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Als wir einst an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Restaurants Jacob in Nienstedten zusammensaßen und natürlich Kunst simpelten, sagte Lichtwark: »Talent ist Charakter«, und ohne es zu ahnen, hatte er sich mit diesem Worte treffend charakterisiert. Sein Talent war sein Charakter, und da nach Kants Ausspruch jeder richtige Satz auch umgekehrt richtig ist, könnte man sagen: Ohne seinen Charakter wäre er nicht Lichtwark geworden. Er war ein Mann sui generis gerade durch die Harmonie von Fähigkeiten und Charakter, während sehr häufig besonders bei hervorragenden Männern die Originalität in deren Diskrepanz beruht.
Im Gegensatze zum einseitigen Kunstgelehrten, der sich in sein Spezialfach vergräbt und sich für sonst nichts auf der Welt interessiert, gab es für Lichtwark nichts, was mit Kultur zusammenhängt, wofür er sich nicht interessierte. Kultur war ihm Veredelung des Menschen und das Streben nach Kultur das Ideal seines Lebens.
Er war der geborene Erzieher, und daher wußte er, daß Erziehung vor allem Beispiel ist, also erzog er zuerst sich selbst, bevor er andere erziehen wollte. Ich habe in meinem Leben niemand kennen gelernt, der sich mehr in der Gewalt hatte, und während des Vierteljahrhunderts – und es waren viele Kriegsjahre darunter, die bekanntlich doppelt zählen – habe ich Lichtwark auch nicht ein einziges Mal außer Fassung gesehen. Selbst als der todkranke Mann am 17. November 1913 auf der Rückreise von Meran, wo er vergebens Heilung gesucht hatte, bei mir war, beherrschte er sich so, daß ich an der Richtigkeit der Diagnose der Ärzte, die ihn aufgegeben hatten, zu zweifeln anfing. Weil er sich selbst diszipliniert hatte, wußte er andere zu disziplinieren. Ich habe nie pflichtgetreuere, höflichere Aufseher gesehen als in der Hamburger Kunsthalle, wo ich oft wochen-, sogar monatelang arbeitete, und als ich Lichtwark nach dem Geheimnis fragte, dem er dieses Resultat verdankte, sagte er, daß es in der Gleichmäßigkeit der Behandlung liege. Der Vorgesetzte dürfe seinen Untergebenen gegenüber sich nie von seiner augenblicklichen Laune leiten lassen.
Erst wenn er mit sich selbst über eine Angelegenheit ins Reine gekommen war, versuchte er, sich mit anderen darüber zu verständigen. Daher die ruhige Klarheit, mit der er sprach und mit der er handelte, daher sind alle seine Schriften Bekenntnisschriften. Sie sind wie Briefe, in denen man sich seine Gefühle und Schmerzen vom Herzen schreibt, und sie geben über den eher verschlossenen als mitteilsamen Mann viel bessere Auskunft als die äußeren Geschehnisse seines Lebens, das in der größten, fast peinlichen Regelmäßigkeit dahinfloß. Nichts Zufälliges, keine Anekdote, keinen Schwank aus seinem Leben wüßte ich zu erzählen. Er vollendete sich »nach dem Gesetz, wonach er angetreten«. Dem mittellosen Volksschullehrer ermöglichten einige liberale Mitbürger, die Universität Leipzig zu beziehen; nach Vollendung seiner akademischen Studien war er einige Jahre Lessings Assistent am Kunstgewerbemuseum in Berlin, als er plötzlich, kaum 35 Jahre alt, auf Empfehlung des damaligen Generaldirektors Richard Schöne zum Direktor der Hamburger Kunsthalle ernannt wurde.
Die Stellung eines Kunsthallendirektors, die er 1886 antrat und die bis dahin von einem Subalternbeamten verwaltet wurde, war damals durchaus nicht glänzend: es ist Lichtwarks Verdienst, wenn er sie zu einer der prominentesten im Kunstleben Deutschlands gemacht hat. Ich muß mir versagen, auf das, was Lichtwark als Galeriedirektor geleistet hat, näher einzugehen, denn für seine Erwerbungen an moderner Kunst dürfte ich kein einwandfreier Zeuge sein, und ich bin nicht Kunsthistoriker genug, um über die Bedeutung seiner Erwerbungen an alter Kunst mir ein Urteil anzumaßen. Ich beschränke mich auf ein Urteil der »Gazette des beaux arts«: Il est permis d'écrire qu'il n'existe pas un ensemble aussi important de la peinture allemande du XVe siècle dans l'Allemagne entière. Sehr bescheiden sagte Lichtwark: »Wir können am Besitz unserer Galerie heut von 1379 ab eine tüchtige, in einzelnen Gestalten hervorragende heimische Malerei durch alle Jahrhunderte verfolgen. Das Geschick ist uns bei dieser Arbeit über Hoffen und Verdienst günstig gewesen.«
Nein, es war nicht das Geschick, sondern sein ganz persönliches Geschick, wie und was die Kunsthalle heute ist. Nur auf kulturgedüngtem Boden kann die Kunst gedeihen, daher war für Lichtwark eine Galerie nicht eine Anhäufung von mehr oder weniger guten Kunstwerken, sondern Trägerin und Förderin der Kultur, deren höchste Blüte die Kunst ist. Aber er hätte nicht Hamburger, der er bis in die Knochen war, sein müssen, so sehr Hamburger, daß er, wie er selbst einmal sagte, oft seine Worte aus dem Platt ins Hochdeutsche übersetzen müßte, wenn er nicht vom Einheimischen ausgegangen wäre. Die Akzentuierung des spezifisch Einheimischen ist daher selbstverständlich, aber nicht etwa ein Nachteil, sondern der größte Vorzug der Hamburger Kunsthalle. Er betrieb keine Kirchturmkunstpolitik, sondern durch Förderung einheimischer Kunst hat er am besten die allgemeine Kunst gefördert. Wie der Gedanke, eine Berliner Galerie zu gründen nur für die Meister, die in Berlin gelebt haben, auch nicht etwa ein Konkurrenzunternehmen der Nationalgalerie, sondern deren notwendige Ergänzung wäre. Übrigens beschränkte sich Lichtwark in der Sammlung von neuer Kunst durchaus nicht auf die Hamburger Maler, ganz im Gegenteil, die deutsche Malerei aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts kann mit dem, was Tschudi in der Nationalgalerie zusammengebracht hat, wetteifern, und nur der Tod hat ihn an dem Ausbau der Sammlung zeitgenössischer französischer Kunst gehindert.
Noch klarer als in seiner Kunsthalle kommt die Harmonie von Talent und Charakter in Lichtwarks Schriften zum Ausdruck: das Schöpferische ist erzieherisch und das Erzieherische schöpferisch. Öfters sagte er mir, daß er Architekt hätte werden sollen. Wie die Fassade eines jeden guten Bauwerkes das Innere des Baues zum Ausdruck bringt, so ist Lichtwarks Stil der prägnanteste Ausdruck seiner Gedanken: phrasenlos, stark und scharf ohne irgendwelche Koketterie oder das Brillantfeuerwerk des Feuilletonisten, der seinen Geist leuchten lassen will. Er ist rein sachlich und daher – klassisch. Sein Zorn wird zu einem an Schiller gemahnenden Pathos, während er seine Überzeugungen mit Lessingscher Schärfe immer von neuem vorzutragen nicht müde wird. Er ist von großer Vielseitigkeit. Ich brauche nur die Titel einiger seiner Bücher zu nennen: »Makartbukett und Blumenstrauß«, »Palastfenster und Flügeltür«, »Der Heidegarten«, »Die Seele und das Kunstwerk«. Aber ob er gegen die Routine einer mißverstandenen Gartenkunst, ob er gegen die für unsere bürgerlichen Verhältnisse unpassenden Maße in der Architektur zu Felde zieht, ob er ein Kunstwerk verständlich zu machen versucht: immer geht er von der Naturanschauung aus. Seine Überzeugungen fußten nicht etwa auf Theorien, sondern einzig und allein auf der Natur. In der Liebe zur Natur sah er den einzig wirksamen Weg zur Förderung der Kunst: daher seine Sammlung der hamburgischen Landschaften, daher vor allem seine Porträtsammlung. Indem er das Nächstliegende seinen Mitbürgern im Bilde vorführte, wollte er sie auf die Schönheiten der sie umgebenden Natur aufmerksam machen, während er andrerseits die Landschaftsmalerei förderte, indem er ihr günstige Aufgaben stellte. Er ließ von den Künstlern, die ihm die berufensten schienen, die Bildnisse berühmter Hamburger malen, die durch die dargestellten Persönlichkeiten das Interesse an der Porträtkunst, in der er einen mächtigen Kulturfaktor sah, neu beleben sollten.
Er war glücklich, dem Fremden die Schönheiten seiner Stadt zeigen zu können, und ich entsinne mich, als Lichtwark mich das erstemal nach Hamburg berufen hatte, der Ausflüge in die Umgegend, deren bester Kenner er war. Er kannte jedes Dorf, jeden Berg, jeden Heckengarten und jede Blume. Er konnte stundenlang über eine bewachsene Mauer, über die Schönheiten einer Wiese sprechen. Und wie glücklich war er, als es ihm gelungen war, vor fünf oder sechs Jahren ein winzig kleines Häuschen in der Heide sich zu bauen, wohl nicht größer als fünf Meter im Geviert, aber ein Meisterwerk in der Ausnutzung des Raumes wie in der Anordnung der Räume: in der Mitte das Speisezimmer, flankiert von je einem Schlafzimmer, und hinter dem Speisezimmer eine Küche, in der der eiserne Herd mit Gasheizung gerade Platz hatte. Aber der Kalbsbraten, der uns serviert wurde, war ebenso vortrefflich wie die rote Grütze, deren Rezept er von seiner Mutter übernommen hatte. Auch im Essen ein echter Sohn Hamburgs: ebensogut wie Brillat-Savarin hätte er eine Physiologie des Geschmackes schreiben können, vielleicht nicht so pikant, aber dafür desto gesünder. Hamburg ist berühmt wegen seiner Küche, aber auch in jedem Nachbardorf ist man sicher, ein Wirtshaus zu finden, wo man vortrefflich zu Mittag essen kann. Oft fuhren wir nach Blankenese oder über die Elbe ins Hannoversche, und ich mußte an Bayersdörffer denken, der – ach! – vor bald zwanzig Jahren mich in die Geheimnisse der italienischen Küche eingeweiht hatte, wenn Lichtwark das Menü machte, um meinem Magen die heimatlichen kulinarischen Genüsse zu demonstrieren. Aber er verschmähte keineswegs die luxuriösen Speisen, und mit demselben Behagen, mit dem er ein gutes Stück Rindfleisch aß, goutierte er einen Hummer oder einen französischen Calville-Apfel. Stets mußte jedoch die Verfeinerung des Geschmacks den Luxus bedingen, wie im Leben, so in der Kunst. Neben Meister Bertram oder Franke konnte er für einen Manet oder Degas schwärmen, wie er das größte Vergnügen an der Lektüre Guy de Maupassants oder Anatole Frances fand. Er war ein ästhetischer Feinschmecker auch in der Kunst, aber er war der größte Gegner des Snobismus in der Ästhetik, denn er war kerngesund in seinen Anschauungen. Wäre auch sonst sein ungeheuerer Einfluß auf die zeitgenössische Kultur denkbar? Seine Überzeugungen waren nicht gemacht, sondern sie waren echt, denn sie waren erlebt. Er war nicht nur Erzieher, er war auch Künstler. Man braucht nur »Eine Sommerfahrt auf der Jacht Hamburg« zu lesen: ein einfaches Tagebuch, wo Tag für Tag die Geschehnisse auf dem Schiff erzählt werden, aber aus den Geschehnissen werden Erlebnisse, denn aus jeder Zeile spricht das warme Herz des Autors, die Liebe zu den Menschen und zur Natur. Da ich nun bei der Sommerfahrt bin, will ich eine Lieblingsanekdote Lichtwarks zum besten geben. Der Kapitän der Jacht bittet Lichtwark um ein Buch für die langen Sommerabende. Er gibt ihm den ersten Teil »Faust«, den er auf die Reise mitgenommen hatte, und als er nach ein paar Tagen den Kapitän fragt, wie ihm das Buch gefiele, antwortet dieser: »Papier ist geduldig.« – Und eine andere aus seiner Jugendzeit. Er wird mit Hermann Grimm, dessen Kolleg er hört, näher bekannt, als eines Tages die Rede auf Rembrandts Radierungen fällt. Grimm kennt sie nicht, und man geht am nächsten Tage ins Kupferstichkabinett, und als er die Radierungen Rembrandts lange angeschaut und bewundert hatte, sagte der von italienischer Kunst eingenommene Ästhetiker: »So etwas sollte man eigentlich kennen.« Eine dritte ist vielleicht noch bezeichnender für Lichtwarks Humor. Einige alte Stiftsdamen lesen zusammen die Bibel, und auf die Frage, ob sie auch alles verstünden, antwortete die eine: »Was wir nicht verstehen, erklären wir uns.«
Trotz der schweren Kämpfe, die er durchzumachen hatte, blieb Lichtwark Optimist: er glaubte an den Sieg seiner Sache, die er selbstverständlich für die gerechte hielt. Alle Anfeindungen seiner Gegner konnten ihn nicht in seiner Meinung schwanken lassen. Tapfer und heldenmütig setzte er seine Stellung aufs Spiel, indem er für ein Kunstwerk eintrat. Wie oft hat er sich für mich selbst eingesetzt. Ich erinnere nur an die Stürme, die vor 24 Jahren mein Peterssen-Porträt in Hamburg erregte: er kämpfte nicht mit lauten Worten, sondern mit diplomatischer Geschicklichkeit suchte er seine Gegner von der Irrigkeit ihrer Meinung zu überzeugen. Und wenn er schließlich auf der ganzen Linie gesiegt hat, so verdankt er seinen Erfolg gerade seiner Gesinnungstüchtigkeit, mit der er das einmal als richtig Erkannte verteidigte. Man vertraute ihm. Wie oft hörte ich den jetzt verstorbenen Bürgermeister Burchard, als ich ihn vor noch nicht drei Jahren malte, sagen, daß er dieses oder jenes Bild, das Lichtwark zum Ankauf für die Kunsthalle vorgeschlagen hatte, nicht schön finden könne, daß er aber, da es Lichtwark für die Galerie und dessen Besitz für notwendig erachtete, als Präses der Kommission dem Ankauf zugestimmt hätte.
Endlich war er der unbestrittene Richter in allen ästhetischen Fragen geworden, und als er vor kaum zwei Jahren sein 25 jähriges Jubiläum als Direktor der Kunsthalle feierte, wurde ihm von der Bürgerschaft, und zwar einstimmig von allen Parteien, von der äußersten Rechten bis zu den Sozialdemokraten, ein Ehrengehalt votiert.
Leider durfte er sich nicht lange dessen erfreuen. Seit mehr als einem Jahre war in dem bis dahin kerngesunden Mann eine auch äußerlich sichtbare Veränderung vorgegangen. Der früher rastlos tätige Mann ermüdete bei der Arbeit, die sonst seine größte Erholung gewesen. Im Juli vorigen Jahres mußte er sich einer schweren Magenoperation unterziehen, deren Folgen er jetzt erlegen ist.
Wohl dürfen wir über den frühzeitigen Verlust des seltenen Mannes trauern, aber in den herben Schmerz mischt sich die Freude über sein köstliches Leben. Seine Stadt durfte stolz auf ihn sein, aber er nicht minder auf seine Stadt, die ihm vertraute. Nur in der freien Reichsstadt Hamburg konnte er vollbringen, was er vollbracht hat. Zu größerem Ruhme Hamburgs ist Alfred Lichtwark Praeceptor Germaniae geworden!