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Mein Leipzig lob ich mir
Von der Wiege bis zur Bahre
Sind doch die Studentenjahre
Die allerschönste Zeit
So singen die Studenten, und es ist gut, daß sie diese Empfindung haben. Das hilft über manche, auch weniger angenehme Stunden und Zeiten hinweg. Ich bedurfte sehr der Zeit, mich in die großen, ganz ungewohnten Verhältnisse einzugewöhnen. In Leipzig kümmerte sich wirklich niemand um uns, niemand deckte uns den Mittagstisch, niemand fragte, ob und was wir arbeiteten, ob wir Kolleg hörten oder nicht. Und dann studieren! Was sollte man studieren, und wie machte man das?
Ich wollte auch Lehrer werden, mußte also Philologie studieren. Studiert man, indem man Kolleg hört, und wenn nicht, wie studiert man eigentlich? Ich glaube, viele wußten es so wenig wie ich, aber alle setzten voraus, daß alle es wüßten. Also sprach man über solche Fragen nicht. Man kannte sich auch zu wenig. Man sah sich im Kolleg, wäre oft gern bekannt geworden, aber das ist nicht so einfach. Gehören sie einer Vereinigung oder Verbindung an, so erwarten sie, daß man dort eintritt. Wer frei sein will, hat's nicht leicht. Und das Kolleg war so unbefriedigend. Ueberall gelehrte Einzelheiten, aber kein Ueberblick, keine richtige Einführung in das Fach.
Also setzte ich mich kurzerhand hin und nahm eine Sanskritgrammatik vor, hörte ein wundervolles Kolleg über Sanskrit und war wenigstens beschäftigt. Wozu? Ach wenn ich doch das selbst gewußt hätte. Ein Fux ist ein Tier ohne jeglichen Verstand und Vernunft, lautete der alte lateinische Studentenspruch.
Das Drolligste war, daß plötzlich unversehens das Semester zu Ende war und die unendlichen Ferien hereinbrachen. Ich flüchtete zu meiner Tante nach Dresden. Sie verstand mich ohne Worte. Was sollte ich eigentlich tun? Ein Semester war schon dahin. Sieben sollten's im ganzen sein.
Auch die Ferien gingen zu Ende. Mir ward bei dem sanskritischen Bestreben doch oft um Kopf und Busen bang. Als das zweite Semester kam, dachte ich, nein, klassische Philologie studiere ich nicht. Lebenslang in gelehrtem Kleinkram herumwühlen, sich und die Jungens ennuyiren – nein. Ich vertauschte also kurz entschlossen die Sanskritgrammatik mit der hebräischen. Das lag mir noch von der Schule her, ich hörte Altes Testament und wurde Theolog. Es war klar, daß mich die philologische Seite mehr in Anspruch nahm als die geschichtliche oder systematische. Ich hatte gegen manche theologische Fächer ein Gefühl gelinder Abneigung, das ich erst viel später verstand.
Aber gleichzeitig wurde mir die Einsamkeit unerträglich, und das sah ich deutlich. Wenn man sich schon einige Bekannte zusammengesucht hatte, mußte sie der Semesterschluß notwendig verwehen. Nun gab's ja Theologenvereinigungen. Die waren aber nach meinem Dafürhalten einseitig aufs Fach gestellt, und ich fühlte, wie wertvoll an der Universität gerade das große Allgemeine war. Da lernte ich einige frische Wingolfiten kennen und trat kurzerhand in die Verbindung ein. Ich fand dort Glieder aus allen Fakultäten, es gab kein mühsames Suchen, sondern eine überaus feste Kameradschaft. Ein richtiges Freundschaftsband umfing uns wie eine große Familie. Da war man wie aus der Fremde in die Heimat gekommen.
Man hat uns viele sehr erniedrigende Vorwürfe gemacht in unserem Verbindungsleben. Im allgemeinen ist das ein gutes Zeichen für ein Gemeinwesen, wenn die Philister das Maul dagegen aufreißen. Der Hauptvorwurf war wohl der der Feigheit, weil wir das Duell ablehnten, aber auch die Mensur. Nun, wir hatten keine Zeit dazu, hielten es auch aus christlichen Gründen nicht für richtig. Hätte ich damals den geschichtlichen Zusammenhang zwischen dem Zweikampf mit Waffen und dem armanischen Urweistum gekannt, hätte ich vielleicht anders entschieden. Aber ich habe es nie bereut, so gegangen zu sein. Im letzten Kriege zeigte sich auch, daß der Vorwurf der Feigheit uns am wenigsten traf. Von sämtlichen studentischen Korporationen hatte der Wingolf die weitaus größten Verlustziffern. Unsere Leute waren tapfer erzogen. »Wenn es gilt fürs Vaterland, treu den Schläger dann zur Hand.« Aber ohne daß es richtig ernst wurde für das Wohl des Ganzen, hielten wir unsere Waffen in der Ruhe und nützten die Zeit besser zum Studieren.
In der Verbindung begegnete mir ein ganz neues Leben von unbeschreiblichem Reiz. Da waren die Burschen aus ganz Deutschland beisammen und gaben sich in brüderlicher Offenheit. Mein Leibbursch war ein erfahrener Theologe, ein sehr streitbarer Mann, der mir gerade dieses Fach nicht lieber machte. Aber sonst gab's ganz entzückende Kameraden. Wir waren täglich beisammen. Die Verbindung erwartete, daß jeder sich wenigstens abends, wenn auch zuweilen erst ganz spät zeigte. Man sah sich bei Tisch, auf dem Kollegienhof, dem Fechtboden, Sonntagsspaziergängen, kurz immer und überall, man gab sich wie man war und nahm, was gegeben wurde.
So wurde das ganze Semester zum großen Fest, zur gegenseitigen Bereicherung und bekam einen Inhalt, den ich vorher schmerzlich vermißt hatte. Nun ging's auch besser mit dem Studium. Tags über wurde fleißig gearbeitet, aber abends konnte man sich doch austauschen und damit auch fördern. Und keiner war dem andern gleichgültig, vielen trat man sogar herzlich nahe und schloß Freundschaften, die schon ein Leben hindurch halten konnten.
Natürlich nahm die Verbindung alle freie Zeit in Anspruch. Irgendwelche Nebenbeziehungen konnte man kaum unterhalten, aber da man sich oft spät abends erst traf, konnte man ins Theater gehen. Ich habe aber meist gearbeitet. Ganz unmöglich war der Besuch von Nachtcafés u. dgl. Aber das war kein Schade. Die Verbindung wünschte auch solche Extratouren nicht, und wir vermißten es nicht, weil wir mit unsern Freunden überreich beschäftigt waren. Mich hätte auch kein Ball interessiert. In den letzten Schuljahren in Dresden war oft zum Tanzen Gelegenheit. Meine Tante hatte die angenehmsten Beziehungen und nutzte sie für mich aus, aber auf der Universität war zu alledem keine Zeit. Es ist später in unsern Verbindungen anders geworden. Jedes Geschlecht richtet sich ein, wie es ihm richtig erscheint. Ich habe in andere Sitten der Jugend nie hineingeredet, hätte es mir früher auch nicht gefallen lassen. In unser Leben paßte das nicht, was Spätere für sich für richtiger hielten.
Aber das machten wir wohl. In Sommernächten nach der Kneipe bei Mondschein auf der Pleiße nach Connewitz fahren, Nachtigallen singen hören und miteinander schweigen oder tiefsinnige Probleme wälzen. Oder nach Kommersen, diesen Höhepunkten des Verbindungslebens, die ganze Herrlichkeit still mit wenigen Vertrauten verklingen lassen, bis die Sonne einen neuen Tag beleuchtete. Einmal sagte ein geladener Professor zu uns auf einem Kommerse: Meine Herren, ich muß jetzt aufbrechen. Sie werde ich wohl morgen nicht sehen. – Aber wir saßen alle in seinem Kolleg, soweit wir's belegt hatten. Unsere Feierstunden haben unsere Arbeit nie beeinträchtigt. Darum strengte ein Semester schon an, aber es förderte auch in jeder Beziehung.
Eines war wundervoll in der Verbindung. Wir hatten Brüder aus allen deutschen Gauen, hatten aber überall auch Bruderverbindungen, wo nur akademisches Leben war, und alle waren nur deutschen Blutes. Damals wußten wir gar nicht, wie gut und angenehm das war. Aber vor dem Eindringen Undeutscher schützte uns unser christliches Bekenntnis. So kam's, daß man auf jeder Universität ohne weiteres daheim war, denn überall war man auf den gleichen Ton gestimmt und war deutsch. Ich könnte heute noch in jeder beliebigen Universitätsstadt die Verbindungskneipe besuchen und wäre – daheim. Die Zugehörigkeit zu unsern Verbindungen war ein sicheres Erkennungszeichen und denkbar beste Einführung. Es ist ganz selbstverständlich, daß man nicht ohne weiteres im späteren Leben mit jedem Bundesbruder in voller Harmonie lebt. Wo Menschen sind, gibt's auch Streit. Aber wenn man sich erkennt als eines Bundes Glieder, wird jeder Streit mindestens sehr gemildert. Man steht immerhin auf einem Boden, wo Verständigung möglich ist.
Mir hat später vielfach die Zeit gemangelt, die Fühlung mit dieser Jugend aufrecht zu halten, aber meine Söhne haben's getan, und wo es mir möglich ist, gehe ich gerne heute noch diese Wege. Ich glaube, daß wohl die meisten akademisch Gebildeten die angenehmsten Erinnerungen an ihre Studentenzeit und deren Verkehr haben, aber wenige hatten wohl das Glück, so lange aktiv sein zu können, wie wir es älteren Semestern ermöglichten. Diese kamen und gingen, wie ihre Zeit und Neigung erlaubte, bei der Jugend aus und ein und waren immer und überall hochwillkommen und – daheim. Wir hatten auch immer einzelne alte Herren oder wie man bei uns ehrenvoll sagt »Philister«, die es sich geradezu zur Lebensaufgabe machten, die Verbindung im Bunde überall aufrechtzuerhalten. Einen solchen greisen Philister traf ich vor einigen Jahren auf einem Wartburgfeste. Er hatte mich ein einziges Mal gesehen, und das lag 40 Jahre zurück. Als ich mich ihm vorstellte, nannte er meinen Spitznamen: Nicht wahr, so nannten sie dich? Solche Personalkenntnis einzelner ist natürlich für das Ganze sehr wertvoll und verbindet die rasch wechselnden Studentengeschlechter miteinander.
Bei uns kam noch dazu das Wartburgfest, das alle zwei Jahre zu Pfingsten abgehalten wird. Ein feierlicher Aufzug zu dem alten deutschen Heiligtume, ein großer Konvent und allgemeiner Kommers vereinigt dann Jung und Alt, und der Nachklang hallt in den Kreisen der alten Burschen wider. Wer es in den richtigen Jahren miterlebt, dem ist's eine unvergeßliche Erinnerung.
Im Studentenleben liegt auch viel veraltete Ueberlieferung. Das deutsche Studentendasein verläuft nicht anstaltsmäßig nach irgendeinem festen Plane und womöglich staatlicher Einrichtung. Unsere Universitäten sind eigentlich Republiken, und Lehrer und Schüler achten sich gleichwertig als Kommilitonen. Das Wort ist ja leider lateinisch. Aber es ist gut so. Im Deutschen müßte es heißen Armanenschaft, und das wieder würde auf den heutigen Betrieb nicht passen.
Man sieht aber dem ganzen Gefüge die Herkunft an. Darum kann uns auch niemand unsere Universitäten nachmachen. Gelehrtenschulen können sie gründen und Gelehrte und Techniker auf ihre Weise erziehen. Aber unsere Universitäten verstehen sie gar nicht, weil sie ihre Geschichte nicht kennen, und würden sie sie kennen, so stünden sie vor dem, was ihnen für alle Zeiten versagt bleiben muß. Unsere Universitäten sind die letzten Reste der alten Halgadomsschulen, die in den »Ol«orten um die germanischen Weihestätten bestanden. Die Armanen waren aber nicht klostermäßig seßhaft, sondern ebenso seßhaft als überaus beweglich. Das lag in der Natur der Einrichtung. Sie mußten seßhaft sein für die Ingfoonen, den festen Nährstand, aber als Lehrstand gehörten sie auch den Istfoonen, dem Fährstand, dem wandernden Teile des Volks. Beide betreuten sie mit ihrem Weistum. Also waren sie überaus freizügige Gefüge. Das sind unsere Universitäten noch.
Sie haben auch einige alte Bräuche bewahrt. Z. B. den Brauch »Prosit Blume« zu sagen. Die Blume des Glases war die Erinnerung an »die« Blume. Blume war das Wort, das die »Rose« verdeckte, und Rose ist das armanische Geheimwort für Geheimnis. »Die« Blume ist also »das« Geheimnis. Die akademischen Bürger empfinden sich als Eingeweihte in die Weistümer des Volks, und indem sie sich die Blume des Glases zutrinken, erkennen sie einander als Mitgeweihte an. Es ist also im Grunde ein hochheiliges Weihtum. Leider ist nur dieses geblieben. Wer »Blume« sagt, müßte eigentlich dafür eintreten, daß deutsches Weistum nicht Volks- und Artfremden wahllos vorgeschüttet würde und unsere Feinde Waffen in die Hände bekämen, mit denen sie uns bekämpfen.
Ein anderer offenbar uralter Brauch ist das Salamanderreiben. Salman hieß vor Urtagen der höchste Priester »der Heilsmann«. Seine Eingeweihten hießen die Salmannen, und da das Wort an das bekannte Tier anklang, wurde dieses das verbergende und nur zu Eingeweihten redende Wahrzeichen der Salmannen. Man nannte sie auch »Drachen«, Eingeweihte in das Dra-ug, das Geheimnis der Dreieinheit, was wir heute noch Drei-Auge oder Gottesauge nennen und gelegentlich dargestellt sehen. Der Grad der Drachen war aber der neunte Grad der Einweihung. Daher das dreimal drei bei dem Salamanderreiben. Es kann keine höhere Ehrung für den Burschen oder überhaupt den Gefeierten geben, als den Salamander. Er bedeutet, daß die Korona ihn ansieht als höchst Eingeweihten, zu dem sie ehrfurchtsvoll aufblickt, vor und mit dem sie ihr Opfer darbringt.
Das brauchtümliche Trinken, das der Student ehrt im Gegensatz zu dem »stillen Suff«, der gegen das Brauchtum ist, bedeutet eigentlich das uralte Opfer. In der Bibel kommt es noch vor als Trankopfer, die Römer nannten es Libation. Auch das war ein heiliger Brauch und bleibt es, auch wenn er gelegentlich Mißbrauch werden sollte. Aber das alles verstehen die draußen nicht und können es auch nie begreifen, lügen englandmäßig dem deutschen Studenten ein wüstes Saufen an, und es ist nur merkwürdig, daß so viel tüchtige Männer aus unsern Universitäten hervorgehen, während man sie doch als alkoholdurchseucht verleumdet.
Man könnte noch manche Urerinnerung im deutschen Studentenleben finden. Mögen diese genügen.
Im Anfang meines dritten Semesters erlebte ich etwas Merkwürdiges. Als mein Erlebnis wäre es ja bedeutungslos, aber ich glaube, andere werden ihr eigenes Erleben daran wiedererkennen und es an fremdem besser einschätzen und verstehen. Es war eigentlich furchtbar einfach. Ein Student, der in einem Kolleg neben mir saß, sagte einmal zu mir: Ich höre jetzt ein sehr interessantes Kolleg, da sollten Sie einmal zuhören. – Gut. Warum nicht? Studenten sollten immer etwas neugierig sein auf allerlei Wissenschaft.
Also ich ging und hörte – Friedrich Delitzsch. Ein feuriger, schwarzbärtiger junger Mann von wohlgepflegtem Aeußerem trug die Ergebnisse seiner Keilschriftforschungen vor und bezog sie auf das Alte Testament. Aber wie er das tat! Wie eine brennende Leuchte einer neuerstandenen Wissenschaft, und er selbst, der junge Mann, hatte sie begründet! Ich sah in eine völlig neue Welt uralten Altertums hinein und verwandte kein Auge von dem Sprecher.
Ein Klingelzeichen unterbrach den Vortragenden. Wie aus einem Traume wachte ich auf. War's lange, war's kurz? Ach natürlich, es waren 45 Minuten. Aber was für Minuten! – Da schnarrte eine fettige Stimme. Es war sein Famulus: Meine Herren, der Belegbogen liegt heute zum letzten Male aus. Bitte unterschreiben Sie, wer es noch nicht getan hat. Natürlich unterschrieb ich. Er hat, solange ich Student war, kaum ein Kolleg gelesen, ohne daß ich Zuhörer war. Dann ging ich hin, verkaufte alles, was ich entbehren konnte, und kaufte das Lesebuch der Keilschrift von Delitzsch. Es war handgeschrieben und stereotypiert, weil niemand es drucken konnte, und sehr teuer. Aber es hat mich begleitet, solange ich studierte.
Es war nicht allzulange vorher, da hatte einmal ein Gelehrter die große dreisprachige Keilinschrift von Behisiun für Spuren vorsintflutlicher Tiere erklärt. Später hatten sich wohl einige Meister hingesetzt und an mancherlei keilschriftlichen Funden herumgeraten. Nicht ohne Erfolg. Dann fand man viele Tafeln auf Ton, die ganze Bibliothek Assurbanipals. Der Engländer Georg Smith und andere forschten dran, aber als Friedrich Delitzsch kam, da fingen die alten Tafeln an zu reden. Er sah und verstand sie mit der Eingebung des begnadigten Forschers. Es war eine Bilderschrift mit rund 800 Zeichen, deren jedes vielerlei Bedeutungen hatte. Die Tafeln waren hauptsächlich in zwei Sprachen geschrieben, einer semitischen und einer nichtsemitischen, es gab viele lexikalische Arbeiten zwischen beiden Sprachen. Sie ermöglichten Aussprache und Verständnis für beide Texte. Der Inhalt war alles was Kultur betraf, Geschichte, Mythologie, z. B. die Nimrodgeschichte, das große 12 Tafelepos mit der Sintflut auf der zweiten Tafel, dem Zeichen der Fische. 12 die Zahl der Himmelshäuser und Nimrod selbst kein andrer als der gewaltige Jäger Orion mit dem Sirius, als nachfolgendem Jagdhund. Oder es gab Psalmen und Lieder, Sterntafeln, Bankquittungen, kurz alles, was unter Menschen geschrieben werden kann. Auch interessante Stempel auf Ziegeln, deren jeder die Bestimmung des Bauwerks trug, für das er gefertigt war. Z. B. der große Mondtempel in Ur, von wo seinerzeit Abraham auswanderte, war aus solchen gestempelten Ziegeln erbaut. Und alles in Originalschrift ohne verbessernde Abschreiber, vieles älter als Abraham.
Diese Texte wurden uns vorgelegt. Lexikon und Grammatik hat Delitzsch erst später herausgegeben. Jeder war auf seine eigene Arbeit angewiesen. Der grünste Anfänger ein Forscher! Und der Lehrer der Meister. Oft sagte er bei einem Text: Das weiß ich nicht, was das heißt. Dann schwieg er nachdenklich und schaute. – Ach natürlich! fuhr er dann auf, das muß doch so heißen, und im Kolleg war eine Entdeckung gemacht.
Einmal hatte ich mir über einer zweisprachigen Inschrift lange den Kopf zerbrochen. Ich konnte sie einfach nicht begreifen. Immer wieder dieselbe Zeichenverbindung, rechts und links etwas schlechthin Unstimmiges. Eines Tages kam Delitzsch zufällig auf die Inschrift zu sprechen. Sie haben hier, sagte er, eine Art Schülerheft vor sich. Das Einfache hat der Jüngling alles richtig übersetzt, sobald es aber schwieriger wurde, hat er daneben geschrieben: Ul idi »ich weiß es nicht«. Das hat er, wie Sie sehen, recht oft getan. Immer kehren die gleichen Zeichen wieder. Da war freilich das Rätsel verblüffend einfach gelöst, aber unsereiner konnte sich den Kopf dabei zerbrechen.
Und doch fanden auch wir manches. Und das war schön. Natürlich hielt jeder seine Fündlein geheim. Das sparte er auf für die Doktorarbeit. Bei uns wurden Doktorarbeiten geliefert, die nicht ganz wertlos waren. Ernste Forschungen waren darin niedergelegt.
Als mich dieses eigenartige Forscherleben erfaßte, war meine akademische Laufbahn eindeutig bestimmt. Ich hörte auch viel bei dem Vater Delitzsch, dem großen Franz Delitzsch. Er war unser bester Hebraist, auch großer Talmudkenner. Ich hatte das große Glück, im Laufe des Studiums seines besonderen Umgangs gewürdigt zu werden und von ihm viel Weisheit und Wissenschaft zu lernen. Aber Friedrich Delitzsch hatte in diesen jungen Jahren etwas geradezu Berauschendes an sich. Er gehörte auch zu unserer Verbindung und besuchte zuweilen die Kneipe. Sein Leibfux war noch bei uns und machte dann bei dem Leibburschen die Doktorprüfung. Sie hätten sich aber dabei ganz steif und richtig »Sie« genannt, obgleich sie fast die ganze Zeit allein saßen. Aber die akademische Würde schloß die Vertraulichkeit aus.
Ich habe in späteren Jahren die Fühlung mit dem Lehrer meiner Jugend verloren. Er war eine Zeitlang berühmt, so wie man in Berlin zeitungsmäßig berühmt werden kann. Ich habe ihn auf dem Wege bedauert. Seine eigentlichen Leistungen waren diese Leute ja entfernt nicht fähig zu würdigen. Die lagen auf dem Gebiete enger fachmännischer Forschung. Die kann nur jemand verstehen, der begreift, was die erste Grammatik und das erste Lexikon einer Sprache bedeutet, die wir nur in Tonziegelbruch aus dem grauen Altertum überkommen haben.
Vielleicht kommt aus diesen Studien meine Vorliebe für graues Altertum. Alles, was uns etwa die Bibel bietet, ist aus so außerordentlich junger Zeit. Wir können allenfalls Schlüsse ziehen auch auf ihre Quellen, aber bisher stehen wir da ziemlichem Dunkel gegenüber. Nun war aber das alles, dem meine Liebe gehörte, semitisches oder vorsemitisches Altertum. Daß es auch ein deutsches Altertum gäbe, das uns doch viel näher angehen müßte, davon hatte unsere ganze Zeit keine Ahnung. Während die deutschen Ueberbleibsel unbeachtet im eigenen Vaterlande verwitterten, lehrte man uns, daß die ältesten Quellen über unser Volkstum etwa der Römer Tacitus und ähnliche Tagesschriftsteller seien. Natürlich Römer, also Feinde! Daß dem Deutschen auch deutsche Quellen fließen, davon wußte man nichts, vielleicht durfte man nichts wissen. Und wer Bibel studiert hat, auf den übt ein Tacitus keinen Reiz mehr aus. So blieb ich lieber bei den Assyrern und Sumerern.
Ueber diesen Studien tauchte schließlich im schnellen Hinschwinden der Semester doch die bange Frage auf: Wohin soll das führen? Wo in der Welt kann man Assyriologen gebrauchen? Nur auf Universitäten als Lehrer für zwei, auch drei Zuhörer. Und das Brot, wenn man wirklich einen Lehrstuhl erlangt?
Sollte ich danach überhaupt trachten? Zu einem so begnadeten Lehrer wie Friedrich Delitzsch hätte meine Begabung nicht ausgereicht, das sah ich deutlich. Auch das Gedächtnis, das unzählig vieles immer bereit hält, fehlte mir. Und ein Lehrer zweiter Wahl, eine Plage für die Musensöhne, wollte ich nicht werden. Ich sah genug dergleichen als Last akademischer Lehrstühle. Wer nicht aus allererstem Holz geschnitzt ist, sollte sich nicht unterwinden, akademischer Lehrer zu werden, wenigstens nicht auf den Lehrstühlen der Geisteswissenschaften. Zum römischen Fremdrecht mag er taugen und Verwaltungsbeamte auf den Amtsschimmel zu dressieren, aber nicht zur Heranbildung ernster Forscher.
Schließlich teilte ich Delitzsch meine Not mit. Wissen Sie was? Machen Sie auf jeden Fall ein theologisches Examen. Für alttestamentliche Fragen bedürfen Sie keiner Vorbereitung, und das andere wird sich auch finden. Sie können noch ein großes Kirchenlicht werden.
Das ist nun nicht geworden, mein Sinn stand auch gar nicht dahin. Ich war niemals mit irgendwelchem Ehrgeiz behaftet. Aber den gutgemeinten Rat, der nicht ganz ohne Demütigendes war, habe ich befolgt und schließlich zur rechten Zeit ein gutes Examen bestanden.
Wir hatten damals in Leipzig ein Dreigestirn von Ruf in der theologischen Fakultät, das waren die Namen Franz Delitzsch, Luthard und Kahnis. Auch Professor Fricke habe ich gern gehört und in seinem Seminar viel gearbeitet und gelernt. Persönlich näher gekommen bin ich nur Franz Delitzsch. Er stand mir wie ein Vater nahe und schenkte auch mir großes Vertrauen.
Damals war die letzte Zeit der alten Orthodoxie. Unser Dreigestirn vertrat diese Richtung, die bald nachher versank, um neueren Strömungen Platz zu machen. Wellhausens und Rietschls Gestirn ging langsam auf. Aus jenem Lager lautete alles ganz anders.
Das war mir auch schwer an der Theologie. Es ist nirgends etwas Festes, unzweifelhaft Verläßliches. Die Bibel etwa? Nicht einmal ihr Wortlaut steht fest, wie unsere Tontafeln, die nie jemand verändern konnte. Und ihre Auslegung? Jesus fragte einmal einen bösen Geist: »Wie heißest du?« Da antwortete er: Legion, denn unser sind viele. Er hätte ebensogut sagen können: Exegese, Bibelauslegung. Da sind's mindestens ebensoviele und nicht immer gute Geister.
Das richtige Verhältnis zu allen biblischen und theologischen Fragen gewann ich erst viel später und ohne akademische Belehrung. Damals wirkte das alles verwirrend auf mich ein. Das Feste und Klare lag doch in den Inschriften. Würden sie erst richtig entziffert sein, so würde vielleicht auch die Exegese darüber herfallen, aber bis dahin war noch lange Zeit.
Und die dogmatischen Fragen, über die sich die Kirchengeschichte so unsagbar aufgeregt hatte? – Sie kamen mir so außerordentlich unwichtig vor. Ich war über diesen Zustand oft betreten, konnte ihn aber nicht ändern. Der eigentliche Grund dieses Verständnismangels wurde mir erst viel, viel später deutlich. Damals empfand ich ihn wie ein Gebrechen. Erst später erfuhr ich, daß Krankheiten oft Heilversuche der Natur sind. Wer sie besteht, wird nachher gesünder als vorher, und wer sie nicht besteht, dem haben sie wenigstens beigebracht, daß es an der inneren Kraft fehlte, den Angriff der Krankheit zu bestehen. Auch diese Erkenntnis ist vielleicht wert, daß man sie mit einem Planetenleben bezahlt.
Ueber alle diese Schwierigkeiten hinüber trugen die ersten Arbeiten zum Examen. Ich habe alles auswendig gelernt, was man von mir verlangte und habe gut bestanden. Ich war natürlich mit dem Ergebnis nicht zufrieden, das ich schwarz auf weiß besaß. Mir war's unglaublich gleichgültig. Ich gedachte auch nicht, so bald von meinen Rechten Gebrauch zu machen.
Damals waren Theologen sehr gesucht. Eine Menge Pfarrstellen waren unbesetzt. Es war Anfang der 80er Jahre, der Nachwuchs mangelte, und die Behörden waren sehr froh, wenn die frisch Geprüften sich zur Verfügung stellten. Man übersah sogar den Mangel des zweiten Examens. Ich habe es niemals gemacht.
Diese Zustände waren ganz bezeichnend. Vor 10 Jahren war der große Krieg geschlagen worden und Deutschland war eine Macht. Das durfte natürlich nicht sein. Der Rat unserer Feinde hatte schon damals beschlossen, uns zu vernichten. Da sie mit ehrlichen Waffen nicht kämpfen konnten, und das Lügen und Heucheln für sie geeignetere Waffen sind – Jesus sagte einmal: »Sie reden von ihrem Eigenen« – führten sie ihren Kampf indirekt, nahmen das Maul voll Freiheit und untergruben im Namen der Wissenschaft zunächst die Stellung von Kirche und Religion, um später auch den Staat zu zerstören. Das ist ihnen bekanntlich gelungen, und diese Entente arbeitet ebenso im Innern wie von außen. Seit den ältesten Zeiten ist noch jede Kultur, die nur nordische Köpfe in die Welt einführten, dadurch zerstört worden, daß das niedere Blut den Gesang anstimmte: Gleiches Recht für alle. Das ist der internationale Sang des Niederrassentums, und sobald er durchdringt, ist's aus mit jeder Kultur. Die Kultur geht immer aus von den wenigen, und nur die wenigen können sie erhalten. Sobald die vielen ihre meistens unsauberen Pfoten dranlegen und die minderwertigen Massen die gleichen Rechte mit den hochwertigen Minderheiten haben, ist das große Werk zerstört. Mit den Trümmern stecken sich die Revolutionsgewinnler und Schieber die Taschen voll und wursteln fort, bis alles zugrunde gegangen ist. Wir haben das an unserer Haut erfahren.
Eine uralte arische Geschichte, die merkwürdigerweise ausgerechnet von den Juden übernommen worden ist, hat uns das vorausgesagt, denn dem Urgeheimnis der weltbeherrschenden Weisheit bleibt nichts verborgen. Da war ein Weib und ein Viech, und das Weib war dem Viech zu Willen gewesen, schwatzte mit ihm und ließ sich verleiten von ihm. Da wurde dem Viech gesagt: Es muß nun ewige Feindschaft sein zwischen dir und dem Weibe, zwischen dem Viechersamen und dem Weibessamen. Dieser wird dem Viech ja von vorne den Kopf zertreten, aber das Viech wird ihm von hinten den Dolchstoß versetzen.
Die Geschichte ist älter als Deutschland, nicht älter als der arische Stamm, hat sich oft wiederholt in allen Zeiten, zuletzt bei uns. Aber es wird einmal die Zeit kommen, wo das Viech nicht mehr von hinten in die Ferse stechen kann, weil ihm der Atem ausgeht, und die wahren Menschen den endgültigen Sieg gewinnen. Bis dahin ist jeder irgendwie geartete Pazifismus unmenschlich und ungöttlich, ist eine Hauptwaffe der Viecher. Nach dem endgültigen Siege wird ohnehin Frieden. Vorher nicht.
Nun im Jahre 1881 war das Unterwühlen des geistlichen Ansehens soweit gelungen, daß die denkende Jugend keine Lust mehr hatte zur Theologie. Aus der Hand unserer Dresdener Meister wurden Jünglinge entlassen, die für alle Wissenschaft begeistert waren, für die Theologie eigentlich nicht. Das reizte mich nächst den Ueberlegungen mit Friedrich und Franz Delitzsch am meisten zur Theologie, nur war mir innerlich manches schwer. Nicht der Glaube an die göttlichen Wahrheiten selbst. Der hat niemals bei mir geschwankt. Seit Bruder Goerlitz nicht. Aber der Betrieb und Verschleiß dieser Wahrheiten war mir schwer, und ich wußte nicht klar, weshalb?
Später wurde es mir deutlich. Es fiel mir einmal ein Wort aus dem Munde Jesu auf. Er sprach von Jungfrauen, die dem Bräutigam entgegengingen, ihn zur Hochzeit zu empfangen. Etliche hatten genügend »Oel« bei sich, etliche nicht. Oel: griechisch elaion, lateinisch oleum klingt merkwürdig an an das arische Wort ol. Es fehlte den Törichten das eigentliche Weistum. Es gab aber Krämer, die Oel verhökerten. Wer nun von den Jungfrauen, den Hochzeitbereiten, in diese geistlichen Krambuden lief, um sein mangelndes Oel zu ersetzen, den ließ der Bräutigam nicht zu zur Hochzeit, d. h. der engeren Arbeitsgemeinschaft des Bräutigams, so gut sie es meinten, und so jungfräulich sie sich auch gebärdeten. Vom Eigentlichen blieben sie ausgeschlossen. Es handelte sich nicht um die Frage des Seligwerdens. Davon war gar nicht die Rede. Man kann doch auch Menschen, die so an die Türe klopfen und so eifrig nach geistlichem Kram suchen, nicht gut in die Hölle schicken. Sie meinen's ja so herzgut, und in der Hölle wäre gar keine Verwendung für sie. Aber für die eigentlichen, die schweren und vollendenden Arbeiten des Reiches Gottes schließt man sie besser aus. Ich glaube, sie schwatzen zuviel und machen überhaupt zuviel Lebtag. Im entscheidenden Augenblicke würden sie versagen. Es fehlt ihnen trotz allen geistlichen Krams das – »Oel«. Hier liegt jedenfalls, wie so oft im Munde Jesu, uralte Kala vor.
Um allen diesen Fragen und Verlegenheiten zu entgehen und innerlich klarer zu werden, auch um im Stillen meiner Liebe zur Assyriologie nachgehen zu können, entschloß ich mich kurzerhand und nahm eine Hauslehrerstelle in Livland an. Das war eine Einsamkeit, die nach dem akademischen Vollleben in Leipzig eigenartig anmutete. Ein einsames Gut von zwei Quadratmeilen Größe und die einzigen deutsch sprechenden Menschen die Hauseltern und ihre Kinder. Alle andern sprachen estnisch. Ich eignete mir bald einige nötige Redensarten an, schon um den Dienstboten die nötigsten Aufträge erteilen zu können, und als Philologe konnte ich's natürlich nicht lassen, die beste Grammatik der estnischen Sprache, die Arbeit des geistvollen Wiedenmann, zu studieren. War das eine Sprache! Dem Finnischen nahe verwandt, aber o Wunder! Es fanden sich Anklänge an die nichtsemitische Sprache meiner Keilschrifttexte. In beiden bedeutete »Ma« Land, die alten Keilschriftmenschen nannten ihr Land Sumerma, das biblische Sinear, die Finnen nennen heute noch ihr Land Suomima. Ich weiß nicht, ob jemand den Vergleich weiter verfolgt hat, für mich waren die wenigen Anklänge, so wertlos sie wissenschaftlich waren, doch eine große Freude.
Ueberhaupt das Land und das Volk! Die Deutschen haben ihm seit lange die Kultur gegeben. Die Hansa hatte ihre großen Handelsplätze gegründet, Riga, Reval, Libau, und deutscher Adel saß auf den großen Gütern des Landes. Die Leibeigenschaft war lange vorher aufgehoben, ehe Rußland daran dachte, die Großgrundbesitzer hatten bestimmte Teile ihres Besitzes abgeteilt und einen freien Bauernstand geschaffen, der sein Land unter billigen Bedingungen abbezahlte, es waren überall Schulen gegründet, und eine evangelische Kirche besorgte die geistliche Führung des Volks. Die Wissenschaft aller Fakultäten war vorzüglich vertreten in der deutschen Universität Dorpat, einem wahren Juwel deutscher Siedelungsweisheit, so einfach die Stadt am Embach auch anzusehen war.
In einem Punkte war ich damals nicht ganz einig mit der Politik der Balten. Wenn ich aber jetzt zurückdenke, sage ich mir, vielleicht war ihre Politik doch tief berechtigt, obgleich nach meinen Gedanken vielleicht manches bequemer gelaufen wäre, als es geschehen ist. Das war die Sprachenfrage. Die Sprache der Gebildeten und der herrschenden Klasse war deutsch. Die Deutschen hatten aber gesagt, man darf dem Volk seine Muttersprache nicht nehmen. Daher erhielten sie in Kirche und Schule die estnische Volkssprache. Auch im Verkehr mit allen Angestellten und allen Menschen estnischen Stammes. In Kurland war's ebenso, nur war dort lettisch die Landessprache.
Damit war aber aus einer Blutsgenossenschaft ein Stand geschaffen, und das böse Wort »Esten stand« hörte man sehr häufig. Dagegen war ich innerlich aufsässig, und nach Art junger Leute sprach ich es auch gelegentlich aus. Ich sagte, ihr hättet müssen überhaupt nur deutsch mit ihnen sprechen, namentlich in Kirche und Schule. Es wäre dann wirklich ein deutsches Land geworden, unbeschadet dessen, daß in den Kreisen des Volks die estnische Sprache gebräuchlich war.
Man konnte also einem Menschen nur dadurch, daß man ihm auf estnisch »guten Tag« sagte, bedeuten: Du gehörst zu einem niederen Stande. Unser Hausherr hatte einen alten, greisen Verwalter aus dem »Estenstande«. Er hatte die Ehre, mündlich deutsch von seinem Herrn angeredet zu werden, aber »Du«. Schriftlich blieb es bei dem Estnischen. Einmal ließ sich im Gebiete ein junger Arzt estnischer Herkunft nieder. Als er auf dem Gute seinen Besuch machte, fuhr er nicht an der Paradetür vor, die nur Deutschen aufbehalten war, sondern hinten vor dem Eingang für Esten. Natürlich war das Unart von ihm und boshafte Absichtlichkeit, aber ein wenig Wahrheit lag doch drin, und etwas Wehtuendes blieb in diesem Kastensystem. In Indien haben's vor Urzeiten die Arier ja geradeso gemacht und die Kaste der Arya begründet. Ob es klug war? –
Damals zeigten sich sehr üble Folgen. Ein Deutscher muß wissen, daß der Kampf gegen das Deutschtum sehr alt ist. Er ist so alt wie die üblichen Schulkenntnisse von unserer Geschichte sind. Es ist der an sich ehrenvolle Haß der Vielzuvielen gegen die Ueberlegenen. Rußland hatte eine große Partei, die schon damals die Geschäfte der heutigen Entente besorgte, und diese wühlte durch ihre Spitzel und Agenten unter fleißiger Benutzung kleiner Einzelvorkommnisse gegen die Deutschen. Mit Geld ist da viel zu machen. Es wurden also Unruhen, hier und da brannten Gutshöfe ab, das schadete weiter nicht viel, denn sie waren hoch versichert, einmal wurde auf unsern Pastor geschossen und ihm eine leichte Wunde beigebracht, und ähnliche Dinge kamen vor, die auf Erfolg der heimlichen Hetzarbeit schließen ließen. Wir erlebten ja ähnliches in jener Zeit in Deutschland. Es war das Wetterleuchten, das die allgemeine Deutschenhetze anzeigte. Natürlich war man in Rußland sittlich entrüstet über die Unordnungen. Offenbar konnten diese Provinzen das bischen Selbstverwaltung, das sie hatten, nicht handhaben, und Rußland untersuchte und fand die üblichen »entsetzlichen« Zustände. Sittliche Entrüstung ist in der Regel das Anzeichen heimlicher Gemeinheit. Es ist bekannt, daß die englische Politik jedesmal, wenn es ihr vorteilhaft scheint, sich irgendwo einzumischen, »entsetzliche Greuel« entdeckt oder erfindet, zu deren Abstellung es im Namen der Menschlichkeit und Wahrheit – so lautet die übliche und gangbare Lüge – notwendig eingreifen und geordnete Zustände herstellen muß. Man nennt das in der diplomatischen Gaunersprache Penetration.
Nach diesem Muster des frommen Englands brach also Rußland sein Versprechen, den Ostseeprovinzen die Selbstverwaltung zu belassen und mischte sich ein, um die »entsetzlichen Zustände« zu ordnen. Es folgten die trüben Jahre der Russifizierung, die natürlich von den Esten und Letten zunächst mit Freude begrüßt wurden, wenn diese auch nicht lange währte. Wären die Provinzen deutscher Sprache gewesen, da sie ohnehin deutschen Glaubens waren, so wäre die Russifizierung nicht gelungen. Ich sah den Zusammenbruch damals kommen. Daß er so schrecklich sein würde, ahnte ich nicht. Meine damaligen Schüler haben alle das Leben dabei verloren. Der das Gut übernahm, wurde von Esten ermordet.
Durch rechtzeitige Eindeutschung hätte man vielleicht den Russensturm vermieden oder gemildert. Aber wenn ich heute zurückdenke, muß ich doch den alten Balten recht geben in ihrer Politik. Hätten sie die Völker eingedeutscht, so hätten sie ein Mischvolk geschaffen und Mongolenblut hereinbekommen. So aber haben sie das deutsche Blut rein erhalten. Einen Balten kann man immer als kerndeutschen Menschen rechnen. Es wird natürlich in jenen Ländern auch Mischlinge geben, aber diese dürften ausschließlich estnische Mütter haben und blieben durch Geburt in ihrem Stande und ihrer Sprache. Die Balten hielten auf »bewahrtes« Blut, unsere Väter sagten blaw bluot, blaues Blut, und das sollten wir ihnen danken. Das blaue Blut wird ihnen auch in ihrer Heimat wieder zu der Stellung helfen, die ihnen gebührt. Denn das jetzige Staatengemüse dort dürfte schwerlich von langer Dauer sein.
Mir war das estnische Volk damals sehr interessant. Seine Sprache und seine ganze Art war nicht unangenehm, und wir Deutschen haben ja die Fähigkeit, uns in jedes fremde Volkstum hineinzufühlen. Sie verstehen uns nicht, können es gar nicht, aber wir verstehen sie alle. Der Deutsche hat nur die heilige Pflicht, die er gar nicht ernst genug nehmen kann, sein Blut zu bewahren und sich unter keinen Umständen mit fremdem Blute zu vermischen. Die uralte, ebenfalls arische Geschichte von der Sündflut gibt in ihrer biblischen Form als Ursache des Strafgerichts an leichtsinnige Blutvergeudung der zum Herrschen Berufenen und Erzeugung von Mischlingen. Wenn auf diesem Gebiete nicht das deutsche Gewissen erwacht, so wird die Flut des Rassenmischmaschs allerdings das Volk der Sonnenmannen wegschwemmen. Das schwarze, braune, gelbe, kurz irgendwie ententemäßig gefärbte Weib sollst du schützen, aber sie nicht zur Mutter deiner Kinder werden lassen. Sie wird dich hinabziehen in ihre Niedrigkeit und dein unbewahrtes Blut verseuchen. Vergiß nie, daß du Arier bist und Sonnenwege wandeln mußt.
Was ich sonst in dem Lande sah, machte allerdings meine Seele jauchzen. Es war ein Leben wie in einem ungeheuren Walde. Die geackerten Stellen konnte man übersehen. Aber der Wald! Zu uns redet der Wald eine deutliche Sprache, auch wenn wir nichts von dem Glauben unserer Väter wissen. Er ist und bleibt das heilige Waltungsgebiet, in dem die deutsche Seele ihre Heimat findet.
Unser Blut redet in der Sprache des Waldes. Woher wissen wir so manches Geheimnis und wertvolles Weistum? Nicht durch Schriften, Bücher oder Lehren. Unser Blut hat es aufbewahrt aus Urtagen. Schon darum muß das Blut bewahrt werden. Sonst verliert es die Gabe des Sprechens in deinen Kindern, hört auf, Rassenkraft zu sein und wird Massensaft. Wie das Blut auf den Wald anspricht, so ist die Aufnahmefähigkeit des Menschen für verborgenes Weistum. Es gibt große Völker, denen der Wald schlechthin nichts sagt, die ihn hacken und verholzen und verhökern, aber er schweigt wie das Lamm, das geschlachtet wird und wie das Schaf, das der Scherer zu Boden wirft. O du heiliger Wald, du hehre Waltung!
In Livland westlich des Peipussees hatte der Wald noch den besonderen Reiz ungeheurer Moore voll Moos, Blumen und Beeren, wie sie in Deutschland zum Teil gar nicht bekannt sind, und im Walde lagen stille, tiefe, geheimnisvolle Seen. Vielfach lagen sie in scheuer Unnahbarkeit, weil das Moor sie eingeschlossen hielt. Ich konnte mich nicht satt sehen an der Pracht. Ich erinnere mich eines kleinen Waldsees, des Pärazjärws, an dem ich stundenlang sitzen und auf die Stimme der heiligen Waltung lauschen konnte. Der See war nur an einer Stelle zugänglich und lag in einer Einsamkeit, die fast nie ein menschlicher Fuß betrat. Der Auerhahn breitete seine mächtigen Schwingen aus, das Elen durchzog gelegentlich das Revier, den weißen Hasen verriet sein Fell, wenn der Schnee länger ausblieb, nachdem er sein graues Hasenfell gewechselt. Im Winter kamen Russen und zogen aus Löchern auf der Eisdecke gewaltige Mengen von Fischen heraus. Einmal brachten sie einen Hecht von 23 Pfund.
Im Winter gab's Wege! Ueber die Moräste und Seen hinweg immer gerade durch den Wald sauste der Schlitten, gingen die Lastfuhren, die Holz oder im Sommer gemähtes Heu von den einsamen Heuschlägen im Walde abführten. Ein schneeloser Winter wäre eine wirtschaftliche Verlegenheit für das Land geworden, denn die Fahrwege waren vielfach Umwege und Unwege, aber die Schlittenwege ermöglichten den wahren Verkehr.
In den langen Sommertagen gab's fast keine Nacht. Bis gegen 11 Uhr abends stand die Sonne am Himmel, um nach kurzer, unbeschreiblich lieblicher Dämmerung kurz nach 1 Uhr wieder aufzugehen. Ich habe in dieser Zeit einmal Finnland durchfahren, das Land der tausend Seen, wo der Imatra, der größte Wasserfall Europas, braust. Wir fuhren nachts mit Postpferden durch die stille Landschaft. In den Dörfern war keine Haustür geschlossen. Der lange Tag und die Einsamkeit des Landes ließ Diebstahl nicht aufkommen. Die Fahrt durch die Wunder des nordischen Waldes und die Wasserfahrt durch die schweigenden und doch so beredten Wälder am Seimajärw wird mir immer unvergeßlich sein. Ich habe später auch tropischen Palmwald gesehen, aber die Sprache der Palmen verstehen wir nicht, während Eiche, Linde, Weide, Tanne und alle die ernsten Gestalten germanischen Waltungsgebiets sich uns vernehmlich machen können.
Ich sollte nicht allzulange in dieser einsamen Stille bleiben. Ein so enges Zusammenleben ist nur möglich, wenn Eltern und Lehrer der Kinder sich tief verstehen. Das wird bei einem noch sehr unerfahrenen Reichsdeutschen im Auslande oft recht schwierig sein. Wir fanden uns nicht ganz zusammen und trennten uns nach Jahresfrist nicht ungern, obgleich wir einander Liebe und Achtung bewahrten, die bei jedem späteren Zusammentreffen, so selten es auch war, immer wieder an die alten Beziehungen anknüpfte.
Ich hatte auch einen besonderen Grund zu gehen. Franz Delitzsch hatte es irgendwie durchgesetzt, daß mir das Lutherstipendium zuteil wurde. Das war eine Einrichtung der Verwaltung des Wormser Lutherdenkmals, die jungen Leuten nach Beendigung ihres akademischen Studiums ein weiteres Jahr des Studierens ermöglichte. Ein bischen knapp war es ja bemessen, aber mit einiger Einschränkung konnte man auskommen. Damals war es gar nicht sehr gesucht, weil man weit bessere Gelegenheiten hatte, seine Kraft zu verwerten. So kam's, daß es mir ohne Zutun meinerseits in den Schoß fiel. Da war's das Gegebene, daß ich wieder die Universität bezog, um ohne Examensnöte den reinen Studien obliegen zu können. Natürlich zog ich zu Friedrich Delitzsch nach Leipzig, und als dieser auch ein Stipendium und ein Jahr Urlaub bekam, den er am britischen Museum in London verlebte, ging ich zu Schrader, dem Assyriologen Berlins, der einst Delitzschs Lehrer gewesen war.
Damals lernte ich Berlin kennen und auch schätzen. Wer etwas lernen will, findet dort buchstäblich alles und tüchtige Lehrkräfte dazu. Schrader war freundlich zu seinen wenigen Schülern und gab sich viel Mühe, wenn auch nicht mit dem großen Erfolg von Friedrich Delitzsch.
Ich benutzte die Zeit, meine Doktorarbeit vorzubereiten und versenkte mich, freilich nicht mit allzugroßem Erfolg, in die große Inschrift Assurnasirpals. Der Kopf der gewaltigen Inschrift findet sich in mehreren Exemplaren im Dresdner Museum, wo ich ihn während der Ferien kollationieren konnte. Später hat jemand die Inschrift wieder bearbeitet und jedenfalls viel besser als ich, freilich auch mit Hilfsmitteln, die uns schlechthin nicht zur Verfügung standen, weil Delitzsch sie noch vorbereitete. Er hatte später die große Freundlichkeit, den Druck meiner Arbeit zu besorgen und hat sie mit gelehrten Anmerkungen versehen, die ich z. T. selber heute nicht mehr lesen kann. Ich mußte aber warten, bis mein Lutherjahr vorüber war, und Delitzsch wieder nach Leipzig kam.
Inzwischen war es höchste Zeit für mich geworden, daß ich endlich meinen militärischen Pflichten nachkam. Ich hatte, um meine Studien nicht zu unterbrechen, von der Freiheit, mich zurückstellen zu lassen, ausgiebigen Gebrauch gemacht, aber einmal mußte es doch sein. Ich stellte mich also bei dem Leipziger Infanterieregiment Nr. 107 und wurde ohne weiteres angenommen mit dem Befehl, am 1. Oktober 1883 vormittags 10 Uhr auf dem Kasernenhof zu stehen. In der Universität ließ ich mich wieder immatrikulieren, um, da Delitzsch wieder las, bei ihm zu promovieren.
Da wo heute das stattliche Leipziger Rathaus steht, stand vor Zeiten die alte Pleißenburg, ein ehrwürdiges Gemäuer mit großer Vergangenheit. In der Pleißenburg hatte einst Luther mit Eck die berühmte Disputation abgehalten, die zur Trennung leider nur eines Teils der Deutschen von Rom führte, von Rom, das die unheilvollste Macht in unserer Geschichte ist, weil es uns von der Quelle unserer Kraft dem Armanengeheimnis, dem heiligen Gral, gelöst hat. Luther wußte nicht, welche bedeutsame Wendung unseres Volksschicksals er einleitete. Niemand konnte auch die ungeheuerliche Kraftentfaltung ahnen, mit der Rom das entrissene Gebiet wieder zu gewinnen trachtete.
Zu meiner Zeit war die Pleißenburg die Heimstätte des 107. Regiments, dessen Marsch lautete:
Hundertsieben, Hundertsieben
Ist das schönste Regiment.
Wir sollten davon nicht viel merken. Um die Burg herum waren weitläufige Festungsgräben, und diese haben wir mit unserem Schweiß gedüngt in schweren, schweren Uebungen und unter manchem Donnerwetter. Aus diesen schweißgedüngten Gräben ist dann das stattliche Leipziger Rathaus erwachsen.
Ja es war wieder eine neue Welt, die sich da auftat. Daß Menschen so unter Kommando stehen könnten, davon hatte ich freier akademischer Bürger keine Ahnung, hatte mich auch nie darum gekümmert. Aber nun packte mich und viele Kameraden, die alle der Universität wegen dieses Regiment gewählt hatten, die rauhe Faust einer harten Wirklichkeit. Ihr Kerle – schnauzte uns der Feldwebel an, nachdem er uns zwei Stunden unbeachtet auf dem Kasernenhof hatte stehen lassen – bildet euch bloß nicht ein, daß ihr etwas Besseres wäret als andere Leute. Also jetzt marsch! Laßt euch alle die Haare schneiden und seid um 2 Uhr wieder da, eure Waffen und Monturen in Empfang zu nehmen.
Das war der Willkommen, und in dem Tone gings 365 Tage lang fort. Er war im Jahre 1870 als gelernter Gärtnergehilfe in das Heer eingetreten, hatte Freude am Soldatenleben gefunden und hatte es bis zum Feldwebel gebracht. Ich hatte nie gewußt, was für eine ungeheure Macht ein Feldwebel ausüben kann. Vor diesem Gewaltigen duckten alle Unteroffiziere der Kompanie. Aber auch die beiden Leutnants. Er verstand den Hauptmann zu beeinflussen und konnte sagen: Vielleicht könnte diesen und diesen Dienst der Herr Leutnant so und so übernehmen. So konnte er einen Leutnant beliebig mit Dienst bepacken, denn der Hauptmann fand alles, was er sagte, sehr vernünftig. Der Feldwebel heißt ja bei den Soldaten die Mutter der Kompanie, der Hauptmann der Vater. Bei uns ging's so wie bei Abraham: Alles, was Sarai, dein Weib, dir sagt, dem gehorche. Unsere Kompaniemutter leitete das Ganze. Man konnte gegen sie nicht wohl appellieren, und sie gab uns eine etwas rauhe Erziehung. Der Feldwebel haßte alles, dessen innere Ueberlegenheit er empfand, und konnte die Einjährigen als gebildete Menschen nicht wohl vertragen. Dabei war er schlechthin unbestechlich. Das stützte seine Macht, sicherte ihm aber auch unsere Achtung.
Auf mich wirkte diese untergeordnete Stellung, die uns hoffnungslos den Unbilden von Unteroffizierslaunen preisgab, im allgemeinen erheiternd. Nach dem akademischen Leben und seiner Freiheit war der Gegensatz dieser militärischen Zucht überaus drollig, um so mehr, als man täglich einen Tag dieses Zwangszustandes verlor. Gerade weil ich an Alter und Lebenserfahrung älter war als alle Kameraden, wurde mir's innerlich leichter als den meisten, und ich verstand auch besser den Zweck des Ganzen. Der Grundgedanke des Dienstlebens war, die jungen Männer unausgesetzt so zu beschäftigen, daß sie immer auf die Strenge des Befehls achten mußten. Während man uns das Wohnen in unsern Studentenbuden gestattete, mußten die Mannschaften ihren gemeinsamen Schlaf- und Wohnraum als Muster von Reinlichkeit und Ordnung halten. Kein Augenblick, in dem nicht irgendein Vorgesetzter erscheinen konnte und wehe, wenn irgend etwas fehlte. Es durfte nur auf einer Bettdecke eine kleine Falte gesehen werden, wo sie nicht ganz glattgestrichen war, so tobte der Feldwebel – nicht etwa wider den Faulpelz und Lüdrian, sondern wider den beaufsichtigenden Gefreiten. Der gab das Donnerwetter natürlich weiter und fügte einige Eventualmaßnahmen bei, die eine Wiederholung unmöglich machen sollten. Es mußte jede kleinste Kleinigkeit beachtet und jede Minute aufgemerkt werden, und diese Zucht mußte dem Mann so eigen werden, daß er ihr unbewußt in selbstverständlichem Empfinden gehorchen lernte und sich in seinen Schranken wohl und behaglich fühlte.
Das Allzeitbereitsein, diese große Stärke des deutschen Heeres, wurde im kleinsten geübt, um zu dem Geist zu werden, der die Millionen beherrschen konnte. Und das ist auch gelungen. Der Mann hatte buchstäblich keine freie Minute. War's nicht äußerer Dienst, so war's innerer. Putzen, Fegen, Waffenputzen, Uniformen reinigen und flicken, flicken, flicken. Alte Röcke und Hosen, die Rekrutengeschlechter ausgehalten, schon alle Farbe verloren hatten, mußten tadellos sauber und löcherlos gehalten werden, kein Dienst, vor dem nicht jeder von vorn und hinten von sämtlichen Vorgesetzten durchgemustert wurde und wehe! wenn ... War ein Riß gar zu verzweifelt, daß er das Können des Laien doch überschritt, so wurde es der Kompanie gemeldet, und in letzter Instanz entschied der Feldwebel, ob der Riß vom Kompanieschneider oder doch vom Manne zu heilen sei.
Für uns fiel ja das weg. Wir hatten neues Zeug für unser Geld erhalten, das recht wohl ein Jahr halten konnte. Wir durften auch einen Putzer beschäftigen, aber leider war nicht dieser, sondern wir verantwortlich für jede Unregelmäßigkeit. Und es gab so viel Kleinigkeiten. Der Streifen zwischen Absatz und Schuhsohle mußte mit gewichst oder geschmiert sein, wenn man auf dem Kasernenhofe antrat. Auf Verlangen mußte ein Bein erhoben werden für den prüfenden Blick des Vorgesetzten. Das Gewehr bot unendlich viel Gelegenheit zu Schikanen aller Art. Daß es in- und auswendig rostfrei sein mußte, war selbstverständlich, aber auch der Schaft mußte von verriebenem Leinöl glänzen, ohne fettig zu sein. Kurz durch tausend Kleinigkeiten machte sich das Joch des Dienstes unausgesetzt fühlbar.
Das erstreckte sich auch in die dienstfreie Zeit auf den Spaziergang. Daher die von den Novemberlingen so mißverstandene und falsch ausgelegte Nötigung zur soldatischen Ehrenerweisung. Das war doch nur in letzter Linie ein Gruß. In erster bedeutete es ein unaufhörliches Aufmerken, das sich immer bewußt sein mußte, Soldat zu sein. Die Staatszerstörer liefen natürlich dagegen zuerst Sturm, weil sie's nicht kapierten und ihre Verhetzer wohl wußten, daß Zerstörung der Ordnung Zerstörung Deutschlands war.
In alledem lag die höhere Absicht der militärischen Erziehung, und zu meinem Glück verstand ich das bald, und es erfüllte mich ebenso wie auch die Kameraden mit behaglichem Frohsinn. Ein Soldat darf nie den Kopf hängen, darf nie verdrießlich sein, nie ungeduldig werden, das Vaterland bedarf frischer, fröhlicher und gezüchteter Menschen, denn die Zeiten können sehr ernst werden.
Es war nicht immer leicht, namentlich in der Rekrutenzeit nicht. Was aus einem jugendlichen Körper an Kraft herausgeholt und an Gelenkigkeit hineingebracht werden kann, das wurde uns an Haut und Knochen beigebracht, nicht gerade in freundlicher und zuvorkommender Weise. Ich mußte außerdem in meinen kärglichen Mußestunden über Assurnasirpal grübeln und das Examen vorbereiten. Es gelang auch eines Tages. Ich erbat einen Tag Urlaub, um mein Doktorexamen zu bestehen und erhielt ihn, obgleich der Feldwebel über alle solche Extratouren murrte. »Für mich sollt ihr arbeiten, nicht für euch«, war seine Losung. Er hatte gewiß recht, aber wir auch. Würde man sich ganz vom Dienste einschlucken lassen und aufhören, auch sonst Mensch zu sein, so wäre dem Vaterlande auch nicht gedient. Man muß aber nicht verlangen, daß jeder Feldwebel das einsieht.
Was hat uns eigentlich der Dienst gegeben? Wir waren ja schuldig ihn zu leisten, aber er leistete uns viel mehr. Ein gestählter leistungsfähiger und gelenkiger Körper von edler natürlicher Haltung war herausgebildet, eine Treffsicherheit für Auge und Hand, ein in jeder Lage ruhiges, besonnenes und wohlanständiges Verhalten, das man dem gedienten Soldaten ohne weiteres anmerkt. Wenn man sieht, wie sich die heutigen Novemberlümmel räkeln, die keine Haltung irgendwelcher Art haben, nicht einmal richtig die Füße setzen und die Knie durchdrücken können, schlampige Jammergestalten mit gespreiztem Benehmen und einem brüllenden Maule, dann könnte man wohl der deutschen Jugend wieder ihre rauhen Erzieher wünschen. Sie haben Großes geleistet, aus unerzogenen Lümmeln Helden geschnitzt, wie die Welt sie nie in solcher Menge gesehen hat.
Man hört zuweilen in der Eisenbahn alte Soldaten von ihrem militärischen Drill erzählen. Sie hatten's alle nicht rosig. Ich habe aber keinen getroffen, der es bedauerte, und der nicht mit goldenem Humor an die Zeit des strengen Donnerwetters zurückdächte. Es ist unverkennbar etwas aus uns geworden, was ohne das nicht geworden wäre, und das wäre ein Mangel gewesen. Darum hat auch in der kritischen Zeit nicht zuerst der Soldat versagt, sondern der Reichstag. Der Soldat war ja zu gut erzogen, um die erste Beute der fremden Wühler zu werden. Aber es ist eigentlich eine Beleidigung, den strammen deutschen Soldaten in einem Atem mit dem weniger zuverlässigen Deutschen Reichstag zu nennen.
In der Ruhe, die sich nie aus der Fassung bringen läßt, oder wie man heute im Deutschen sagt, nie nervös wird, liegt ein hoher sittlicher Wert. Schon die Ruhe, die dazu gehört, mit einem weittragenden Gewehr auch wirklich zu treffen, ist schwer zu erringen. Sie muß aber auch in Augenblicken da sein, in denen der Mann selbst beschossen wird und in Todesgefahr steht. Diese überlegene Ruhe im Manne zu erziehen, war letzten Endes der Zweck aller Uebungen. Wenn jemand schnell, schnell im letzten Augenblicke sich zum Dienste richten mußte oder sich verspätete, während die Kompanie schon antrat und dabei zitterte und sich überhastete, der wurde mindestens von den Kameraden ausgelacht, konnte unter Umständen schon deshalb härter bestraft werden. Gesammelte und überlegte Ruhe ist die moralische Hauptwaffe des Soldaten. Deren Gebrauch wurde ihm beigebracht. Ob unsere minder gebildeten Erzieher das alles einsahen, weiß ich nicht. Aber das Ziel sahen sie, danach strebten sie, und das erreichten sie auch. Ich glaube, ungediente Menschen haben von diesen sittlichen Wirkungen und ihrer Notwendigkeit wenig Ahnung.
Die eigentlich schwere Last dieser gewaltigen Volkserziehung zu sicherer Beweglichkeit und bewußter Bereitschaft lag natürlich auf dem Offizierskorps. Das Meisterstück der deutschen Heeresgestaltung waren weniger seine Offiziere als seine Unteroffiziere. Daß wir solche Männer überhaupt hatten, die für recht kärglichen Sold mehr als ein Jahrzehnt unter des Dienstes ewig gleichgestellter Uhr aushielten, wobei sie allewege die schlimmsten Lasten zu tragen hatten, das ist schon eine große völkische Leistung. Dabei hatten sie wesentlich allein aus dem ungeschickten Rekruten einen gewandten zielsicheren Soldaten zu bilden. Das ganze Ungeschick, oft auch die Böswilligkeit des Ungelernten lag auf ihnen, und sie wurden für alles verantwortlich gemacht. Selten wurde der Mann gerügt, immer sein Vorgesetzter. Herr Hauptmann, Ihre Leute marschieren wie die Schweine, konnte ein Major vor der Front sagen, wenn irgendein Ungeschickter auffiel. Der Hauptmann natürlich sagte daheim: Donnerwetter, Feldwebel ... und der fiel über den zugführenden Unteroffizier her: Sie, Ihretwegen muß man sich so etwas sagen lassen ... Und der Unteroffizier veranstaltete endlose Uebungen, Uebungen und Uebungen mit dem ganzen Zuge. Und die Mannschaften – nun die nahmen den Missetäter vor, der die Uebungen veranlaßt hatte und behandelten ihn mit dem Riemen des Tambours. Aber der eigentlich Leidtragende war immer der Unteroffizier. Die Mannschaft wechselte, er aber blieb und diente ein Jahrzehnt, bis er endlich Feldwebel wurde und dann als Ausgedienter Anspruch auf Zivilversorgung hatte. Wie viele erreichten dieses Ziel nicht!
In Rußland gelang es nie, solche ausgediente und durchgehärtete Unteroffiziere zu erzielen. Wenn unsere deutschen Jungens in das russische Heer eintraten, kamen sie meistens als Unteroffiziere zurück. Das wäre in Deutschland undenkbar gewesen. Da wurde einer erst Gefreiter, wenn er seine richtige Dienstzeit ausgedient hatte und versprach, weiter zu dienen. Kapitulieren sagte man im Deutschen dafür. Und dann erst stieg der Kapitulant langsam aufwärts zum Unteroffizier, Sergeanten und Feldwebel. Man nennt bei dem Militär Karriere, was ganz langsam vor sich geht.
Ein Oberstabsarzt sagte mir einmal: Wissen Sie, unsere Unteroffiziere brechen oft in recht jungen Jahren zusammen. Es sind die Nerven, die versagen. Man nennt es bei ihnen nur nicht Nerven. Das war gewiß ein richtiges Urteil. Dennoch hat es nie an Kapitulanten gemangelt, wenigstens zu unserer Zeit nicht. Das Unteroffizierskorps war das eigentliche Rückgrat des Heeres. Es wurde nur nicht viel Wesen draus gemacht.
Unsere Feinde wußten wohl, warum sie über den deutschen Militarismus schimpften. Erstlich konnten sie wohl große Heere aufstellen, aber das konnten sie uns nicht nachmachen, und dann wußten sie recht wohl, daß gerade darin unsere Hauptstärke lag, in der sittlichen Ausbildung des Mannes, nicht nur in seiner Körper- und Waffentüchtigkeit. Warum aber deutsche Menschen in das Gebrüll vom Militarismus einstimmen, ist mir einfach unverständlich, um so mehr, als sie sich z. B. über den französischen Militarismus, der viel umfangreicher ist als unserer je war, schlechthin nicht aufregen. Nun, es sind ja auch die meisten Hetzer gegen den Militarismus vielleicht Träger deutscher Namen, aber nicht deutschen Blutes, und die Massen, die jenen einstweilen beipflichten, haben ja kein eigenes Urteil, sondern sind auf Schlagwörter dressiert. Aber wer weiß ...!
Eines kann ich nur sagen: In dem Augenblicke, als mir der bunte Rock angezogen wurde, kam ein ganz neues Empfinden in mich. Es war, als hätte mich der Geist des deutschen Militärs erfaßt, und so schwere Anforderungen er auch an mich stellte, war ich doch mit Begeisterung Soldat bis zum letzten Augenblicke der Dienstzeit. Als sie beendet war, wußte ich, daß wirklich etwas geleistet und eine Kraft errungen war, die jederzeit dem Vaterlande zur Verfügung stehen sollte. Ich war auch immer bereit, obgleich mich die folgenden Jahre ins Ausland führten. Als der Weltkrieg kam, habe ich vier Söhne gestellt, und als einer gefallen war, mich selbst dem Regimente als Ersatz geboten, aber man wollte mich nicht mehr haben, und hinter der Front, da wollte ich nicht.
Wenn ich mir das deutsche Heeresganze überdenke, so kann ich's nur bewundern. Der Gedanke, daß jeder mit der Waffe einzutreten hat für die Sicherheit des Vaterlands und die Art, wie er ausgebildet wurde und die Sicherheit, mit der man jederzeit jeden erreichen konnte, daß in wenig Tagen Millionen am richtigen Platz standen ohne Verwirrung und Durcheinander, das wird uns nie wieder ein Volk nachmachen. Es wird wahrscheinlich auch nie wieder möglich sein, ein solches Heer aufzustellen. Ein Laie ahnt ja nicht, was für unendliche, jahrzehntelange Mühen aufgewendet werden mußten, um ein solches Werk so vollendet auszubauen.
Es ist gar nicht verwunderlich, daß dabei gelegentlich eine Kleinlichkeit entfaltet wurde, die schon auf die Nerven gehen konnte. Alle kleinsten Kleinigkeiten auf ein großes Ziel zusammenwirken zu lassen, macht untergeordnete Geister immer kleinlich. Und das Heer hatte es nicht mit auserlesenen Leuten zu tun, sondern mit der wahllosen Allgemeinheit. Es ist auch gar nicht anders denkbar, als daß auch unter den Offizieren die große Masse nur subalterne Geister waren. Man ließ sie darum auch nicht weiter aufsteigen als bis zum Major. Die eigentlichen Führer waren dann die wirklich Auserlesenen und tausendfach Ausgesiebten, die das große Werk trugen. Es ist so ähnlich wie im römischen Klerus. Die Massen des Klerus minor müssen den ganzen Tag ihr Brevier leiern, um sie unausgesetzt in festen Händen zu halten und sie als geeignete Werkzeuge ohne eigenen Willen zu verwerten. So band man die niedere Offiziers– und Unteroffizierswelt an den Dienst der Kleinlichkeiten, um sie immer in Bewegung und ständiger Bereitschaft zu erhalten.
In beiden Systemen liegt alte Armanenweisheit verborgen. Nur haben beide einige grundsätzliche Fehler gemacht. Das Heer wäre nie zusammengebrochen, wenn in seinem letzten Grunde nicht ein Fehler gewesen wäre. Es wird noch von ihm zu sprechen sein. Auch Rom wird die Tragik des Zusammenbruchs erleben.
Zu unserem Glück hat es auch einige Konstruktionsfehler in seinen Fundamenten, und die Skuld wird sie offenbar machen in dem gleichen Umfange, in dem sie sich ausgewirkt haben. Armanenweisheit kann nur entweder ganz rein übernommen werden, oder das Werkzeug kehrt sich selbsttätig wider den Mißbrauch.
Wenn jetzt die Entente in bleicher Furcht gegen den deutschen Militarismus zetert, ist das wohl verständlich und eine Anerkennung der großen Leistungen, aber wenn Deutsche einstimmen, verrät das ein solches Maß von Unbildung und Gedankenlosigkeit, daß man es nur erklären kann als eine Vergiftung, die heimliche Verschwörer dem Volke beigebracht haben. Warum? Um an seinem Untergange zu profitieren.
Daß uns das geschehen konnte, das ist dann letzten Endes Wirkung der Skuld, und die heimlichen Nager und Schmarotzer waren nur ihre Werkzeuge. Die Skuld aber – das lehrt das große Armanengeheimnis – bereitet nur eine neue Urd vor. Daß es aber Skuld ist, wenn ein so gründlich bedachtes und ausgebautes Werk zugrunde ging, muß uns bei dem Wiederaufbau des Vaterlandes veranlassen, dem grundlegenden Fehler nachzugehen. Ein neues Heer auf der alten Grundlage würde uns nicht aus unserem Elende retten. Es müßte über kurz oder lang wieder zusammenbrechen. Was wir aufbauen müssen, ist ein ganz Neues, das aber winkelrecht und lotrecht auf der Urweisheit steht, die unser Eigentum ist, auch wenn das Volk es heute noch nicht versteht.
Eines müssen wir auch wissen. Kein Volk in der Welt wird uns helfen wieder auf die Füße zu kommen. Sie hassen und beneiden uns viel zu sehr. Aber wir bedürfen ihrer auch nicht. Deutsche Kraft ist stark genug, allein mit allem Feindwesen fertig zu werden. Sie muß sich nur auf sich selbst besinnen. Sie kann es und sie wird es auch tun. Denn wir sind Deutsche.