Jonas Lie
Der Dreimaster »Zukunft«
Jonas Lie

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Achtes Kapitel.

Bei Heggelunds.

Über Markus Gjö Heggelunds »bodenlosen Reichtum« liefen unter dem Volke viele Geschichten um. Auf der Bank in Drontheim sollte er ebensoviele Zehntausende von Thalern stehen haben, als er Kirchenanteile und Fischwehre besaß, und in jedem Jahre sollte sein Bodenraum, sobald der Kirchenzehnte bezahlt wurde, bis oben heran ganz voll Silbergeld liegen.

In seinem großen, mit Ölfarbe weißangestrichenen Hause mit den vielen Fenstern und kleinen Scheiben und dem mit einem schönen grünen Gitter umgebenen Garten, darin die Flaggenstange nebst einer Batterie Messingkanonen stand, – wußte jeder, daß er willkommen wäre. Die Schwierigkeit bestand nur darin, von der etwas energischen Gastfreiheit wieder loszukommen. Zu Weihnachten war dieses Haus die selbstverständliche Gaststätte für alles, was in der Gegend – des Sonntags – einen anständigen Rock trug. Das ganze Fest über bis zum zwanzigsten Tage, und oft noch länger, wechselten die Festlichkeiten daselbst beständig. Man sprach zwar gewöhnlich von Markus Heggelund, meinte jedoch die Frau, die jetzt, über ein halbes Jahrhundert alt, mit vornehmen grauen Locken, anstatt der früheren schwarzen, das Gesellschaftsleben im Hause und auch zum großen Teil in der ganzen Gegend leitete. Darüber waren alle einig, daß ein angenehmeres Haus und freundlichere Menschen, als die Heggelunds nicht gedacht werden könnten.

Frau Heggelund beobachtete auf ihre Weise eine strenge Hausordnung. Sie setzte eine etwas prahlerische Ehre in den großartigen Hausfleiß, mit welchem sie ihr Heer von Dienstleuten beständig zu beschäftigen wußte. So waren z. B. die Fremdenbetten gänzlich selbst verfertigt, und die Einschüttungen mit den feinsten Eiderdaunen aus Heggelands eigenen Vogelwehren gestopft. Unten im Speisesaale stand der Tisch fast den ganzen Tag gedeckt, und sowohl die innere wie die äußere Wirtschaft wurde jede von ihrer eigenen Haushälterin geleitet.

Die Zimmer, damals großartig, würden den Anforderungen der Gegenwart nicht genügt haben. Sie waren ziemlich niedrig, die Decke wurde von weißgestrichenen Balken getragen, und auf den kleinen Fensterscheiben las man mehr zur Unterhaltung als zum Schmucke mehrere Namen, die mit den Ringen oder Brustnadeln der Gäste eingeritzt waren.

Übrigens hieß es von Heggelund selbst, daß er, sobald das Haus von Gästen frei war, stets eine sehr schlechte Laune hatte. Fremde merkten davon jedoch nur wenig.

In seiner überraschenden Wohlthätigkeit und Gastfreiheit vereinigte Markus Heggelund zwei besonders nordländische Eigenschaften, die ihn zu einem beliebten Manne machen mußten. Die Gegend fühlte sich von seinem Hause gewissermaßen gesellschaftlich repräsentiert.

Auch erzählte man sich, in wie hohem Grade Heggelunds gekränkt worden waren, als das Dampfschiff »Die Konstitution« zum erstenmale nach dem Nordland hinaufkam und ohne weiteres an ihrem Handelsplatze vorüberdampfte, wo doch durch Hissen der Flaggen und Salutschüsse alles zum festlichen Empfange des Kapitäns und der Passagiere bereit war. Die Fremdenbetten standen aufgedeckt, und alles war auf einem wenigstens dreitägigen Aufenthalt eingerichtet.

Von dem Tage an, wo sich die Dampfschiffslinie so unvereinbar mit aller echtnordländischen Haussitte und Gastfreiheit gezeigt hatte, war Heggelund stets der unvorgreiflichen Meinung, daß das Dampfschiff nur die Fische von den Wehren verscheuche. Zugleich behauptete er, daß er sich unterfange mit seinem besten Femböring bei günstigem Winde dem »ganzen Wundertiere« vorbeizusegeln. Dieses Bravourstück führte er schon im nächsten Sommer aus, als sich gerade eine gute Gelegenheit zeigte. Auf der innerhalb der Schären gelegenen drei Meilen langen Strecke von K . . näs bis Andholm, wo er das Fahrwasser doch weit besser als der Kapitän des Dampfschiffes kannte, segelte er und sein Neffe Andreas bei frischer Brise in der That an der »Konstitution« vorüber und ließ sie weit hinter sich.

Daß aber das Dampfschiff einem nordländischen Femböring unterlegen war, wurde von Hoch und Niedrig als ein patriotischer Sieg aufgefaßt und umgab Markus Gjö Heggelunds Namen mit neuer volkstümlicher Glorie.

Elias Röst, der auf einem kleinen Gehöft Namens Andersvigen ganz in der Nähe wohnte und den Femböring erbaut hatte, genoß deshalb ebenfalls weit und breit große Ehre, und Heggelund schickte ihm einen silbernen Krug.

Der lange lahme Elias Röst mit dem Krückstocke und der seltsamen messingnen Tabaksdose, die sowohl als Winkelmaß wie als Zollstock diente, war ein nach seinen Verhältnissen ebenfalls merkwürdiger Mann. Er war als Schiffsbauer und Zimmermann seit fast dreißig Jahren in der Gegend umhergezogen und wurde als ein Meister in seiner Kunst betrachtet. Wie mehrere in Nordland seit Peter DassensPeter Dass, ein nordländischer Dichter des siebzehnten Jahrhunderts; am bekanntesten durch sein beschreibendes Gedicht: »Die Trompete des Nordlandes« Zeit dichtete er sowohl fromme als auch weltliche Lieder, die unten in Bergen gedruckt und von den Nordländern beim Verkauf der Fische gekauft wurden. Gegen alle, die ihm nicht angenehm waren, führte er eine scharfe und gefürchtete Zunge; allein man wußte auch, daß er es nicht so schlimm damit meinte, wenn er nur erst sein Herz erleichtert hatte. Er war im halben Kirchspiel Pate und hatte immer viel zu erzählen, so daß es für Groß und Klein eine Freude war, wenn auf einem Gehöft seine Ankunft erwartet werden konnte.

Heggelunds beide kleinen Mädchen waren seine fleißigen Zuhörerinnen, während er unten im Bootsschuppen bei der Arbeit stand. Auch hatte er einzelne wunderliche Ideen, auf die sie listig Jagd machten und später zur allgemeinen Belustigung erzählten. Namentlich war er stark in der Erklärung der Bibel, die er fleißig las. Im übrigen wurde er als ein sehr verständiger Mann betrachtet, und er hing mit großer Freundschaft an der Heggelundschen Familie.

Als Elias Rost im Bootsschuppen davon hörte, daß Heggelund mit dem Femböring an der »Konstitution« vorbeigesegelt wäre, saß er lange nachdenklich da und schnupfte, die Messingdose in den Händen haltend. Darauf sagte er, indem er wieder zu der Arbeit zurückkehrte:

»Ich meine, die neue Zeit kriegt uns wohl unter; aber nach unseren Strömungen muß sie doch ausschauen.«


Nach Brögelmanns Tode hatte der Rat Tobias Storm einige Jahre lang ein einsames Leben auf einem Bauernhofe geführt, in dem er sich für ein geringes Geld eingemietet hatte. Wenn er nicht draußen auf seinen einsamen Wanderungen nach der See hinab war, saß er gern am Tische unter dem kleinen, hohen Fenster und las, oder war schwermütig in seine eigenen Gedanken versunken. Der Umstand, daß damals die Geldscheine in Bergen entdeckt waren, flößte ihm einen weit stärkeren Verdacht gegen Stuwitz ein, als das Gericht darin erblickt hatte. Daß überhaupt hinsichtlich des Wrackes noch allerlei unaufgeklärte Dinge vorgekommen, war ein Gedanke, von dem er sich nie losreißen konnte.

Diese Stimmung verlieh seinem Gesichte einen stillen, in sich gekehrten Ausdruck, der ihn seiner äußeren Umgebung abgestumpfter erscheinen ließ, als er wirklich war.

In der dortigen Gegend galt er als eine wunderliche Person, aus der es schwer wäre klug zu werden. Da man ihn in Uniform gesehen hatte, und er von Norden gekommen war, so hatte sich bei den Leuten die Vorstellung gebildet, er gehöre zu den Personen unten in Kopenhagen, von denen es im Volksglauben hieß, sie wären nach Norden, nach dem Strande »Umgang«, verbannt. Zu vornehm, um wie gemeine Leute bestraft zu werden, wären sie vom Könige dazu verurteilt, täglich zu gewissen Stunden unten am Strande auf der Gerichtsstätte »Umgang«, im Norden des Varangerfjordes, auf und ab zu spazieren.

Sein Drang nach Thätigkeit, vielleicht auch das Gefühl, daß er zusehen müsse, sich von der Idee, die ihn so ausschließlich beherrschte, loszureißen, brachte ihn eine Zeit lang zu dem Versuche, sich andere Interessen zu verschaffen, und legte den Grund zu seiner Lust am Lesen. Dann beschäftigte er sich auch mit einer mechanischen Erfindung, einer Maschine zum Heben kleiner untergegangener Gegenstände, die an einem Seile hinabgelassen werden sollte; aber es wollte doch auch nicht glücken. Einmal schrieb er darüber an Heggelund, was Veranlassung dazu gab, daß er wieder in dieses Haus zurückkam, da sich Frau Heggelund ihres alten Freundes annehmen wollte. Nach seinem alten Titel ging er überall als »Herr Rat«, während ihn die Mitglieder der Familie gewöhnlich »Onkel Tobias« nannten.

In der Regel saß der einsame Alte oben in seinem Zimmer. Dann und wann kam eine der beiden Töchter des Hauses zu ihm hinauf und nahm ihn mit ihren kleinen Interessen in Anspruch. Er hatte sie unterrichtet und so war ein Verhältnis gegenseitiger Vertraulichkeit zwischen ihnen entstanden.

Besonders war Edel sein Liebling. Alles was sie auf dem Herzen hatte, mußte sie dem Onkel Tobias oben anvertrauen, und dies dauerte fort, auch nachdem sie größer geworden. Wenn es bisweilen geschah, daß sie ihm etwas von Stuwitz mitteilte, geriet er gewöhnlich in schlechte Laune, so daß sie sich bald davor hütete.

Onkel Tobias wußte viel von dem, was im Hause vorging, wovon sie nie geglaubt hätte, daß er es bemerkte; und sie wunderte sich oft darüber, wie es zuginge. Wenn sie von dem Comptoir kam und ihren Vater in schlechter Laune getroffen hatte, fragte er sie oft, wie es ihm ginge, und ob Stuwitz etwa bei ihm gewesen wäre. Sie merkte nicht, daß er es auf ihrem Gesichte las.


Versehen mit einem neuen blanken Hute, einer neuen blauen Friesjacke und der Uhr des Vaters nebst der Messingkette über der Weste, stand endlich an einem Juninachmittag der siebzehnjährige Morten auf Heggelunds Landungsbrücke. Er hatte sich bei den andern im Boote für gute Begleitung bedankt und war nun verlegen, wohin er sich zuerst wenden sollte, ob durch den Garten hinauf nach dem Hauptgebäude, oder rechts zu Stuwitz in den nahegelegenen Kramladen.

Das seidene Halstuch der Mutter verlieh dem sonst völlig bäuerisch gekleideten Jüngling, der unsicher dastand und sich umschaute, etwas Seemannsartiges; seiner Gestalt sah man es an, daß er stark im Wachsen begriffen, und hierauf war auch bei der Anfertigung der Kleider augenscheinlich die gebührende Rücksicht genommen. Aber das blauäugige, entschlossene Gesicht war, wenn auch in den Zügen noch immer etwas weich, doch nicht der Art, als ob es lange das Gepräge des Unfertigen und Unentschiedenen behalten sollte. Es nahm ihn nur Wunder, daß seiner Mutter, die an so vieles vorher gedacht hatte, das allererste entfallen war. Schnell, wie er es im Boote gewöhnt war, faßte er seinen Entschluß, und der Kramladen mit Stuwitz blieb ihm vorläufig eine Untiefe, von der er sich fern hielt. Aber oben an der Gartenthür blieb er wieder stehen. Er konnte sich eines eigentümlichen Herzklopfens nicht erwehren, denn er vernahm im Garten munteres Geschrei und Gelächter. Einen Augenblick lauschte er und trat dann entschlossen ein.

Morten geriet in eine lustige Spielgesellschaft. Ein dunkelhaariges, etwas hoch aufgeschossenes, mageres junges Mädchen mit einer Binde um die Augen, unter der es augenscheinlich hervorzublicken suchte, lief über den Rasen schnell auf ihn zu und faßte ihn lächelnd beim Kragen seiner Jacke. Es nannte ihn Andreas und wollte ihn nicht eher loslassen, als bis er ihm die Binde abgenommen hätte. Gleich darauf sprangen einige andere hinter den Hecken hervor und hüpften unter großem Jubelgeschrei im Kreise um sie herum. Hätte Morten Zeit gehabt, so würde er vielleicht gesagt haben, daß seine Mutter auch nicht einmal an diesen Vorfall gedacht hätte; aber während er mitten im Kreise stand und das junge Mädchen ihn festhielt, war er zu sehr in Anspruch genommen. Als das Mädchen endlich die Binde nach einiger Anstrengung abbekam, fuhr es, gerade nicht angenehm überrascht, von ihm zurück. In der Miene des Mädchens lag ein auflodernder, gekränkter Stolz und es stiegen ihm fast Thränen in die Augen. Der zornige Blick, den es ihm zuwarf, während die anderen nur doppelt ausgelassen lachten, trieb ihm die Röte ins Gesicht. Er wandte sich plötzlich um, um zu gehen, als mit einemmale eine ihm bekannte Stimme in etwas weiterer Entfernung rief:

»Aber das ist ja Morten, unser neuer Ladendiener!«

Es war Andreas Heggelund, der eben, aus seinem Versteck hinter einer der Hecken einhergeschlendert kam. Ohne sich weiter um das Spiel zu bekümmern, zog er Morten mit sich nach dem Hause, damit er sich Heggelund und dessen Frau vorstellen könnte.

Es hatte gerade ein großes Gastmahl stattgefunden. Während die älteren aus der Gesellschaft oben im Hause blieben, spielte ein Teil der Jugend unten im Garten. Edel, die jüngste Tochter des Hauses, war gerade Blindekuh, und Andreas Heggelund hatte ihr den Streich gespielt, daß sich alle versteckt hielten.

Mit dem Hute in der Hand und von seinem Freunde geführt, kam Morten durch zwei Stuben, die mit Gästen gefüllt waren, welche teils plauderten, teils Karten spielten, in ein kleines Zimmer, wo Frau Heggelund neben einer anderen Frau auf dem Sofa saß. Als sie auf dieselben zugingen, drückte ihm Andreas bedeutungsvoll die Hand und flüsterte ihm zu:

»Verneige dich tief, sehr tief!«

Und Morten machte erst vor der einen, dann vor der anderen Dame, welche die Gattin des Amtsrichters und in vielen Stücken die Nebenbuhlerin der Frau Heggelund war, den ihm von seiner Mutter beigebrachten Kratzfuß so tief, daß ihm die Haare über die Augen hinabfielen.

»Morten Skorpen, unser neuer Ladendiener,« erklärte Andreas etwas stammelnd und leise. Die Miene der Tante erinnerte ihn daran, daß Morten überhaupt nicht und jedenfalls nicht in diesem Augenblicke, alle ebenso sehr wie ihn selbst interessierte.

Die Frau musterte Morten einen Augenblick, als ob sie sich über die Unterbrechung wunderte. Er in seiner schüchternen Ehrerbietigkeit bewunderte seinerseits pflichtschuldigst die schwere goldene Kette und das seidene Kleid, das er früher in der Kirche nur aus großer Entfernung gesehen hatte, jetzt aus nächster Nähe. Darauf sagte sie sanft, aber doch so, daß Andreas recht gut die Zurechtweisung fühlte:

»Mein Lieber! – sollte diese Angelegenheit nicht zunächst Stuwitz und die Haushälterin angehen? Sie wird dem jungen Mann seinen Platz anweisen.«

Morten versuchte von neuem einen Kratzfuß, aber diesmal nicht so tief wie das erste Mal. Da fragte Frau Heggelund mit einemmale, als ob ihr ein Gedanke einfiel:

»Heißt Ihr Vater nicht Jon?«

»Ja, – besten Dank!« – Morten fühlte, daß dieses »Ja« etwas wortkarg ausfiel, und fügte deshalb aufs Geratewohl seinen Dank hinzu.

»So war es also Ihr Vater, der Andreas so aufopferungsvoll rettete! – Ei, dann heißen Sie ja Morten Jonsen, und Jonsen wollen wir Sie nennen. Der andere Name, den ihnen Andreas soeben gab, klang nicht gut!«

Bei diesen Worten nickte sie ihm einen gnädigeren Abschiedsgruß zu. Morten verneigte sich und folgte seinem Begleiter, der über das vornehme Wesen etwas brummte und unterwegs Veranlassung fand, seinen Ärger mit einem Glase Punsch, das er von einem Tische nahm, hinunterzuspülen. Sie fanden Heggelund am Kartentische sitzen, an dem Morten auch den Probst Müller erkannte. Hier machte der Neffe weniger Umstände und sagte ein wenig ironisch:

»Darf ich dem Onkel ein Individuum vorstellen, welches bis vor zwei Minuten Morten Skorpen hieß, aber jetzt in Herr Jonsen umgetauft ist?«

Der Onkel saß augenblicklich allzusehr in seine Kartenberechnungen vertieft da, um recht hören zu können. Er schnappte nur etwas von der Taufe auf und sagte:

»Was plapperst du da, Andreas? – Kindtaufe soll sein?«

»Hat schon stattgefunden, Onkel.«

»Wo?«

»Soeben bei der Tante; – das Kind ist schon ziemlich herangewachsen. Es ist Morten Skorpen, den sie künftig Jonsen nennen will.«

Heggelund nahm Morten freundlich bei der Hand und sagte, daß er sich seiner Eltern gut erinnerte. Bei diesen Worten lächelte er eigentümlich vor sich hin, während er die Karten gab; – er dachte wohl an das, was damals geschehen war!

Inzwischen saß der Probst mit der bis auf die Stirn emporgeschobenen Brille gegenüber, halb umgewendet auf seinem Stuhle und betrachtete Morten aufmerksam. Endlich fragte er, als ob er über etwas nachdächte:

»Nicht wahr, Ihre Mutter heißt Marina?«

Als Morten es bejahte, brach derselbe das Gespräch ab und wandte sich wieder eifrig den Karten zu. Daß aber durch den Kopf des Probstes Müller andere Gedanken zogen, zeigte sich an seinem darauffolgenden völlig zerstreuten Spiele. Hatte ihm doch Isaak Lövö auf seinem Todesbette das Geheimnis von Marinas Abstammung anvertraut. Oft hatte er über diese Sache, die ihm Verschwiegenheit auferlegte, in seinem stillen Sinne nachgedacht, und nun regte ihn der Gedanke auf, daß er Zeuge sein sollte, wie sich ihr Sohn wieder aus dem Bauernstande emporschwingen sollte. Morten wurde ihm eine interessante Person. Später am Abend, als man sich vom Kartentisch erhob, ging er nach dem Winkel, in welchem Morten, nachdem ihn Andreas Heggelund verlassen hatte, bescheiden stehen geblieben war und sprach mit ihm über seine Heimat und sonstigen Verhältnisse. Morten hatte den Eindruck, daß er einem wohlmeinenden Freunde begegnet wäre, und verlassen, wie er sich unter all diesen Fremden fühlte, war dieses Gefühl in hohem Grade wohlthuend für ihn.

Mortens Rundgang mit Andreas Heggelund hatte bei einem kleinen Manne in einer blauen Uniform mit goldenen Schnüren am Kragen halt gemacht, der für sich allein rauchend in einem Lehnstuhle saß. Es war »Onkel Tobias« oder, wie er auch noch genannt wurde, »der Rat«.

Dieser schien jedoch allzusehr von eigenen Betrachtungen in Anspruch genommen um die Vorstellung sonderlich zu beachten; jedenfalls konnte Morten nichts Besonderes entdecken. Andreas Heggelund, der an sein Wesen gewöhnt war, schien jedoch vollständig befriedigt und bat Morten, bis zu seiner Zurückkunft bei ihm zu bleiben.

Hier in dem Winkel, der trotz der lärmenden Gesellschaft die ganze Zeit lang einsam und unbesucht blieb, hatte Morten kaum etwas Anderes zu thun, als Onkel Tobias, der mit seiner Pfeife in der Hand nickend dasaß, zu betrachten. Es lag in dem Manne ein sonderbarer Widerspruch, aus dem Morten nicht klug werden konnte. Die Uniform war neu und prächtig und das Haar glänzte eigentümlich schwarz – von Perücken hatte Morten noch keine Vorstellung – während das Gesicht doch alt und voller Runzeln war. Trotz tiefer Achtung konnte er sich nicht des Gedankens erwehren, daß bloße Stumpfheit seinen grauen Augen diesen kalten starren Ausdruck verleihe.

Aus seiner Pfeife war die ganze Zeit über nicht der geringste Rauch aufgestiegen und das gab dem stets überlegenden Morten eine gute Idee ein. Er holte Stahl, Feuerstein und Schwamm aus der Tasche und schlug so behutsam, wie er es in der hohlen Hand vermochte, Feuer an. Mit einer ehrerbietigen Verneigung legte er den brennenden Schwamm in den Pfeifenkopf, dessen Deckel er zu öffnen wagte. Der Alte begriff die gute Meinung und that einige Züge, indem er über die Pfeifenspitze einige Dankworte murmelte und einen Augenblick die Augen auf Morten heftete. Plötzlich kam Leben in sein Gesicht, und er fuhr fort, ihn anzublicken; endlich fragte er:

»Wie heißt du?«

»Morten von der Insel Skorpen.«

»Hm, hm! Sonderbar!« Und nach noch einigen »Hm, hm!« saß er wieder wie vorher, über seine Pfeife fortnickend, da und vergaß zu rauchen. Aber Morten bemerkte, daß sich die Augen des Alten einige Male von der Seite länger auf ihn richteten, und er bekam eine Ahnung davon, daß er vielleicht doch nicht so ganz gedankenlos dasäße, was sich auch später während seines Aufenthaltes im Hause bestätigte. Denn er überzeugte sich bald, daß der Alte, wenn er wollte, sowohl sehen als auch hören konnte.

Einen Augenblick darauf kam die junge Edel zu demselben mit einem Glase Punsch, das sie, wie sie sagte, für ihn bereitet hätte. Sie klopfte ihm zärtlich auf die Schulter und fragte, wie er sich befände, und ob Andreas nicht bei ihm gewesen wäre? Man konnte sehen, daß sie einander sehr zugethan waren.

Bescheiden zog sich Morten auf die Seite zurück und war so glücklich nicht bemerkt zu werden.

Sie reichte ihm das Glas und sagte:

»Trinke jetzt, Onkel Tobias, – sonst vergissest du es, wie du weißt! – Oben auf dem Schlafzimmer will ich dir eine lustige Geschichte erzählen.«

Als sie fortgegangen war, schlug Morten wieder Feuer für die Pfeife an, was dem Alten Freude zu bereiten schien; – einmal hielt er sogar von selbst die Pfeife hin, damit die Operation von neuem vorgenommen würde.

Nach einer Stunde kam sie zurück, um ihn nach seinem Schlafzimmer zu begleiten. Als sie ihn unter den Arm genommen hatte, um ihn hinaufzuführen, wandte er den Kopf nach Morten hin und nickte ihm freundlich zu. Jetzt erst bemerkte sie Morten und grüßte, wurde aber gleichzeitig etwas rot. Morten zweifelte nicht daran, daß die Geschichte, die sie erzählen wollte, ihm galt, und ärgerte sich nicht wenig.

Bei dem Abendbrot nahm sich Andreas Heggelund, der jetzt sehr ausgelassen und lustig geworden war, seiner wieder an und ließ ihn später auf seinem eigenen Zimmer zu Bett gehen. Er selbst kam erst sehr spät hinauf.

Morten hatte ein Gefühl davon, daß an dem Tage manches wohl hätte glücklicher ablaufen können. Während er in dem weichen Bette schlief, schwebten ihm eine Menge verworrener Eindrücke vor: das schwarzhaarige Mädchen hielt ihn im Garten fest und sah ihn darauf vornehm beleidigt an. Frau Heggelund brüstete sich auf dem Sofa mit ihrer goldenen Kette und nannte ihn erst »eine Angelegenheit, die Stuwitz anging«, und dann etwas gnädiger »Jonsen«. Aber der wackere grauhaarige Probst nahm ihn zuletzt so freundlich an der Hand, daß er es im Herzen fühlte und von den Lieben in der Heimat träumte.



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