersinnlichen Gehalt ausgehe! Einfach pudelnärrisch!

Ich beschwor den Baron insgeheim mit den zärtlichsten Worten, es des grausamen Spiels genug sein zu lassen und mit mir zu verschwinden.

Endlich fand ich Gehör. Er blickte prüfend um sich und überzeugte sich nun, daß der Gipfel des Abends überschritten sei. Man sah allenthalben Mienen, die erwarten ließen, es werde hinter Mitternacht eine Resolution Sonnenglanz zur allgemeinen Verständigung und Verbrüderung einstimmig angenommen werden.

Wir erhoben uns also still. Sonnenglanz, der Präsident, hatte eben das Haupt nachsinnend in seinen Händen verborgen und überdachte seine Resolution. Unbeachtet konnten wir uns aus dem Zimmer stehlen, und bald darauf die Villa verlassen.

Den langen Weg zum Vorort-Bahnhof schritten wir schweigend nebeneinander hin.

Ich fühlte, daß der Baron noch immer auf mich ärgerlich war. Es mußte also von meiner Seite etwas geschehen, um ihn zu beruhigen. Ich war noch ganz unter dem Eindruck der Sonnenglanzschen Allverständigungstheorie, und so sagte ich schließlich, so freundlich und höflich ich nur immer konnte, beinahe im Engelston des Semmelblonden:

»Ach, Baron! Es ist etwas Herrliches um diese moderne Theologie! Etwas Erhebendes um dieses religionsfreie Christentum! Aber denken Sie, ich glaube – ich stehe noch linkser als die äußerste Linke! Ich –«

»Ah!« unterbrach er mich freudig, ohne mehr die geringste Spur von Ärger zu zeigen. »Das ist schön! Das ist ein Ereignis, ein Ergebnis! Eh bien! Sie sollen Ihren Willen haben! Ich führe Sie nächster Tage noch weiter links!«

Wir stiegen in den Zug, der eben daherbrauste, und fuhren im besten Einvernehmen in die Stadt zurück.


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