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Ein alter Berliner Amtsgerichtsrat pflegte jede Verhandlung mit der Ermahnung an die streitenden Parteien einzuleiten, sich zu vergleichen: »denn«, setzte er hinzu, »wer recht hat, bekommt deshalb noch nicht recht«. Ich mußte an diese Geschichte denken, als ich vom Rathaus nach Hause ging, nachdem ich in der Sitzung der städtischen Kunstdeputation mein Amt als Bürgerdeputierter niedergelegt hatte.
Da Herr Bürgermeister Dr. Reicke sich kurze Zeit vor der Kunstdeputationssitzung auf Urlaub begeben hatte, übernahm Herr Oberbürgermeister Kirschner seine Verteidigung. Allerdings nur in formaler Hinsicht. Auch fühle er sich nicht berechtigt, an den inkriminierten Äußerungen des Herrn Reicke Kritik zu üben. Noch weniger aber könne er der Berliner Sezession das Recht einräumen, der Kunstdeputation vorschreiben zu wollen, wen sie in die Ausstellung zum Ankauf der Kunstwerke delegieren würde, zumal Herrn Reicke genügendes Taktgefühl zuzutrauen gewesen wäre, daß er nach seinen abfälligen Bemerkungen über die Ausstellung der Sezession nicht mehr offiziell in deren Haus erscheinen würde. Bei aller Hochachtung vor der Ansicht des Oberbürgermeisters erlaube ich mir, anderer Meinung zu sein: es scheint mir nicht gerade besonders taktvoll, daß Herr Reicke als Gast der Großen Berliner Kunstausstellung für die Einladung mit Angriffen auf die Sezession quittierte.
Auch der telephonische Anruf aus dem Magistratsbureau: »Herr Bürgermeister Reicke läßt fragen, ob der Besuch der Kunstdeputation am 22. Mai dem Vorstande der Sezession angenehm wäre«, läßt die Annahme des Vorstandes, daß Herr Reicke wie im vorigen, so auch in diesem Jahre die Verhandlungen in der Sezession persönlich leiten würde, nicht nur entschuldbar, sondern durchaus berechtigt erscheinen.
Zwar hatte ein Mitglied der Kunstdeputation diese Annahme als »bedauerliche Unkenntnis der Sezession« öffentlich getadelt, aber Herr Reicke schrieb dem Präsidenten der Sezession, daß er von Natur und Gesetz Stellvertreter des Oberbürgermeisters in der Kunstdeputation sei.
Der Oberbürgermeister und die Kunstdeputation dürften sich also in der Annahme geirrt haben, Herr Reicke würde die Sezession nicht mehr offiziell betreten. Ich habe die Überzeugung, daß die Sezession diesen Irrtum durchaus nicht entschuldbar findet; aber wenn Künstler formale Irrtümer von Beamten nicht krumm nehmen, sollten dann nicht Beamte auch etwas weniger streng über die formalen Fehler von Künstlern denken? Der Sinn des Briefes der Sezession, worin sie sich den Besuch des Herrn Reicke verbittet, war nicht die Inanspruchnahme des Rechtes, zu bestimmen, wen die Kunstdeputation in die Ausstellung senden soll, sondern er war ganz einfach der Ausdruck des schlichten Gefühls: ein Beleidiger meiner Ehre betritt mein Haus nicht mehr. Wenn die Künstler, die den Vorstand der Berliner Sezession bilden, sich bei der Formulierung dieses Gefühls vergriffen und einen formalen Fehler begangen haben, so möge die Kunstdeputation bedenken, daß die Sache wichtiger ist als die Einhaltung des Instanzenganges.
Der Oberbürgermeister sagt, er fühle sich nicht berechtigt, Kritik an den Äußerungen des Herrn Reicke zu üben. So sehr ich diesen Standpunkt achte, so sehr muß ich die Folgen bekämpfen, die diese Äußerung in der Sitzung der Kunstdeputation hatte. Aus dem Angeklagten Reicke wurde in der Sitzung der Kunstdeputation im Handumdrehen die Angeklagte Sezession. Man lehnte ab, über Herrn Reicke zu Gericht zu sitzen und eröffnete statt dessen das Verfahren gegen die Sezession wegen Verbrechens gegen den richtigen Instanzengang, obgleich die Äußerungen des Herrn Reicke keinen Verteidiger fanden.
Ein offenes Wort Herrn Reickes hätte den unangenehmen Zwischenfall leicht aus der Welt schaffen können, zumal der Vorstand der Sezession in seiner ersten Erwiderung auf: die häßlichen Angriffe des Bürgermeisters ruhig und würdig geantwortet hatte. Herr Reicke hat sich aber nicht zu einer öffentlichen Erklärung entschließen können.
Der Oberbürgermeister erwiderte mir in der Sitzung, als ich ihn fragte, was die Sezession gegen Herrn Reickes Angriff hätte tun sollen, daß sie den Bürgermeister ja hätte verklagen können. Leider hat sich die Sezession in ihrem, den Künstlern eigenen Optimismus getäuscht: sie glaubte, daß die Kunstdeputation den Bürgermeister zur Zurücknahme seiner schweren Beleidigung bewegen würde.
Der Berliner Sezession lag nichts ferner, als die Kunstdeputation verletzen oder gar ihr Vorschriften machen zu wollen: beides wäre zu dumm von ihr gewesen. Aber die Sezession mußte handeln, wie sie gehandelt hat, um so mehr, als Herr Reicke in einem zweiten Brief an den Vorsitzenden der Sezession auf die höchst unliebsamen Folgen aufmerksam machen zu müssen glaubte, die das schroffe Verharren auf ihrem Standpunkt – auch in Charlottenburg! – für die Sezession nach sich ziehen könnte. Die Sezessionisten sind auch Menschen, und sie wissen die Vorteile zu schätzen, die der Unterstützung einflußreicher Männer und einflußreicher Frauen entspringen. Aber noch höher steht ihnen ihr künstlerisches Gewissen: sie haben die Arbeiten von Söhnen, Töchtern, Gattinnen der einflußreichsten Leute refüsiert, wenn sie dem künstlerischen Niveau der Sezession nicht genügten.
Mag die Sezession in der Form gefehlt haben – ich erbot mich in der Sitzung, diesen Fehler sofort rückgängig zu machen! Aber die Kunstdeputation verwarf einen dahingehenden, aus ihrer Mitte gestellten Vermittelungsvorschlag, indem sie den Antrag des Oberbürgermeisters annahm, die Ausstellungen der Sezession bis auf weiteres nicht mehr zu besuchen. Sie »rettete« den Bürgermeister, ohne an die Schädigung Berlins als Kunststadt zu denken. Oder sollten die Preise der Stadt Berlin nur eine Belohnung für Wohlverhalten sein?
Indem die Kunstdeputation einen angeblichen Formfehler mit der schwersten ihr zustehenden Strafe ahndete, entging ihr, welch empfindlichen Schlag sie nicht nur der Sezession, sondern der gesamten Berliner Künstlerschaft versetzt hat. Ohrenzeugen bestätigen – und zwar Gegner der Sezession –, Herr Reicke habe in seiner Tischrede gesagt, daß die diesjährige Sezessionsausstellung zu bedenken gebe, ob die Stadt Berlin ihr weiter die Subvention gewähren solle. Ist die Subvention etwa ein Almosen? Ist sie nicht vielmehr eine geradezu klägliche Abschlagszahlung, die die Stadt ihrer Künstlerschaft schuldet? Ich ziehe nicht etwa eine Stadt wie Paris zum Vergleich heran, nicht einmal Hamburg oder München. Aber selbst Städte wie Köln oder Frankfurt, Mannheim oder Hannover tun unendlich viel mehr für die Kunst als Berlin. Es hat die schier unglaubliche Geduld der Berliner Künstlerschaft dazu gehört, um ruhig zuzusehen, daß Jahre hindurch der größte Teil des Berliner Kunstfonds, der statutenmäßig zum Ankauf von Kunstwerken bestimmt ist, für die Neubauten der Stadt Berlin aufgewendet wurde. Wo bleibt die städtische Gemäldegalerie, die vor Jahren in Tschudi den geborenen Leiter gefunden hätte?!
Videant consules! Berlin besaß in seiner Mitte durch das ganze vorige Jahrhundert die größten deutschen Künstler: in Chodowiecki, Krüger, Menzel die größten Maler, in Schadow und Rauch seine größten Bildhauer und in Schinkel und dessen Schule bis auf Hitzig die größten Architekten. Sollte es ganz zufällig sein, daß die jungen Talente jetzt anfangen, Berlin den Rücken zu kehren, oder sollte hier das Wort zutreffen, daß jede Stadt die Künstler hat, die sie verdient?
Die Kunst läßt sich nicht nach der Korrektheit oder der Schablone messen, sondern jeder Künstler verlangt seinen eigenen Maßstab. Schadow verurteilte in der »Haude- und Spenerschen Zeitung« die Zeichnungen Menzels zu Kuglers Friedrichsbuch als »Griffonagen oder Kritzeleien, des großen Königs unwürdig«, und derselbe Menzel fragte vor den Bildern Manets, Monets und Degas' den Besitzer, ob er für den Dreck wirklich Geld gegeben hätte. Vielleicht läßt der Umstand Herrn Reicke milder über die Franzosen urteilen, daß ohne die »französischen Importen« ihrer Zeit Menzel und Leibl undenkbar sind.
Die Kunstdeputation hat für den Bürgermeister und gegen die Sezession entschieden: aber vor dem Forum der Zukunft wird die Entscheidung anders ausfallen. Es handelt sich hier nicht um den Zank zweier Parteien, sondern es handelt sich um den Kampf zweier Weltanschauungen: der Geist siegt über den Buchstaben.
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Ich danke Herrn Dr. Nathan für seine Entgegnung, denn sie ist die beste Verteidigung für meine Ausführungen, die er in keinem Punkte zu widerlegen imstande ist. Aber es will mir scheinen, daß der Ton der Entgegnung nicht recht für das Thema paßt: hier hilft kein Zungenspitzen, hier muß gepfiffen sein.
Es ist nicht angängig, daß ein Bürgermeister Berlins sich über einen Teil der Berliner Künstlerschaft – und wahrlich nicht den schlechtesten – in der Form, wie er es getan, ungestraft äußern darf; um so weniger, als er das in seiner Eigenschaft als amtlicher Bürgermeister getan hat.
Herr Dr. Nathan irrt, wenn er die Tischrede des Herrn Reicke für eine Privatäußerung hält, denn Dr. Reicke erklärte im »Berliner Tageblatt«:
»Sind denn nur die Herren Zeitungskritiker berechtigt, öffentlich Kritik zu üben? Sind nicht die Vertreter von Behörden, die von den verfassungsmäßigen Organen doch wohl gerade auf ihre Posten gestellt sind, damit sie zu gegebener Zeit öffentlich Stellung nehmen, ebenso dazu berufen?«
Ich bin der Meinung, daß Herr Reicke sich nicht so äußern darf, und daß die Kunstdeputation, wenn sie der Disziplinarhof über die Sezession ist, es auch ebenso über Herrn Reicke sein muß.
Denn es handelt sich hier nicht um eine Person, sondern um eine für die Stadt ebenso wichtige Angelegenheit wie die Kanalisation oder die öffentliche Gesundheitspflege. Ich verlange nicht den »Kopf des Bürgermeisters«, sondern ich verlange die öffentliche Zurücknahme dieser die Sezession beleidigenden Äußerungen.