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Erziehungsfragen

 

Ueberlegenheit und Liebe sind die einzigen Erziehungsmittel.

 

Niesky

Sage einmal, liebe Mama, wie hast du eigentlich deinen Einzigen erzogen?

Ach, antwortete sie, ich habe immer sehr ernstlich darüber nachgedacht, auch solche Bücher gelesen.

Sieh, wie nett von dir. Wir können ja jetzt ganz ruhig darüber sprechen. Ich habe inzwischen selber »solche Bücher« geschrieben. Schade, daß wir uns nicht viel später kennen lernten! Und doch auch gut. Weißt du, was ich dir am meisten danke? – Daß du mich nie erzogen hast, sondern mich werden ließest, wie ich war. Da ist nun ja weiter nicht viel geworden, aber doch etwas. Ein Ich, das den Mut hat, »ich« zu sagen unter vielen, die ihn lebenslang nicht aufbringen. Ein Ich, blos ein Ich. Weiter nichts. Aber wenigstens ein Ich.

Um die Zeit, als jenes Gespräch mit der nun längst entschlafenen, unvergeßlichen Mutter geführt wurde, besuchte mich ein jüngerer Gymnasialprofessor, ein eifriger Katholik, der aber freundschaftlich in meinem Hause verkehrte, und sagte: Ich habe jetzt ein Erziehungsbuch gelesen, das ist wirklich glatt erlogen. So was gibt's gar nicht.

Damit legte er auf meinen Tisch ein Buch mit dem Titel Gottfried Kämpfer, von Hermann Anders Krüger. Ich kannte damals Hermann Anders noch nicht und blätterte in dem Buch und las und las und kam nicht los davon. Verwundert betrachtete mich der Professor.

Hören Sie, nach dem Wenigen, was ich hier flüchtig lese, kann ich Ihnen schon sagen, daß alles wahr ist, was in dem Buche steht. Ich habe es selbst erlebt, war selbst Schüler von Girdein. Wenn man das Wort umkehrt, heißt es Niedrig, und in meiner Jugend erschien ein entzückendes Buch, das führte die Aufschrift: Tapeinon, und war von einem Lehrer unserer Anstalt namens Schneider geschrieben. Ich kannte alle darin erwähnten Schüler. Das waren meine Kameraden. Und das griechische Tapeinon heißt im Deutschen niedrig. In allen slawischen Sprachen aber heißt niedrig Niesky. Niesky bei Görlitz in Oberschlesien ist die herrliche Anstalt, an deren Dasein Sie nicht glauben wollen. Glauben Sie mir, wenn ich mich als dankbarer Schüler bekenne und Ihnen bezeuge: Es ist alles so wahr, wie es in diesen Büchern beschrieben ist?

Da muß ich freilich glauben. Aber da fällt mir ein: Genau nach diesen Erziehungsregeln verfährt man in den Jesuitenschulen. Daher kommt's auch, daß die Jesuitenschüler so außerordentlich anhänglich an ihre Schulen und Lehrer sind.

Nun sehen Sie. Da glauben Sie doch viel mehr, als ich verlangt habe. Aber ohne die Jesuitenschulen näher zu kennen, kann ich mir doch manchen Zusammenhang vorstellen. Woher haben die Herrnhuter von Niesky ihre Weise? Doch wahrscheinlich von Amos Comenius. Der lebte aber in einer Zeit, als die Jesuitenschulen hoch aufgeblüht waren. Sollte dieser große Erzieher nicht gerne von ihnen gelernt haben, wenn sie etwas Rechtes wollten? Vielleicht war er selbst so erzogen.

Aber woher hatten denn die Jesuiten ihre Weise? Doch wohl durch Ignatius von Loyola. Und Ignatius? – Der will ja seine Offenbarungen erhalten haben am Munsalvatsch. Das ist aber die Gralsburg. Es ist also wohl möglich, daß er dort einige alte Weistümer gefunden hat. Das aber war Armanenweistum. Die gerühmte Erziehung geht also zurück auf unsere alten Armanen.

Es ist übrigens wahr. Ignatius hat ernstlich gesucht und auch mancherlei gefunden. Die Hauptsache natürlich nicht. Die bleibt Grals eigen. Aber die Bruchstücke waren immerhin mächtig genug, die Gesellschaft Jesu so stark zu machen, daß sie unter Umständen doch der evangelischen Kirche Herr wird. Nun ist aber die Gewissensfrage, die ich an unsere evangelischen Glaubensgenossen und deutschen Brüder richten möchte: Warum greifen wir nicht nach unserem Gralserbe? Warum lassen wir zu, daß die Fremden sich davon mästen, und wir, die Eigenen, leer ausgehen? Warum versuchen wir mit allerlei drolligen und wertlosen Mitteln das Leben in der evangelischen Kirche zu beleben, statt einmal bei der Weisheit der Uralten, auf die wir den größten Anspruch haben, in die Lehre zu gehen? – Diese Frage muß uns noch beschäftigen.

Ja, ja, das war eine Erziehung! Wir wußten gar nicht, daß wir erzogen wurden. Unsere Lehrer waren außer den Schulstunden unsere besten Kameraden. Sie spielten mit uns auf unseren Spielplätzen, sie arbeiteten mit uns in unserer Anlage Astrachan, wo wir Blumen pflanzten und Burgen aufkarrten. Sie gingen mit uns spazieren, badeten, rodelten, liefen Schlittschuh mit uns und sanken abends ermüdet auf ihr Lager mitten in unserem Schlafsaal. Und niemals litt ihr Ansehen durch diese Kameradschaftlichkeit. Sie wußten genau, wie sie die Ehrfurcht zu erhalten hatten.

Die Ehrfurcht litt nicht einmal, als bei Gelegenheit einer Theateraufführung, die die Schüler veranstalteten, in Gegenwart des Direktors, aller Lehrer und – Dienstboten, alle Schwächen und Versehen der Lehrer, sogar ihre Sprechweise ins Licht gestellt und nachgeahmt wurde.

Ich muß übrigens sagen, daß die Lehrer auch ihre Ruhezeiten hatten. Nicht alle Freizeiten verlebten sie mit uns. Sie wurden dann vertreten durch sogenannte Aufseher, vielleicht würde die andere Fakultät sagen »Laienbrüder«. Das waren nicht studierte Männer, sondern erlesene Menschen aus einfacherem Stande, die aber ohne Gnade entfernt wurden, wenn sie nicht verstanden, der Jugend unbegrenzte Achtung abzunötigen. Ihre Freizeit hatten sie während unseres Unterrichts, und wenn die studierten Lehrer bei uns waren. Aber nie, weder Tag noch Nacht, weder im Spielen noch Spazierengehen noch Arbeiten waren wir allein. So wurde jede aufkeimende Zwistigkeit unter Knaben im Keime erstickt, und wir wußten nichts anderes, als in jeder Verlegenheit und jeder Freude bei unseren älteren Kameraden Zuflucht zu suchen.

Wenn ich heute zurückdenke, muß ich sagen, daß an die Herren Lehrer oder wie man sie nannte, »Brüder«, keine geringen Anforderungen gestellt wurden. Erstlich durften sie nicht verheiratet sein, solange sie in der Anstalt wirkten, und zweitens standen sie doch außerordentlich im Joch. Ihre Entlohnung bestand wesentlich in freier Station, zu der eine Bezahlung kam, deren Ziffern ich gar nicht nennen will. Ich weiß sie nicht mehr genau, habe auch erst in späteren Jahren davon gehört, aber niemand würde mir glauben. Freilich hatten sie ihr Studium unentgeltlich gehabt.

Ihre Ausbildung hatten die jungen Leute zunächst in dem Nieskyer Pädagogium erhalten, das die höheren Gymnasialklassen enthielt und fast ausschließlich von Gemeinkindern besucht war. Das Kollegium sorgte natürlich dafür, daß nur sehr begabte Knaben diese Anstalt besuchten. Das war leicht einzurichten, weil es eine Freischule war. Sie litt also nicht an der Freiwilligenzeugniskrankheit, die staatliche Schulen oft schwer belastet. Sie hatte also nur begabte, lernfreudige und an sich schon ernstgerichtete Schüler.

Die Schüler, die später in Gnadenberg zu studierten Theologen ausgebildet wurden, hatten als Lehrer dann die Sicherheit, daß sie bis an ihr Lebensende versorgt waren. Es war wirklich beinahe klösterlich. Nur wurden sie nach mehreren Dienstjahren in irgendein Gemeinamt berufen, dann aber mußten die, die vorher in tugendhafter Ehelosigkeit lebten, unverzüglich einen Hausstand gründen, denn auch die Frau des Gemeindebeamten hatte ihr Amt in der Gemeine.

Das sind wirklich armanische Ordnungen, die die mährischen Brüder, wahrscheinlich ohne es zu ahnen, bis in die Neuzeit bewahrt haben.

Es mag jetzt manches anders geworden sein. Der liberale Staat der 70er Jahre versuchte auf jede Weise die patriarchalischen Ordnungen der Brüder zu stören und mit beamtenmäßiger Paragraphenwütigkeit seine Ordnungen und Gesetze über Jugenderziehung dort einzuführen, wo sie eigentlich nicht hinpaßten. Da wird wohl ein Gebilde herausgekommen sein, das in wesentlichen Zügen von unserem Jugendbilde abweicht, aber ich denke, daß der alte treue Geist geblieben ist, der der Jugend von Herzen diente, um der Jugend zu helfen.

Die Jesuitenschulen haben stets in erster Linie der Jugend ihren politischen Stempel aufzudrücken gesucht und gingen darin völlig unarmanische Wege. Aber diese Brüder dienten nur der Jugend. Darum wissen Tausende ihnen Dank, die von außerhalb in ihrem stillen Frieden leben und werden durften. Heute sehe ich, daß sie in aller Stille und Treue ein uraltes Armanenerbe bewahrt haben und daraus auch Kräfte bezogen.

Sie hatten übrigens einige köstliche Einrichtungen, die ich erst in späten Jahren recht verstehen und schätzen lernte. Das erste waren Schweigezeiten. Recht viele Schweigezeiten. Wer unsere heutige hoffnungsvolle und schlechthin unerzogene Novemberjugend beiderlei Geschlechts in der Eisenbahn toben und lärmen hört, als ob's außer ihnen schlechthin niemanden auf der Welt gäbe, und als müßten alle ihre Auslassungen als vom Himmel herab posaunt sein, der sehnt sich nach einer Jugend, die auch schweigen kann. Ich kann mir gar kein besseres Erziehungsmittel für Jung und auch Alt denken als Schweigen. Heute gibt's keinen stillen Gedanken mehr, keine tiefe Entdeckung, die nicht nach orientalischer Art zeitungsmäßig herausgelärmt werden müßte. Das ist undeutsch und von den Fremden übernommen. Diese wissen über ihre eigenen Geheimnisse übrigens sehr wohl zu schweigen, aber alle Deutschen werden veranlaßt, ihre Gedanken und Pläne herauszulärmen. Nicht zum Vorteil der Eigenen, sondern der Fremden. O wenn wir doch wieder schweigen lernten! Im Schweigen werden Kräfte gesammelt, im Schwätzen werden sie vergeudet.

Unsere Brüder wußten das, jedenfalls übten sie es. Wir mußten also schweigend aus dem Bett aufstehen, uns schweigend waschen und ankleiden, schweigend der kurzen Morgenandacht zuhören, schweigend frühstücken und schweigend an die Arbeit gehen. Die erste Arbeitsstunde währte von 6½ bis 7½ Uhr. Dann ein kurzes Glockenzeichen, und die ersten Laute entflohen dem Gehege der jugendlichen Zähne. Aber nur für zehn Minuten. Dann schloß die erste Unterrichtsstunde den Mund. Nur wer seine Sachen gut gelernt hatte, konnte sich mit seinen Kenntnissen vernehmlich machen. Dann war eine halbe Stunde große Pause, Frühstück einnehmen und sofort spazieren gehen in Begleitung des Aufsehers natürlich. Unterwegs durfte keiner zurückbleiben, alle mußten »vor« sein. Vor oder neben dem Lehrer. Von 9 Uhr ab wieder Schweigen und Unterricht bis 12 Uhr. Dann schweigendes Abbrechen des Unterrichts, schweigendes Richten zu Tisch, schweigendes Essen, wobei vorgelesen wurde, schweigendes Aufstehen, aber vom Zimmer aus Lärm und Freude während des unvermeidlichen Spaziergangs oder Spiels oder Rodelns bis 2 Uhr. Dann zwei Stunden Schweigen im Unterricht, eine Stunde Lärm und Vesper und Spazierengehen und von fünf Uhr ab schweigende Arbeitsstunde, um 6 Uhr schweigendes Abendbrot. Eine halbe Stunde Unterhaltung und von sieben bis neun schweigende Arbeit, ein kurzer Abendsegen und schweigendes Zubettegehen. So wurden 80 lebhafte Knaben durch schlichtes Schweigen gebändigt und wußten's gar nicht anders und fühlten sich unbeschreiblich wohl.

Aber wer nun das Schweigen brach? Das konnte nicht verborgen bleiben, weil wir immer unter Aufsicht waren. Aber wir waren doch ausschließlich deutsche Knaben. Denen kann man schon sagen: Es ist Ehrenpunkt, Treue im Kleinen zu üben, und das hilft, wenn die rechten Lehrer dabei sind, die älteren Freunde und Kameraden. Daher galt Lügen und Betrügen bei uns Schülern als Schande, Feigheit und Vertrauensbruch. Vor nichts hätte man sich so geschämt. Damit lag ein großer Teil der Aufrechterhaltung der Ordnung mehr in den Händen der Schüler als der Lehrer. Bekanntlich wachen am strengsten über die Knaben die Kameraden selbst oder die älteren unter ihnen, die Primaner.

In ganz schweren Fällen gab's auch weiteres Schweigen zur Strafe und zur Uebung. Es mußte von dem Betroffenen auch in allen Freizeiten geschwiegen werden, er war vom Spielen ausgeschlossen und mußte schweigend längs des Spielplatzes pendeln, und es war erst recht Ehrenpunkt, solches Schweigen und solchen Bann zu halten.

Nein es ging sehr gut. Glücklich die Jugend, die ehrlich schweigen gelernt hat! Welcher gute Grund für das ganze Leben wird da gelegt! O daß wir Deutschen schweigen lernten! Unsere Kraft käme sofort wieder. Schweigen öffnet uns den Zugang zu unserem Armanenerbe, das nur uns gehört, zu dem die Niederrassler schlechthin keinen Zutritt haben. Aber uns nur im Schweigen. Die herrnhutische Erziehungsweisheit war wirklich armanisches Erbteil aus Urzeiten.

Sie hatten übrigens noch eine drollige, aber nicht minder weise Einrichtung, die wahrscheinlich jetzt auch gefallen ist bei dem Eindringen des liberalen Geschwätzes von oben. Das war die »stille Freizeit«. Sie fand an Sonn- und Feiertagen statt, wenn nicht in die Kirche oder spazieren gegangen wurde. Jeder Schüler saß dann auf seinem Arbeitsplatz und durfte irgend etwas tun als Briefe schreiben, ein stilles Spiel spielen, Buch lesen u. dgl. Man durfte allenfalls auch Schach spielen, aber nie »Schach dem König oder der Königin« sagen. Das kann ebensogut durch Fingerzeige geschehen, die in richtigen Schweigezeiten auch unstatthaft waren.

So standen auch die Feiertage unter dem Zeichen der Selbstbeherrschung, und wer gelernt hat, sich zu beherrschen, dem ist's nicht drückend. Wie gut ist solche Schweigeübung für die Nerven aufgeregter Kinder!

Wer übrigens glaubt, daß wir klösterlich erzogen wurden, würde schwer irren. In den Freizeiten herrschte der fröhlichste und unbefangenste Ton. Dann gab's auch Sommer- und Winterspaziergänge. Jedem Bub wurden ein Paar undurchlässige Wasserstiefeln angezogen, mit denen er nach Bubenart durch dick und dünn laufen und jeden Graben ausmessen durfte. Die Stiefeln mußten uns vor Erkältung schützen. O ihr herrlichen, undurchlässigen Nieskyer Wasserstiefeln, wer kann euch vergessen! Sie waren der Anstalt eigen. Wenn ein Knabe auf elterlichen Wunsch neue erhielt, blieben sie meistens zurück und vererbten sich auf andere. Ich lernte vor einigen Jahren auf einem Nieskyer Abend in Berlin einen höheren Gerichtsbeamten kennen, der für den Abend mein Nachbar war. Wir saßen dort stets nach dem Schulalter.

Wissen sie auch, sagte ich, daß zwischen uns sehr intime Beziehungen walten?

Verwundert sah er mich an, denn wir sahen uns zum ersten Male. Ja, fuhr ich fort, Sie wissen es wohl nicht, aber ich weiß es. Es sind rund 50 Jahre her, da habe ich in Ihren Stiefeln gestanden. Ich hatte sie geerbt durch Anstalts Willen, und sie trugen noch Ihren Namen innen in schwarzer Schrift auf gelbem Leder. Der Name ist mir unvergeßlich geblieben. Ich freue mich heute endlich, meinen »vortragenden« Herrn Rat kennen zu lernen.

»Diese Beziehungen allerdings waren mir neu. Daraufhin dürfen wir schon eine Flasche Rotwein leeren«, entgegnete er.

Es gab aber auch sonst viel Vergnügungen. Man hat heute die Entdeckung gemacht, daß allerlei harmloser Sport für die Jugend gut sei. Wir hatten schon seit hundert Jahren eine Rodelbahn, wie sie heute noch wenig Schulen zur Verfügung steht. Das war draußen am Wartturm unsere gute alte »Rutschbahn«, die mindestens einen Kilometer maß und in kalten Zeiten wöchentlich zweimal mit Eis überzogen wurde. Was neuen »Reform«bestrebungen als letzte Weisheit gilt, darin war unsere Schule Vorbesitzerin und wohl vielfach auch Vorbild.

In Niesky wurde schon geturnt zu einer Zeit, als das Turnen noch für staatsgefährlich angesehen wurde. Unser ältester Turnlehrer, Br. Bourquin, kam noch als hochbetagter Greis auf unsere Nieskyer Abende in Berlin und hat bis über neunzig Jahre hinaus seine Jugendfrische bewahrt. Er ruht jetzt in Frieden, er wird uns aber unvergeßlich sein.

War im Winter die Rutschbahn im Betrieb, so gab's im Herbst, wenn die Wiesen frei waren, köstliche Fußballspiele, auch zu einer Zeit, in der man dieses Spiel in Deutschland kaum kannte. Außerdem hatten wir große Spielplätze, auf denen Ballspiele und das unvergeßliche Barrespiel oder Barlaufen getrieben wurden.

Als wir uns als alte Herren zum 150jährigen Jubelfest der Anstalt einfanden, ging uns an den Spielen der Jugend das Herz auf. Wer noch konnte, fing mit der Jugend wieder an zu laufen. Wir spielten sogar einen regelrechten Barlauf. Niemand hatte seine Regeln vergessen. Jemand schlug vor: Jung gegen Alt. Jubelnd stimmten alle ein, und siehe, wir Alten gewannen es. Ich muß freilich dazusetzen, daß zu den »Alten« auch sämtliche Studenten gehörten. Sie waren vom Standpunkte der Schule »alt«. Damals lernte ich Hermann Anders Krüger kennen, der irgendwo akademischer Lehrer war. Er wurde des öfteren gefangen genommen. Aber trotzdem gewannen wir Alten es.

Unsere Erzieher sahen auch für sehr wichtig weite Spaziergänge an. Wir machten also im Sommer und Herbst Spaziergänge und lernten so Nieskys ganze Umgebung auf das genaueste kennen. Eine träumerische Heidelandschaft mit Sümpfen, Bächen und unbeschreiblichen Wäldern. Ich habe viel schöne Natur im Leben gesehen, habe finnische und livländische Wälder durchstreift, kenne Tirol, die Krim, ein Stück Kaukasus und manche andere Länder, aber nie werde ich die anspruchslose Waldgegend vergessen, die sich dort tief unserem jugendlichen Gemüte einprägte, wo wir unsere kindlichen Märchen erlebten und mit unvergeßlichen Kameraden Freundschaft fürs Leben schlossen.

Wer vergäße auch die Tagesausflüge auf die Königsteiner Berge oder nach Jänkendorf und Ullersdorf, nach Spree, nach der Moholzer Sahara und zu allen Geheimnissen der Heidelandschaft.

Es gab auch ein Kinderfest nur für uns. Da waren wir Mittelpunkt eines schlichten Gottesdienstes, durften den ganzen Tag sprechen und – einmal im Jahre! – eine Stunde ganz allein spazieren gehen, freilich nur in einem sehr eng begrenzten Gebiet. Aber welche Gelegenheit, sich mit einem lieben Freunde zu gemeinsamem Gang zu verabreden!

Nein, es war schön, unbeschreiblich schön, bubenmäßig schön. Ich glaube, es ist eine Eigentümlichkeit der Brüdergemeine, in frischer Art den Ernst mit urwüchsiger Heiterkeit zu verbinden. Die Wahrheit hat zwei Seiten, den schweren Ernst und das frohe Lachen. Nur wer beides hat, hat sie erfaßt. Davon hat der übliche Pietismus keine Ahnung. Er kennt öffentlich nur den blutigen Ernst und verweist das Lachen in die Heimlichkeit. Darum ist er leicht heuchlerisch.

Die Brüdergemeine hat diese Art schon vor mehr als einem Jahrhundert als Kinderkrankheit durchgemacht. Sie nennt diesen Teil ihrer Vergangenheit die Sichtungszeit, eine Krankheitszeit, die mit allen Fieberschauern, die Kinderkrankheiten zu haben pflegen, verlief. Je kräftiger das Kind, desto schwerer ist der Fieberanfall. Darum ist die Brüdergemeine heute ganz getrost in allgemein menschliche Bahnen eingelenkt und für alle echt menschliche Freiheit offen, und ist doch sie selbst geblieben.

Uebrigens lag das eigentliche Geheimnis unserer Erziehung doch tiefer als die äußere Form unseres Daseins. Das war die besondere Sorgfalt und Freundschaft, die jedem einzelnen ohne Unterschied gewidmet wurde. Der Lehrer ist der nächste Freund des Schülers. Wer nicht Freund sein kann, der kann auch nicht erziehen. Diese Wahrheit hat unser Schulleben regiert. Das war das tiefste Geheimnis darin. Es gab also keine Lieblinge und keine Verfehmten. Die Bosheit wurde bestraft ohne Gnade und Unterschied, aber eine anerkannte Tugend und Liebenswürdigkeit gab's nicht. Es war gleichsam die stillschweigende Voraussetzung, daß jeder recht war; war er's einmal nicht, so wurde er zurecht gebracht und zwar zunächst mit rücksichtsloser Strenge und den empfindlichen Strafen, die die Lebensgemeinschaft kannte. Selbstverständlich gab's keine Prügel und Ohrfeigen.

Die gewöhnlichen Bannstrafen halfen in der Regel. Aber natürlich gibt's Buben, die darauf gerade nicht ansprechen. Wie bekommt eine Anstalt diese Art ihrer Schüler in die Hand? Selten sind's wohlerzogene Kinder. Sehr häufig treten Knaben auf, die man daheim nicht mehr bändigen konnte, und denen die Schule schon zeigen sollte, was eine Harke ist. Diese fügen sich allenfalls in die allgemeine Schweigeordnung, aber Schweigestrafen machen auf sie sehr geringen Eindruck. Da bocken sie auf. Es wäre nicht bubenmäßig, wenn sie's nicht täten.

Aber gerade auf diese stürmischen Ausbrüche war die ererbte Weisheit unserer Erzieher besonders eingerichtet. Dem wilden Toben, das wider die Stränge aufbegehrte, setzten sie eine überlegene, geradezu väterliche Milde und Freundlichkeit entgegen und wußten in Gesprächen unter vier Augen den kleinen Löwen so zu packen, daß man sagen konnte: Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder.

Zur Erziehung gehört eine Ueberlegenheit schlechthin, eine innere Macht, die jedem Aufbegehren ohne besondere Anstrengung in selbstverständlicher Kraftentfaltung gewachsen ist. Das war bei unsern Lehrern geradezu zweite Natur geworden. Sie kannten es nicht anders. Darum hatten sie auch nie nötig, über unsere Mängel außer sich zu geraten. Sie hatten den Ueberblick des Künstlers über das Kunstwerk.

Ich erinnere mich, daß einmal ein Aufseher da war, der gelegentlich Wutanfälle bekam. Natürlich am meisten über mich. Ich glaube, daß ich ein sehr schwerer Schüler war. Aber der Mann verschwand so plötzlich, wie er gekommen.

Wer nun einmal richtig angefaßt war, bei dem wußte jedenfalls der Erzieher in jedem Falle, wie der Jüngling auch ferner zu behandeln war. Das Gespräch unter vier Augen war eine vorgeschriebene Einrichtung der Anstalt. Alle Klassenlehrer, sogar viele Aufseher übten es, aber der älteste Lehrer der Anstalt, der erste nach dem Direktor, hatte in erster Linie das Amt des »Pflegers«, die Aufgabe, mehrere Male im Jahre jedem Schüler ein kurzes Gespräch in seinem Zimmer zu gewähren. In den uralten armanischen Einrichtungen nannte man den, der diese Würde des Aeltesten hatte, den Parlier, den Sprecher, woraus heute unverstanden das Wort Polier geworden ist, was bei Maurern und Zimmerleuten den selbständigen Vorarbeiter bezeichnet.

Natürlich hatten unsere Sprecher ein geradezu wunderbares Talent entwickelt, in den jugendlichen Seelen wie in einem aufgeschlagenen Buche zu lesen. Mein Pfleger – ich darf wohl seinen Namen nennen – hieß Br. Goerlitz. Ihm fühlte man ab, daß er nicht nur eine schwere Kunst im Namen der Anstalt ausübte. Davon merkte man überhaupt nichts. Aber man empfand, daß er persönlich an dem Wohle des Knaben beteiligt war. Zwischen den Menschen spielt im Grunde der Altersunterschied keine große Rolle. Sie sind alle an sich fertige Geister, die letztgeborenen nur noch nicht eingewöhnt in die Verhältnisse des Planeten. Aber ein älterer Mensch kann recht wohl der Freund des jüngeren sein und wird auch von ihm her viel empfangen können, denn ohne Gegenseitigkeit ist ein Verkehr überhaupt unmöglich. Das ist gerade das Schöne an Liebe und Freundschaft, daß ihre eigentlichen Werte und Gaben beiden Seiten unbewußt bleiben. Was man sich bewußt gibt, ist nicht das Eigentliche, sondern das Nebensächliche.

Unser allverehrter Br. Goerlitz war ein Meister der uneigennützigen Freundschaft. Ich glaube, daß diese Gabe in den Kreisen der Brüder oft vorkommt, weil sie mit besonderer Aufmerksamkeit gepflegt wird. Aber ich habe nur diesen Pfleger näher kennen gelernt. Er kannte jeden der 80 Schüler bis in die letzten Falten seines Gemüts, kannte seine knabenhaften Freundschaften, seine tiefsten Gedanken über seine Lehrer und Aufseher, seine wissenschaftliche Befähigung und Auswirkung, meist wohl auch den häuslichen Boden, dem er entsprossen war. Er hatte auch das gute Gedächtnis für alle diese Innerlichkeiten. Da hatte er das ganze Getriebe der Schule von seinem Schreibtisch oder vielmehr Sofa aus in allen Fäden in der Hand. Er nötigte natürlich jeden freiwilligen oder unfreiwilligen Besucher in den Ehrenplatz auf dem Sofa, dem einzigen, das uns die Anstalt überhaupt bot.

Das Merkwürdige war, daß diese Freundschaft eine Lebensfreundschaft war. Mein ganzes Leben hindurch hat sie mich auf allen Wegen begleitet. Es war nur in seltenen Ausnahmen ein Briefwechsel, aber etwa eine freundliche Karte zum Geburtstag oder eine Einladung, an einem Nieskyer Abend da und da teilzunehmen. Von diesem Zusammenstehen mit der Jugend hatte er auch bis ins hohe Alter hinein eine Jugendfrische erhalten, die einzig war. Ich geleitete ihn einmal in Berlin über eine Straße und bot ihm den Arm, weil ich seine Verlegenheit vor dem Verkehr merkte. Ja, der Körper bebte wohl vor dem ungewohnten Treiben, aber der Geist umschloß innig seine Jugend. So blieb er bis in die letzten Tage seines Lebens unser ewiger Jüngling.

Als ich meinen Aeltesten in die Anstalt brachte, war er noch Direktor und widmete dem Sohne dieselbe Teilnahme wie dem Vater. Aber auch den ungezählten andern. Aus einer Schule gehen doch trotz aller Erziehung auch recht zweifelhafte Gestalten ins Leben. Br. Goerlitz kannte sie alle und hatte für jeden nur die innigste Teilnahme. Er wußte von jedem nur das Gute und übersah das Minderwertige. Freilich konnte man ihn nie dazu bekommen, irgendwie Partei zu ergreifen. Er hörte jeden ruhig und schweigend an, aber Partei hätte er wohl für keinen ergriffen. Ich weiß nicht, ob alles, was ich im Leben geschrieben, immer dem Geiste der Brüder lieb und angenehm war, Br. Goerlitz hatte nur Liebe und Güte für mich. Fremdartiges berührte ihn nicht.

Einmal kam ich nach langen Jahren vom Ausland her auf einen Nieskyer Abend, der von Br. Goerlitz immer Anfang Februar in Berlin abgehalten wurde. Es wurden nur wenige festgelegte Reden gehalten. Trotzdem ergriff ich das Wort und sagte, ich müsse doch den Kameraden eine Geschichte von der Anstalt erzählen. Ein mir befreundeter evangelischer Militärgeistlicher sei einmal im Kaukasus abends in ein Zelt getreten, um Unterkunft zu erbitten. Da habe er zwei russische Offiziere angetroffen, die in einer deutschen Bibel lasen. Nicht wenig verwundert fragte der Pastor, wie sie dazu kämen. Da antworteten sie, das hätten sie sich zur Gewohnheit gemacht, sie seien Nieskyer Schüler. Als kurz darauf ein reicher Mann den Pastor fragte, ob er ihm nicht eine gute Anstalt in Deutschland für einen Schüler empfehlen könne, sagte dieser: Niesky. Dort sei auch der Schüler untergebracht worden.

Als ich geendet, stand unser ewiger Jüngling auf und sagte: Du hast nicht ganz recht erzählt. Von den beiden Offizieren kann nur einer Nieskyer Schüler gewesen sein. Ich kannte ihn gut. Er hieß ... und nun nannte er seinen Namen. Den Knaben wollte ein reicher Kolonist zum Missionar ausbilden lassen. Er hat sein Ziel nicht erreicht. Aber der Gönner willigte ein, daß wir ihn ein Handwerk lernen ließen. Er ist gegenwärtig in Rußland.

So kannte er uns alle und war für viele ein wandelndes Gewissen lebenslang. Das waren die geheimen Fäden der Erziehung, die ungesehen und unbeachtet das Ganze durchzogen und erst das Muster hervorbrachten. Armanische Weisheit, die die Jahrtausende überdauert hat. Daß aber ein Gemeinwesen Schulen unterhält, in denen bei Ausbildung der Lehrer der Hauptnachdruck auf ihre erzieherische Fähigkeit gelegt wird, das ist höchst beachtenswert, verdiente auch Förderung, denn es ist staatserhaltend. Wenn gelegentlich staatliche Schulräte mit beamtenmäßiger Wichtigkeit von unmöglichen Zuständen in Niesky schnarrten, so würde ihnen vielleicht zu raten gewesen sein, Anordnungen zu treffen, daß Schulen sich überhaupt mehr um die Schüler kümmern sollten und die Lehrer nicht nur Examen reiten könnten, sondern auch als Erzieher ausgebildet würden. Die Schulen würden in diesem Falle nicht solche Unmassen von Novemberlingen gezüchtet haben, wie wir's erlebten und noch erleben. Nicht zum Nutzen für Volk und Staat.

Aber werden Beamte, die nur das paragraphierte Schema kennen und von der Jugend keine Ahnung haben, jemals fähig sein, solche Gedanken zu kapieren? Schade, wenn man sich gefallen lassen muß, daß sie in solchem Schulglück im Winkel verständnislos herumtrampeln.

Es ist ganz natürlich, daß ein solches armanisches Erziehungswesen auch stark mißbraucht werden kann. Das kann ein Aushorche- und Spitzelwesen allerübelster Art werden, in dem kein Schüler, aber auch kein Lehrer nur einen Augenblick vor dem Verräter sicher ist. Das wird wohl die jesuitische Abart der armanischen Erziehung sein, die den Schülern zwar nicht zum Bewußtsein kommt, sie aber doch innerlich an geheime Zwecke und parteiliche Einstellung kettet. Je höher ein Weistum ist, desto schlimmer sein Mißbrauch, wenn unsaubere Hände es zu fassen kriegen.

Das armanische Wesen ruht auf dem großen Armanengeheimnis, das kein Ungeweihter überkommen kann und darf. Das muß mit ganz reinen Händen und Herzen verwaltet werden, sonst schädigt es das ganze Volk und auch alle, die sich als Unberufene hineingedrängt haben. Auch darüber wird die Weltgeschichte richten. Die Skuld ist unerbittlich.

Ich will übrigens gern zugeben, daß nicht für jeden Knaben die brüderische Erziehung, wie sie damals war, geeignet ist. Es gibt weichliche Muttersöhnchen und angehende Hasenherzen, denen lieber der Wind hart um die Nase wehen sollte, daß sie Männer werden. Es gibt hartnäckige Schweiger und Verbissene, denen Schweigekuren nur nachteilig wären. Aber uns hat's gut getan, die gebändigt und wirklich erzogen werden mußten.

Auch das könnte ich mir vorstellen, daß unser verehrter Br. Goerlitz, der Alleswisser, gelegentlich seinen Lehrern recht unbequem werden konnte, wenn er sie in seiner außerordentlich verbindlichen Art auf allerlei Verbesserungsbedürftiges aufmerksam machte. Er kannte jeden fast zu genau. Aber gerade das wurde gemildert durch eine wahrhaft priesterliche Haltung, die einen jeden vor Gott auf dem Herzen trug, der immer in seinen Pflichtenkreis eintrat.

Zur Vervollständigung des Bildes von Niesky muß übrigens gesagt werden, daß alle Erziehungsweisheit bewußt aus dem Glauben an Jesus Christus floß. Es wurde niemand religiös bearbeitet, aber man fühlte dem ganzen Geiste der Schule ab, daß alle Gedankengänge letzthin zusammenliefen im Christus. Es ist ja bekannt, daß einer unserer berühmtesten Schüler der alte Schleiermacher war, der an der Wende des Rationalismus steht. Er ist wohl kaum in seiner Theologie und Wirksamkeit brüderische Wege gegangen, aber der Mittelpunkt seines Denkens und Lehrens war doch Jesus Christus, und das sind wohl Knabeneindrücke gewesen. Für mich ist das auch durchaus bestimmend gewesen. Ich habe doch alles angesehen, was es ungefähr auf religiösem Gebiete gibt und bin mit allem Religionswesen innerlich zerfallen, aber nicht einen Augenblick bin ich irre geworden an der einzigartigen Bedeutung des Christus, der Evangelien sowohl wie des Paulus. Das Bild hat sich durch manches Erleben vertieft und ist noch lebendiger geworden, aber in die Seele gezeichnet hat es Br. Goerlitz und die um ihn.

Auch Jesus stand und steht allen Religionsgebilden fern. Darum haben ihn ja die Religionsleute ermordet. Aber er trug und trägt sie noch alle in unendlicher Geduld. Das können und wollen wir auch. Und er hat zu jedem von ihnen einen Weg, wenn er auch im dicksten Fanatismus gebunden wäre, und wird endlich auch diese Fesseln lösen und die Gebundenen frei machen.

Wenn man zurückdenkt an das stille alte Niesky mit seinem Platze, in den sechs Straßen einmünden, darunter eine, die via sacra, die wir nie betreten durften, weil die Mädchenanstalt darauf war, an die Einsamkeit seiner Anlagen, Astrachan, Monpläsir, Heinrichsruhe, an den Raschkenteich, die geheimnisvolle Kutelbara im stillen Heidewald, die lieblichen Schöpswiesen und vieles auf der Flur, wo wir als Knaben spielten: welche tiefgreifenden inneren Erlebnisse und Ereignisse liegen in diesem schlichten Rahmen!

Das sind die eigentlichen Erlebnisse im Leben. Um sie zu machen, braucht man nicht im Strudel des hastenden Jagens zu sein, sondern die besuchen uns an den stillen Wassern der Einfachheit und formen wie liebe Freunde unser Werden. Unser äußeres Geschick mögen die Wirbel bestimmen. Es verrauscht wie sie, aber unser inneres Erleben bleibt, und das wird in der Stille.

Solange man Kind ist, hat man keinen Maßstab für Größenverhältnisse. Alles erscheint groß, weil man die Grenzen nicht sieht, sondern unter dem Einfluß des Nächstliegenden steht. Vielleicht mißt man auch alles an seiner eigenen Größe, und die ist ja gering. Jedenfalls erlebt jeder, der als Erwachsener dahin zurückkehrt, wo er als Kind gelebt hat, eine kleinere oder größere Enttäuschung: Wie klein ist doch in Wirklichkeit alles, was so riesengroß im Gedächtnis haftet! So ist's mir auch später mit allem Brüderischen ergangen, als ich nach vielen Jahren wieder Fühlung gewann. Wie klein ist Niesky, wo wir so Großes erlebten! Wie eng ist auch vielfach das Denken und Leben jener Kreise! Ich könnte heute schwerlich drin leben, dürfte auch kaum willkommen sein. Aber ehrwürdig und eine liebe Erinnerung in herzlicher Dankbarkeit werden mir diese Stätten immer sein.

In mein Nieskyer Dasein fiel das große Erlebnis unseres Volkes, der Krieg von 1870. Da erlebten wir zum ersten Male das deutsche Vaterland, das uns ewig teuer sein wird, auch wenn es heute arg zertreten ist. Damals lernten wir Knaben jauchzen über den deutschen Aufstieg. Sedan, Straßburg, Metz, Paris – welche Jubeltage, die unvergessen sein werden, die den Grund gelegt haben zu dem unerschütterlichen Glauben an unser Volk und seine Zukunft. Auch darin haben unsere Lehrer uns unterstützt und geholfen. Der Glaube an den Christus verträgt sich so gut mit dem Armanismus. Was die Urväter in ihrer Weisheit ersehnt, ist im Christus erfüllt. Echtes Deutschsein ist auch echtes Christsein. Natürlich der großsprecherische Hurrapatriotismus mußte von uns abfallen. Es ist übrigens eigentümlich, daß der vielgescholtene Lärmpatriotismus gar nicht so sehr deutscher Brauch war. Am meisten verbreitet war diese Seuche in Berlin. Das ist aber nicht gerade eine besonders deutsche Stadt. Das große Wort führten dort immer Fremdstämmige. Dieselben Menschen waren dann auch stets am meisten sittlich entrüstet über den Lärm, als sie seiner nicht mehr bedurften. Sittliche Entrüstung ist immer das Zeichen einer unrichtigen Einstellung.

Aber auch das schwarz-rot-goldene Gebrüll von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird von uns abfallen müssen, um so mehr, als Brüderlichkeit gerade nicht Gleichheit, sondern denkbar größte Ungleichheit ist. Wir sahen's schon an Br. Goerlitz und den Seinen. Aber aufwachen wird der echte, stille Sinn deutscher Tüchtigkeit, und dem wird der Christus begegnen. Denn er ist seiner Art.

Für ein Stück der Hilfe, die unsere Erzieher unserem erwachenden Vaterlandsgefühl leisteten, bin ich ihnen lebenslang dankbar gewesen und gewiß viele andere auch. Das war das Nieskyer Regiment. Es gehörten dazu alle Knaben und zwei Lehrer, die die Generäle waren. Eigentlich bestand das Regiment nur aus zwei Kompagnien, die verschiedenfarbige Abzeichen trugen, aber nur während des Dienstes. Neu Eingetretene wurden als Rekruten von Unteroffizieren des Regiments einexerziert, jeden Sonnabend während der etwas verlängerten Frühstückspause trat das Regiment an, und dann begann ein strammes Exerzieren. Ein älterer Schüler war Major, es gab Leutnants und Unteroffiziere, die im Dienste durchaus die Würde der Vorgesetzten wahrten. Zwei Hornisten und zwei Tambure begleiteten die Marschübungen, das Regiment hatte auch eine Fahne, die keine uninteressante Geschichte hatte. Einmal im Jahre gab's eine große Parade, die die Generäle abnahmen, einige Male war auch Manöver, bei dem etwa Niesky verteidigt und erstürmt wurde. Die Sache wurde sehr ernst betrieben. Es gab Holzgewehre, an denen Griffe geübt werden konnten, im Manöver wurde Schießen markiert, und wer drei Jahre im Regiment gedient hatte, durfte während des Dienstes ein Dienstkreuz mit III tragen. Es gab auch eines mit IV. Ich habe es nie so weit gebracht, weil ich schon nach zwei Jahren austreten mußte. Als ich später Soldat wurde, war mir der ganze Infanteriedienst vollkommen geläufig als Jugenderinnerung. Unsere Generäle waren eben gediente Infanteristen gewesen. Anscheinend war's ja Spielerei, aber sie wurde militärisch ernst betrieben und weckte den Sinn für Heer und Vaterland.

Ich erinnere mich, daß man vor etwa 30 Jahren in Rußland und vorher schon in Frankreich auf den Gedanken kam, für die Jugend müsse es nützlich sein, militärische Uebungen zu machen und einfache Formationen kennen zu lernen. Dann wurde in beiden Ländern drauf los exerziert. Abgedankte Unteroffiziere standen als Lehrmeister hoch im Kurs. Für die vielen Schulen, die plötzlich exerzieren sollten, konnte man nicht genug schaffen. Der Feuereifer des Anfangs erkaltete bald.

Wir hatten in Niesky schon vor 50 Jahren eine gedruckte Regimentsgeschichte. Aus unserem Regiment sind tüchtige, deutsche Generäle, sogar Höchstkommandierende hervorgegangen. Vor dem alten Kaiser Wilhelm hat das Regiment einmal in Paradeaufstellung gestanden.

Auch am 150jährigen Jubelfest der Anstalt hatte das Regiment Parade und eine sehr anmutige Felddienstübung, die beide sehr gelungen waren. Die anwesenden Offiziere, alte Nieskyer Regimentskameraden, hatten sämtlich die Paradeuniformen ihrer Regimenter angelegt. Der Rangälteste nahm die Parade des Knabenregiments ab, und der Vorbeimarsch mußte jedes militärisch geschulte Auge entzücken.

Dann hieß es plötzlich: Die Alten vor! und wirklich wurden wir Alten in Reih und Glied gestellt, dem »Dienstalter« nach. Ein alter Fähnrich des Regiments ergriff seine Fahne, die alten Trommler übernahmen von den Knaben ihr altes Gespiel, die Offiziere in Uniform kommandierten die alte Garde, und in Kompagniefront rumpelte die alte Gesellschaft vorüber. Mein Vordermann, ein Altersgenosse, den nun auch schon der kühle Rasen deckt, war Offizier außer Dienst. Sein Sohn, ein junger Leutnant, kommandierte den Zug.

»Hand aufs Herz, Herr Hauptmann«, fragte ich später den kommandierenden Offizier, »wie sind wir im ersten Zuge eigentlich vorbeigekommen?« »O«, sagte er, »gar nicht so schlecht.« Dieses Lob muß uns entlasten.

Natürlich hat der Novembermob auch unser Regiment niedergebrüllt, die Waffenkammern sind verschlossen, die Regimentsfahne verwahrt. Aber so deutlich mir ist, daß Deutschland wieder einmal ein richtiges Heer bekommt, so gewiß hoffe ich auch, daß das alte liebe Nieskyer Regiment wieder einmal antritt und seiner Fahne und seinen wackeren Generälen folgt.

Nein, wir lassen uns das deutsche Bewußtsein von keinem Jämmerling und keinem Fremdling und keinem Rassenmischling rauben. Wir haben freilich gesehen, daß undeutsches Wesen über die große Schöpfung der Hohenzollern wie Fliegengeschmeiß herfiel und mit seinem eklen Gewürm schließlich die ganze Herrlichkeit untergrub und ebenso die Leitenden wie das törichte Volk betörte. Aber wir glauben auch, daß das deutsche Blut in den Verführten sich regen und um so größere Tüchtigkeit erzeugen, aber auch alles fremde und undeutsche Wesen von Grund aus ablehnen wird. Hat unser Volk ungezählte Jahrtausende überdauert, so wird es auch dieses Jahrtausend des fremden Ueberfalls überwinden.

Sal und Sig!

Bautzen

Meine Nieskyer Zeit hat nicht sehr lang gedauert. Etwa zwei Jahre. Man darf »lange« nicht nach der Uhr und »groß« nicht mit dem Metermaß messen. Alles wirklich Bedeutungsvolle hängt ohnehin nur in Augenblicken. Die Jahre verarbeiten, was die Augenblicke erzeugen.

Meine gute Mutter hatte in der Zeit wieder geheiratet und wurde nun zum zweiten Male für andere Kinder Mutter. Von meinem Vater hatte sie 5, von meinem Pflegevater 8 Kinder übernommen, wurde also außer mir 13 Kindern Mutter. Trotzdem fühlte ich mich nie beeinträchtigt.

Die neue Heimat war das Pfarrhaus in Lausa, das aus den Jugenderinnerungen eines alten Mannes in weiten Kreisen bekannt ist, und mein Pflegevater war der unmittelbare Nachfolger Rollers. Es war noch alles so, wie es Roller verlassen, das Loch in der Decke, durch das er seine Befehle an Caritas hinunterrief, der lange schmale Tisch, den ich nie gut vertragen konnte, weil er wackelte, die ungeheure Haselnußhecke um den geräumigen Pfarrgarten, die Insel im Teich und alles, alles. Ich glaube, es ist wesentlich noch heute so.

Die Eltern fanden für richtiger, daß ich in das Gymnasium von Bautzen übersiedelte, wo schon ein älterer Pflegebruder lernte. Bautzen war näher und billiger.

Bautzen, wahrscheinlich nennen sie es heute wieder Budissin, ist eine unbeschreiblich schöne Stadt, voll offenbarer und ganz heimlicher Schönheiten. Es ist die Hauptstadt der wendischen Türkei und sollte, glaube ich, nach dem Weltkriege Hauptstadt einer wendischen Republik werden. Na ja. Uns wundert ja so leicht nichts mehr.

Aber Bautzens Schönheiten zu sehen, waren wir Jungens viel zu unreif. Wenn wir in unsern blauen Mützen durch die Straßen gingen, riefen uns die Gassenjungen nach: Gumminasen. Darob kam es zu mancherlei Faustkampf.

Für mich war die Uebersiedelung nach Bautzen auf das dortige Gymnasium wie das Verpflanzen aus dem warmen Treibhause in eine rauhe Gartenwildnis, und zum ersten und wohl auch letzten Male im Leben überkam mich ein unbeschreibliches Heimweh. Ein Heimweh nach Niesky. Die Seele fror mir auf dem Gymnasium als solchem.

Schon daß jeder Lehrer »Herr Doktor« angeredet wurde, und man sich gegenseitig so unbeschreiblich fern fühlte, war so anders als bei den Nieskyer Brüdern. Eine Würde, eine Höhe entfernte die Vertraulichkeit. Und gerade gegen dieses Wesen, was übrigens ganz natürlich ist, bockte die bubenhafte Unart, die ihre schönsten Flegeljahre in Bautzen verlebte, fortwährend auf. In Niesky war es Ehrenpunkt, daß jeder seine Arbeiten selbst machte und Abschreiben, Vorsagen und dgl. Unregelmäßigkeiten streng vermied. Wir waren im Gewissen gebunden. Aber auf dem Gymnasium fragte niemand nach unserem Gewissen, wenigstens merkten wir's nicht, und da bildete sich bald der Sport aus, daß die Hauptsache war: sich nicht erwischen lassen.

Die Schule hielt uns sehr streng und bewachte uns mit Argusaugen. Aber gerade das reizte zum Aufbegehren. Ich glaube, ich war ein unbeschreiblich widerwärtiger Schüler. Nicht in wissenschaftlichen Leistungen. Was wir in Niesky gelernt hatten, das saß und war ein guter Grund, auf dem weitergebaut werden konnte. Aber im Betragen! Mir war von jeher jede zur Schau getragene Würde eine unbeschreibliche Lächerlichkeit, und eine Autorität, die sich als solche gab, unerträglich.

Wir haben unglaubliche Streiche gemacht aus purem Uebermut, nur um sie zu machen und der Schulzucht Ueberlegenheit zu zeigen. Während meiner Jahre begingen wir einmal das 25jährige Jubelfest einer streng verbotenen geheimen Schulverbindung. Wir hatten Akten und Bierzeitungen aus all den Jahren, hatten Schläger und schlugen Mensuren, allerdings nicht auf den Kopf, sondern nur auf den Arm. Es gab für die Füxe regelmäßige Fechtstunden, Kneipabende, Kommerse, und das alles, ohne daß die wirklich sehr aufmerksame Lehrerschaft auf die Spur kam. Sie wußten nur, daß es zwei Verbindungen gab, deren Mitglieder einander nicht grüßten und nicht zusammen sprachen. Hinter ihr Tun und Treiben kamen sie nicht. Wenigstens zu meiner Zeit nicht.

Sehr viel zu dem Unfug trug allerdings bei, daß wir sehr viele recht bejahrte und erwachsene Schüler hatten, die an sich mehr Freiheit beanspruchten. Das Schulalter ist ja jetzt wesentlich herabgesetzt gegen damals. Aber das Ganze bezeugte, daß Schüler und Lehrer einander zu ferne standen, um sich zu verstehen.

Vor wenig Jahren hielt einmal die Schulleitung eine Umfrage bei ihr zugänglichen alten Schülern. Sie bat uns, von uns als alten Herren aus das Unwesen nicht zu unterstützen. Das haben wir natürlich nie getan. Sie fragte auch an, was sie dagegen tun könne. Ich riet, man solle seitens der Lehrer die Schüler zu interessanten geselligen Vereinigungen einladen und ihnen persönliche Teilnahme entgegenbringen, im übrigen aber ihre freie Zeit mit Schularbeiten gut ausfüllen.

Wir hatten übrigens keineswegs verächtliche Lehrer. Im Gegenteil. Es waren sehr gelehrte und ehrenwerte Männer darunter, bei denen viel gelernt wurde, aber wir verstanden einander nicht, und wenn eine Jugend bockt, gehört schon viel Weisheit, eigentlich ein ganzes Gefüge von Weisheit dazu, das wieder einzurenken.

Unser Rektor namentlich war ein Ehrenmann durch und durch. Otto Kreußler war außerdem ein Gelehrter, wie es wenige gibt. Ich glaube, auch viele seiner Lehrer verstanden ihn nicht voll und ganz zu würdigen. Wir dummen Jungen stießen uns an allerlei Wunderlichkeiten, die er sich im langen Schuldienst angewöhnt hatte. Schon daß er seinen Namen Otto Kreußler in Einem Zuge mit Okß unterschrieb, sicherte ihm einen bösen Unnamen, den er auch ganz genau kannte, ohne sonderlich gereizt zu sein. Eigentlichen Unterricht hatte ich nie bei ihm. Ich gelangte dort nicht in die oberen Klassen, aber später las ich einmal einen Aufsatz über ihn von einem, der ihn wirklich zu würdigen verstand. Er war Homerkenner wie wenige, ein ausgezeichneter Grieche und ebensolcher Lateiner. Man hätte ihm, sagte der Artikelschreiber, wohl ein etwas reiferes Publikum wünschen mögen.

Ich selbst hatte später Gelegenheit, ihm alle Jugendunarten abzubitten. Ich hatte als erstes Amt von dem sächsischen Konsistorium den Auftrag bekommen, einige Wochen in Cunewalde bei Bautzen als Diakonatsvikar auszuhelfen. Es war Weihnachtszeit und tiefer Schnee. Ich saß morgens 8 Uhr fröstelnd im Schlafrock vor dem Kaffee, den meine Zugeherin zu bereiten pflegte, als draußen das Pförtchen aufging, und kein Geringerer als Rektor Otto Kreußler eintrat. Ich hatte nur Zeit, ein anderes Gewand anzuziehen, da stand er schon im Zimmer.

»Sie haben mir einen Besuch gemacht und mich leider verfehlt. Ich komme, Ihnen einen Gegenbesuch zu machen. Natürlich haben Sie keine Zeit für mich, ich gehe auch gleich wieder, aber ich wollte Ihnen gern die Hand reichen.«

Ich war sprachlos. Der alte Herr hatte mehr als eine Wegstunde im Schnee zurückgelegt, war vorher mit einem unmöglichen Morgenzug aus Bautzen aufgebrochen und stand 8 Uhr morgens vor mir, dachte auch nicht daran, nur eine Tasse Kaffee zu trinken.

Endlich faßte ich mich und sagte: Es trifft sich gut, Herr Professor, daß ich gerade heute vormittag frei bin. Erlauben Sie mir wenigstens, Sie zur Bahn zu geleiten.

»Wenn Sie es mit gutem Gewissen können, nehme ich's gern an.«

So wanderten wir durch die Schneelandschaft, der Weg war leidlich eingefahren, und da zog der alte Herr ein altes Schülerverzeichnis aus der Tasche, auf dem auch ich stand, und fing an, von jedem meiner Mitschüler sein Lebensschicksal zu erzählen mit einer inneren Anteilnahme und Hingabe, daß ich mich tief schämte. Wir hatten gemeint, kein Mensch nehme Anteil an uns über unsere schulmäßigen Leistungen hinaus, und hier stand ein Mann, der jeden von uns auf dem Herzen trug und ihn mit inniger Anteilnahme auch dann begleitete, als er längst seiner Pflege entrückt war. Und im Leben machte er den Eindruck des unbeholfenen Gelehrten und wunderlichen Schulmannes!

Diese Stunde wird mir lebenslang unvergessen sein. In ihr wurde gleichsam alles zurechtgerückt und ausgesöhnt, was an schweren Schulerinnerungen liegen geblieben war. Diesen Mann hätte man beauftragen müssen, Gymnasiallehrer zu Erziehern zu machen. Ob ein Kultusminister wohl dieses Bedürfnis der gebildeten Jugend empfindet! Auch der wissenschaftlich gerüstete Jüngling bedarf in seinen Werdejahren eines Erziehers, der ihm innerlich Freund ist und ihn leiten kann, auch neben den Studien und wissenschaftlichen Leistungen.

Es gibt ohne Zweifel in unserer Lehrerwelt nicht wenige, die gerade dafür Begabung und volles Verständnis haben, aber in diesem Gebiete sind sie meistens ganz auf sich selbst angewiesen, und es wäre ihnen gut, wenn sie gerade hier von einem schulerfahrenen Manne Rat und Anleitung haben könnten. In Niesky stand hinter ihnen eine ganze Gemeine, in der sie von selbst in das erzieherische Wesen hineinwuchsen.

Ein sehr berühmter klassischer Philolog an einer großen Universität tat einmal den gewaltigen Ausspruch: »Ich will hier Philologen erziehen und nicht Gymnasiallehrer.« – Das deutsche Volk bedarf aber gerade, daß Gymnasiallehrer für seine aufstrebende Jugend erzogen werden. Die Philologie ist weit leichter entbehrlich als die lebendigen Bildner jugendlicher Seelen.

Lehrer jeder Art haben einen ganz ungeheuerlichen Einfluß. Es gibt kein dankbareres Arbeitsfeld als Jugenderziehung. Auch kein verantwortlicheres. Der Schüler erfühlt alles, was der Lehrer denkt. Gedanken sind wie die Wellen des drahtlosen Verkehrs, und die jugendlichen Gemüter sind die empfindlichen Empfangsstationen.

Die Gedanken des Lehrers wirken stärker als seine Worte. Wer etwa einen frommen und rechtgläubigen Religionsunterricht erteilt, an dem keine Ueberwachung etwas aussetzen kann, aber selbst im Innern nicht glaubt, was er zu sagen planmäßig genötigt ist, der wird Atheisten erziehen. Wie viele sind aus unsern gut eingerichteten Schulen im letzten halben Jahrhundert hervorgegangen! In unsern Schulen hat man ganz gewiß nicht Vaterlandsverrat und Aufruhr gelehrt: wie kam's, daß unsere urteilsunfähigen Massen mehr dem feindlichen als dem deutschen Wesen offen wurden? Nur durch die Hetzpresse beeinflußt? Oder liefen vielleicht starke Gedankenwellen unausgesprochen, aber der Jugend fühlbar durch das Lehrergeschlecht nach dem Kriege von 1870? –

Unsere Urväter, die in allen Dingen und Zuständen des Lebens eine Dreiheit sahen in der Einheit, sahen im Menschen als solchem die Dreiheit Leib, Seele oder Gemüt und Geist oder Vernunft, und sie lehrten und befolgten es auch, daß alle Glieder dieser Dreieinigkeit gleichmäßig ausgebildet werden müßten, wenn das Ganze des Menschen nicht Schaden leiden sollte. Körperlich starke und den Anforderungen des Planeten gewachsene Menschen mit reichem Gemüt und klarem Verstand war das Bild, das der armanischen Erziehung vorschwebte.

Nun ist eigentümlich, daß seit Urtagen von der Weltesche Iggdrasil, das ist das arische Volk, erzählt wurde, einer ihrer drei Aeste, eine ihrer drei Wurzeln sei krank, die Dreieinheit also irgendwie gestört. Dazu kommen die Aussagen einer Menge von deutschen Märchen, die von drei Brüdern oder drei Schwestern erzählen, von denen eines immer benachteiligt und gering eingeschätzt wurde. Im Verlaufe der Geschichten stellte sich aber immer heraus, daß gerade das gering Geschätzte das war, das die andern überleuchtete. Auch der dritte Ast und die kranke Wurzel der großen Esche würden sich wieder erholen zu seiner Zeit. Wendet man das auf die menschliche Dreieinheit an, so ist entschieden das Gemüt das vernachlässigte, während Geist und Körper alle Pflege und Vorzüge beanspruchen. Schließlich ist's aber doch das Gemüt, das alle rettet. In einem Ziegenmärchen ist die einäugige Hirtin etwas besonderes, die dreiäugige erst recht, aber das gewöhnliche und unauffällige und verachtete Zweiauge wurde doch allein mit der Ziege fertig. Das Aschenputtel wurde die rechte Königin, bei den andern haperte es im entscheidenden Augenblick.

Nun in der Schule wendet sich die Wissenschaft an den Geist, die Erziehung an das Gemüt. Mir scheint, wir haben das Gemüt zu sehr vernachlässigt in unserer Unterrichtsarbeit. Auch in der Volksschule. Wir haben bei dem allgemeinen Schulzwang mehr die Quantität als die Qualität im Auge gehabt. War's eigentlich notwendig, daß jedem Menschen das Lesen und Schreiben aufgedrungen wurde? Dadurch sind nur große urteilsunfähige Massen dem Schlagwörtertum ausgeliefert worden, die sonst ein friedlicher staatserhaltender Bestandteil des Volkes wären. Sie sind vollgestopft worden mit Wissen, das sie nie verdauen können, aber erzogen sind sie nicht. Das Gemüt hungert und empfindet, daß etwas fehlt, es weiß aber nicht, was es ist. Eigentlich ist's doch ein erstaunlich halb gedachter Gedanke, ein Volk dadurch auf die Kulturhöhe zu heben, daß man allen seinen Kindern schulmäßiges Wissen aufzwingt. Armanische Weisheit war, alle arbeiten zu lehren, daß jeder sich selbst ernähren konnte. Dann konnte man den Befähigten und Geeigneten Wissen anvertrauen und auf der Stufenleiter der innerlich vorwärts Arbeitenden die eigentlich Geweihten finden. Diese wurden dann Eingeweihte und waren das Hirn des Volkes, seine berufenen Führer, keine brüllenden Demagogen.

Das war Volkserziehung. Im Märchen sehnt sich das Volk noch danach. Vielleicht geht uns, wenn wir alle Tiefen des Leids ausgekostet haben, einmal der Sinn auf für die armanische Weisheit unserer Urväter.

Uebrigens stand das Bautzner Gymnasium damals auf voller Höhe. Es wurde viel gelernt und fleißig gearbeitet. Wir sahen sogar von Verbindung wegen darauf, daß unsere Füxe und Burschen gute Schüler waren, und dieser Einfluß der Kameraden war keineswegs zu unterschätzen. Es war ein humanistisches Gymnasium im besten Sinne mit guten Leistungen.

Eine Kunst namentlich wurde geübt, die die heutigen Schüler nicht mehr kennen. Wir mußten lateinische Verse machen, und zwar schon von der Untertertia an. Eine Examensarbeit bestand immer in Versen. In den oberen Klassen gab es ganze Elegien als regelmäßige Arbeiten, und wenn Rektor Kreußler Ursache hatte, mit einem Schüler unzufrieden zu sein, so sagte er: Machen Sie mir eine Elegie. Das war nun manchem nicht gegeben, andere entwickelten unglaubliche Talente. Ein Bekannter von mir konnte sich hinsetzen und ein Gedicht im richtigen Versmaß einfach hinschreiben. Dafür war seine Hilfe sehr begehrt. Er hatte aber einen festen Preis dafür und verlangte für jede Elegie ein Kistchen Zigarren. Einmal hatte der Rektor seinen Primanern die unglaubliche Aufgabe gestellt, eine Elegie über den »verlorenen Sohn« zu machen. Da mußte der Hausdichter dran und Verse schmieden. Für viele und sich selbst. Der Rektor fand bei der Beurteilung, daß viele recht verwandte Gedankengänge eingeschlagen hätten. Kein Wunder. Die Kunst des Dichters war gewesen, die verschiedenen Leistungen einander unähnlich zu machen. Das war nur unvollkommen gelungen.

Heute schmieden die Schüler keine lateinischen Verse mehr. Man ist froh, wenn sie allenfalls solche übersetzen können.

Man hat später viel an den altbewährten deutschen Schulen herumgedoktert und ihnen viel neuzeitliches Wissen zugeführt. Aber eine tiefgründige Bildung gewährten unsere alten Schulen. Wer bei uns arbeiten und denken gelernt hatte, der konnte sich leicht in jedes beliebige Gebiet der Wissenschaft hineinarbeiten, auch wenn er es ziemlich unvorbereitet betrat.

Am Ende besteht Bildung doch in der Fähigkeit, irgendeinen Stoff zu zwingen und zu verarbeiten, aber nicht in der Aufhäufung erlernten Wissens. Diesen Dank empfinden wohl alle Schüler der nunmehr wohl gänzlich umgestalteten alten Gymnasien. Wir anerkennen gerne das vielgestaltige Wissen der neuzeitlich erzogenen Menschen, aber manchmal wundern wir uns im Stillen, wie wenig folgerecht oft von ihnen gedacht wird. Darum ist ihnen auch das Zeitungsgewäsch erträglicher als uns. Freilich auch weniger bekömmlich.

Heute ist unsere ehrwürdige alte Bautzner Schule ein Etwas, das wir Alten wohl nie ganz verstehen werden. Die erste Fremdsprache, die einem Schüler auf der Schule entgegentritt, ist – englisch. Wahrscheinlich ist das ein geheimer Befehl an unsere gesetzlich geschützte hohe Staatsregierung, die mithelfen soll, daß Deutschland ein zweites Indien wird. Aber wir fragen uns doch: Haben wir denn immer noch nicht Zwiefältiges empfangen für alle unsere Sünden? Haben wir ganz das Wort im Faust vergessen: »Sie lispeln englisch, wenn sie lügen«? Auch diese Schmach wird einmal von unserem Volke genommen werden. Vorher muß es aber lernen, daß es deutsch ist und ein Volk ist und kein internationaler Brei.

Dresden

Mein Aufenthalt in Bautzen brach ebenso plötzlich und ebenso mitten im Schuljahre ab, wie mein Eintritt in die Schule. Meine Eltern fanden, daß Dresden noch näher bei Lausa lag, und da just dort ein neues Gymnasium gegründet worden war, ein königlich sächsisches in Neustadt, wurde ich dahin geschickt und war's zufrieden. Wenn man vier Jahre die gleichen Schulbänke gedrückt hat, und wenig Verständnis für das Schulganze und die Stadt und ihre wundervolle Umgebung erwacht ist, geht man leichten Herzens anders wohin, wo es neuer ist.

Daß aber Dresden so neu war, wie es war, das ahnte ich nicht. Ein sächsischer Minister hatte einmal in einer Anwandlung von Verständnis für die Bedürfnisse der Untertanen den Gedanken gefaßt, in die neugegründete Anstalt die besten Lehrkräfte des ganzen Landes zusammenzusuchen. Ein auch sonst außerordentlich bewährter Rektor überkam die Leitung, und jeder berufene Lehrer war in seinem Fache Meister und Beherrscher des Stoffs. Es waren wirklich Berufene, wenigstens alle die, mit denen wir Schüler der oberen Klassen zu tun bekamen. Die zweifellose Beherrschung des Stoffs fühlten wir durch, und das weckte in uns einen Arbeitseifer und eine Freudigkeit, daß die Schule der Strafen und des Aufpassens einfach nicht bedurfte. Mit diesen Herren zu arbeiten war ja nicht immer leicht, denn sie machten Anforderungen an unsern Fleiß, die die Heutigen wohl nicht mehr kennen. Aber an ihrer Sicherheit und Gewißheit sich aufzurichten war auch ein Genuß, den nur jemand versteht, der das Glück hatte, von allerersten Kräften unterrichtet zu werden.

Unser Rektor Ilberg sah in seinen Primanern eine Art Leibgarde, man fühlte ihm an, daß ihm der Verkehr mit der Jugend Freude machte. Ich glaube, er konnte jeden der sechshundert Schüler des Gymnasiums mit dem Vornamen rufen, wenigstens habe ich ihn oft auf Korridoren diesen Brauch üben sehen. Aus seinen runden Brillengläsern blickte eine lachende Freundlichkeit, die das Lachen erregte, aber jederzeit das erregte auch bändigen konnte.

Als Primaner nahmen wir unstreitig eine Vertrauensstellung bei ihm ein, und das wirkte natürlich sehr günstig auf unser Verhalten. Es gab im Schulbetrieb mancherlei unerlaubte Hilfsmittel, als Uebersetzungen u. dgl., deren Benutzung in Bautzen streng verfolgt und schwer geahndet wurde. Wenn bei Rektor Ilberg ein Schüler dergleichen benutzte, wußte er diese Entgleisung mit so absichtlicher Geflissentlichkeit zu übersehen, daß der Schüler es künftig von selbst unterließ.

Im Unterricht schweifte er oft ab. Das hing wohl mit dem Alter zusammen. Es war eine Altersberedsamkeit, aber diese war so würzig, daß wir nicht müde wurden, zuzuhören. Namentlich im letzten Schuljahre wurde nicht viel Neues gelernt, sondern das Alte mehr ausgebaut. Da war die rektorale Weisheit für uns Jünglinge eine geradezu glänzende Vorbereitung für das akademische Leben und das Leben überhaupt. Was ein erfahrener Schulmann und Gelehrter, der auch das wirkliche Leben kannte, im Laufe eines langen arbeitsreichen Lebens an Weisheit und Erfahrung aufgestapelt hatte, das gab er freigebig seinen jugendlichen Zuhörern zum besten. Noch heute klingen mir viele seiner Geschichten und Beobachtungen in den Ohren. In allen lag ein Zug lauterer Herzensgüte, und in diesem Vertrauen lag das Erziehliche. Völlige Beherrschung der Lage ist die Voraussetzung aller Erziehung, dann aber der Gebrauch der unbezweifelbaren Macht zum Dienste der Jugend ihre Auswirkung. Ja, wir haben zu ihm aufgeblickt, wenn wir seinen Wert damals vielleicht nicht voll verstanden, und er blickte behaglich zu uns auf, denn wir waren wohl alle eines Hauptes länger als er. Er war so recht der Mittel punkt der ganzen Schule innerlich wie äußerlich, und wenn er bei einem Festaktus das Ganze leitete und mit strahlenden Augen überflog, teilte sich auch jedem ferner stehenden Besucher der Eindruck behaglicher Ordnung mit.

Die Schule war ein geordnetes Ganzes, das anscheinend ganz von selbst in harmonisch beglückenden Bahnen lief ohne Entrüstungsstürme, Strafen und Donnerwetter in meistermäßiger Ueberlegenheit.

Es waren auch alles Meister, die uns unterrichteten. Unsere heutigen Lehrer lehnen wahrscheinlich aus Bescheidenheit den Schulmeistertitel ab und nehmen lieber fürlieb mit den Titeln von Studienbeamten oder etwas ähnlich Untergeordnetem. Dennoch wäre zu wünschen, daß wir wieder echte Meister bekämen.

Da war unser Konrektor Richter. Er hat später lange Jahre in Leipzig als Rektor gearbeitet. Seine Unterrichtsstunden waren Fest- und Feierstunden. Mit ihm erlebten wir Hellas und Rom. Das war kein Lernen und Lehren, das war ein begeisterndes Erlebenlassen der Alten, ein Einfühlen in ihr Schrifttum. Dabei hatte er die eigentümliche Art, alles Kluge und Gelehrte so anzubringen, als hätten wir's uns selbst ausgedacht und teilten es zum allgemeinen Besten aus. Wenn einer freilich auf diese Art nicht einging, etwa weil er doch zu unbeholfen und unreif war, dann konnte er sehr aufbrausend werden. Er war von seinem Stoffe feurig begeistert, und ein fader Junge konnte ihn rasend machen. Aber ebenso schnell faßte er sich, und die große Güte schlug durch.

Einmal hatte er uns eine wirklich über die Kraft gehende griechische Aufgabe gegeben. Nach einigen Tagen kam er mit den Heften in der Hand aufs Katheder, sah uns grimmig an, warf dann die Hefte hin und sagte: Abgeschrieben habt ihr! Wenn ihr das noch einmal wagt, dann lasse ich euch Jean Paul ins Griechische übersetzen, dann könnt ihr euch die Zähne dran ausbeißen.

Dann nahm der Unterricht seinen üblichen Verlauf. Von den Arbeiten war keine Rede mehr. Aber damit war die Sache nicht erledigt. Nach einigen Tagen erschien er mit einem Buch, setzte sich behaglich unter uns und sagte: Da habe ich einen Band Jean Paul mitgebracht. Das wollen wir nun doch zusammen ins Griechische übersetzen. »Ich möchte noch den Totenkopf des Mannes streicheln, der die Sommerferien erfunden hat ...« Ich weiß nicht, wo Jean Paul diesen großen Gedanken ausgesprochen und im folgenden ausgeführt hat, aber diese etwas stark neuzeitlichen Gedanken verwandelten sich bei uns in ein Demosthenisches Griechisch so entzückender Art, daß ich bedaure, es nicht mehr zu besitzen. Und diese Uebersetzung lieferte nicht der Lehrer, sondern wir Schüler mit ihm zusammen, und wir nahmen den Eindruck mit: Heute haben wir etwas geleistet.

Das war Zusammenarbeiten, und das belebte und begeisterte. Er kam öfter mit solchen Dingen. Einmal hieß es: Heute wollen wir einmal ein griechisches Gedicht machen. Dichten ist übrigens gar nicht so einfach. Das muß man können. Halten wir uns also an irgendein bewährtes Muster. Zum Beispiel – er schien nachzudenken – nun sagen wir einmal ein Gedicht wie »Ich hatt' einen Kameraden«. Gut. Wollen wir das ins Griechische übersetzen. In einer Stunde sind wir fertig. Natürlich muß es im gleichen Versmaß sein. Sonst kann man's ja nicht singen. Und reimen muß es sich auch. Klassische Griechen dürfen aber nicht die Empfindung haben, etwas Fremdartiges zu hören.

Und nun machten wir ein Gedicht. Wir zusammen. Wir berieten über jeden Ausdruck und fanden immer den besten. Es ist nicht ganz einfach, Worte wie »laden«, »eine Kugel kam geflogen« und »ewiges Leben« u. dgl. in klassisches Griechisch zu übersetzen, das ja diese Begriffe gar nicht hatte. Dennoch ging's. Wir schufen ein klassisches Meisterwerk von gleichem Schritt und Tritt. Einiges davon ist meinem Gedächtnis abhanden gekommen. Aber das meiste weiß ich noch heute.

Es ist mir nie gelungen, weder vorher noch nachher, ein gereimtes oder ungereimtes griechisches Gedicht, überhaupt ein Gedicht zu machen, aber wenn uns der Meister überkam, da entquollen uns Leistungen.

Ja, sie waren alle Meister, unvergeßliche Meister, nicht bloß Studienräte. Es war in Mathematik und Physik nicht anders. Eine neue Welt der Zahlen, Formen und Naturgeheimnisse öffnete sich unter der etwas rauhen, aber alles beherrschenden Art des Mathematikers. Ich brachte leider nicht genug Vorkenntnisse mit und habe mir sehr schwer getan, bis ich auf Klassenhöhe kam. Aber schließlich ging's doch. Wir lernten arbeiten und nicht bloß auswendig. Wer arbeiten kann, der kann alles zwingen.

Dann kam deutsche Geschichte, Weltgeschichte. Wie meisterhaft wußte Professor Kämmel sie zu behandeln. Sein Vortrag atmete eine überlegene Ruhe, als ginge ihn selbst das alles nichts an, was da als Vergangenheit an unsern Blicken vorüberging. Aber in was für Zusammenhänge sah man hinein durch das Gespinst der trockenen Jahreszahlen! Wir erlebten die Politik der früheren Jahrhunderte und lernten die heutige – na nicht gerade verstehen, aber wenigstens ein wenig beurteilen. Um das heutige Treiben zu verstehen, muß man in geheime Gewebe hineinblicken können, die unsern jugendlichen Augen glücklicherweise nicht gezeigt wurden. Würde unser »reifes« Volk sie heute sehen, so würde es vor Entsetzen starr werden. Seine Augen sind gehalten, bis die große Stunde des Handelns kommt. Sie wird gewißlich kommen und nicht verziehen. Dann erst werden wir aus der Geschichte gelernt haben.

Ich brauche nun wohl nicht zu sagen, daß unsere Meister der Strafen und des Beaufsichtigens nicht bedurften. Ihr seid erwachsene, gesittete Menschen. Wir halten es für ganz selbstverständlich, daß ihr euch auch als solche betragt. Mit brennender Zigarre kommt kein gesitteter Mensch in die Schule, in zweifelhafte Kneipen geht ein anständiger Mensch von selbst nicht. Solche Dinge stehen überhaupt nicht unter Verboten. Wir sind doch gebildete Menschen, Lehrer wie Schüler, sind Standesgenossen und benehmen uns danach.

Das war etwa die Schulmoral. Und sie wirkte. Damit waren nämlich die Kameraden zu Aufsehern bestellt über das, was sich schickte oder nicht, und Kameraden sind strengere Beurteiler als Lehrer. Das muß überhaupt die Weisheit der Schule sein, daß sie die Zucht unausgesprochen, aber deutlich fühlbar in die Hände der Schüler legt. Es muß kein Schülerparlament und kein Schülerrat sein, nein, die Kunst besteht darin, daß etwas geschieht, was die Schüler als ihr Eigentum ansehen und handhaben lernen, und dessen letzte Fäden bei ihren Erziehern liegen. So wie wir griechisch dichten und Jean Paul ins Griechische übertragen konnten, von unserem Meister befruchtet, so müßten die Schüler selbst die Ordnung halten lernen, und bei uns war's so. Die unteren Klassen standen sogar von Schule wegen unter der Aufsicht der Primaner. Und wir walteten unseres Amts mit Würde und Strenge.

Natürlich kam eines dazu, was die Schulordnung erleichterte und die Aufsicht außerhalb der Schule unnötig machte. Eine Großstadt wie Dresden bietet selbstverständlich viele Gefahren für Jünglinge, die man weder durch Gesetze noch Aufsicht wettmachen kann. Aber da gab's ein Mittel, das uns in strenger Zucht hielt. Das waren die nicht gewöhnlichen Anforderungen, die unsere Meister an unsere Leistungen stellten. Wollte man denen einigermaßen gerecht werden, hieß es arbeiten und immer wieder arbeiten. Die Entfernungen in der Großstadt sind auch meist so, daß man außer der Schule bei Kameraden nicht Rat holen konnte. So war jeder auf sich selbst angewiesen, und das erforderte alle Kraft und kostete manche Nachtstunde. Ich habe manchmal für Faust ein überlegenes Lächeln gehabt. Dieser Professor sagte zum Monde, er habe ihn so »manche Mitternacht an seinem Pult herangewacht«. Bei uns war's oft 2 auch 3 Uhr und später, bis die Lampe erlöschen durfte. Da vergeht der Mut zum Ausbrechen, und geschah es doch einmal, so schadet die Ausnahme auch nicht viel im harten Ernst der Arbeit.

Man hat später viel Mitleid mit den Schülern gehabt, und die Zeitungen brachten lange Geschwätze über Schülerüberlastung. Häusliche Arbeiten sind heute wohl ziemlich abgeschafft oder stark gemindert. Ich denke gern an die schwere Arbeitszeit zurück. Sie hat uns nichts geschadet. Sie erfordert freilich einen gesunden Leib. Aber den muß der Gelehrte haben, sonst wird er lieber Landwirt, Seemann, Gärtner u. dgl. und wählt einen gesunden Beruf an frischer Luft. Aber der Gelehrte muß der Aufgabe auch körperlich gewachsen sein. Was wird denn aus ihm? Ein Pfarrer, Lehrer, Arzt usf. Dazu kann man doch schwächliche und kränkliche Leute nicht brauchen. Die für andere da sein sollen, dürfen nicht durch ihren ganzen Zustand das öffentliche Mitleid erregen, sondern müssen leiten und anordnen können. Dazu gehört aber Kraft. Also müssen starke Buben die Schulen besuchen, und denen schadet die Arbeit nicht, namentlich wenn auf vernünftige Körperpflege gehalten wird.

Es kam zur Milderung unserer Sitten noch ein Umstand dazu, der mir erst später deutlich wurde. Großstadt und Kleinstadt ist doch ein großer Unterschied. In der Residenz herrschte einfach ein anderer Ton als in der Provinz. Das ging vom Hofe aus und hatte seine Wirkungen bis weit in die Bürgerfamilien des Mittelstandes hinein, also auch bis auf jeden von uns, denn wir lebten in diesen Familien. Das wirkte ohne Worte erziehlich.

Die heutigen neubackenen Republikaner und Demokraten belächeln natürlich alles höfische Wesen. Es mag auch zugegeben werden, daß unsere deutschen Höfe nicht allewege auf der eigentlichen Höhe standen. Namentlich seit ein deutscher Fürst sich zum Verräter an Kaiser und Reich erniedrigte, hat der Hochadel viel Ansehen eingebüßt. Aber trotzdem waren unsere Höfe vielfach Förderer von Kultur, Wissenschaft und guter Sitte und haben dem Vaterlande in ihren engen Kreisen mehr genützt, als wenn sie weggewischt worden wären, und Deutschland ebenso wie Frankreich eine große Masse wäre, dessen Hirn und Haupt irgendein Paris ist. An solchen Mittelpunkten kommt statt der Fürsten der Advokat, der Zeitungsschreiber und Schwätzer auf, und davor behüte uns, lieber Herr und Gott.

Der deutsche Hochadel und das Fürstentum sind sehr bedeutsame und für das Volk außerordentlich wertvolle Erscheinungen, so viel Entgleisungen auch die Geschichte verzeichnen mag. Und was die andern Leute für Leute sind, na das sieht man ja aus den Prozessen, in denen sie gelegentlich als Zeugen oder Angeklagte auftreten.

Es wissen nicht alle bei uns, daß der deutsche Adel wirklich entstanden ist aus »blauem Blut«, d. h. bewahrtem Blut. Unsere Armanenschaft, die das Haupt und Hirn des Volkes war, verstand die Kunst, Menschen zu züchten. Diese besonders Gezüchteten nannten sie Kotinge und betrachteten sie als Asensöhne. Aus ihnen stammen Fürsten und Adel und hatten die Verpflichtung, das Blut weiter zu bewahren, eine Pflicht, die wir mehr und mehr jedem Deutschen auferlegen müssen, wenn das Volk nicht zugrunde gehen soll.

Die Sitte und das bewahrte Blut haben Adel und Fürsten leidlich gehalten. Trotz vieler Unsitten hielten sie doch auf das bewahrte Blut, bis in der Neuzeit der Tanz ums goldene Kalb begann und durch Blutbesudelung mit Niederraßlern das bewahrte Blut verunreinigt wurde. Da kam natürlich der demokratische Mob auf. Ein nicht ungerechtes Gericht.

Es ist ganz klar, daß geschichtslose Länder wie Amerika das nicht verstehen können, auch Frankreich hat die Möglichkeit des Verstehens verloren, seit sie das gute nordische Blut der alten Franzosen mit afrikanischem und überhaupt fremdem Blut, das dem eigentlichen Menschenblut recht ferne steht, verschlechtert haben. Aber wir Deutschen sollten uns hüten, in das allgemeine Demokratengebrüll einzustimmen. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir die Rasse hochzüchten könnten, und das geht. Die verborgenen Weisen unseres Volkes kennen die Mittel und Wege, die die Väter überliefert haben, und stellt sich heraus, daß das früher bewahrte Blut verdorben ist, so müßten neue Edelinge gezüchtet werden als Führer des Volks, das unbedingt der Führer bedarf. Aber hinter ihnen muß wie in alten Zeiten armanische Weisheit stehen.

Dieser Zug der edleren Sitte, der nur aus bewahrtem Blute kam, unterschied die Residenzstadt von der Provinz, und das haben wohl alle kleineren Residenzen in Deutschland fühlen lassen. In Berlin war es weniger zu spüren, heute ist's ganz verloren gegangen, weil das bewahrte Blut zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt, ja sogar der Sinn dafür verloren gegangen ist. Die Stadt ist heruntergekommen wie Paris, und das ist ein großer völkischer Schaden, an dessen Beseitigung noch ernstlich gearbeitet werden muß.

Das damals noch recht kleine Dresden hatte seine Sitte, und diese wirkte wohltätig auf die Jugend. Dort trat auch zum ersten Male die Frau in mein Leben. Welcher Frau der junge Mann nach seiner Mutter zuerst begegnet, das ist für sein Leben hochbedeutsam und sehr oft richtunggebend.

Ich wohnte bei entfernteren Verwandten, die ein unbeschreiblich schönes Grundstück an der Elbe, am Loschwitzer Wasserwerk besaßen, mit Weinberg, Park und Blick auf den Strom, der sich in das türmende Dresden verlor. Von dort erreichte ich in 20 Minuten die Schule, was einen Spaziergang von täglich 80 Minuten erzwang, und das war gut für den durch Studien so angestrengten Körper.

Meine Tante und eine Stieftochter von ihr hielten nach dem Tode meines Onkels den klein gewordenen Haushalt aufrecht, und die beiden alten Damen nahmen mich auf. Wenn ich sage »alt«, so waren sie's nur im Verhältnis zu meiner grünen Jugend, einen Altersunterschied ließ mich namentlich die jüngere Tante nie merken. Und was war das für ein Zusammenleben! Ganz langsam öffneten sich unsere Seelen füreinander.

Meine Tante war eigentlich eine ungeheuer verschlossene Natur, aber wen sie liebte, der durfte auch auf sie rechnen. Sie wurde mir in jenen Jahren die mütterliche Freundin, die sie dann durch alle Zufälle des Lebens bis in ihren Tod hinein blieb. Sie hat es auch auf meine Frau und meine Kinder übertragen. Sie hatte ein außerordentlich klares Urteil über alle Zufälle, die an mich herantraten und auch alle Menschen. Aber es war weiblich eingestellt, und diese Berührung mit edelstem weiblichen Wesen hat mir gut getan und war ein großer Halt. Ich wollte das jedem jungen Manne wünschen, einer reifen Frau zu begegnen, die herzliche Teilnahme an seinem Leben nimmt, und an der er freundliche Beratung findet und ein feineres Empfinden, als Männern gewöhnlich eignet.

So waren's wirklich glückliche Schuljahre, die mit dem Schlußexamen endigten. Aber neun Jahre sind eine lange, lange Zeit, besonders im Leben eines jungen Menschen. Es sind zugleich die ernsten und wichtigen Entwickelungsjahre, in denen der Grund zu dem ganzen Leben gelegt wird.

Wenn ich namentlich an Dresden zurückdenke, so hatte ich ja das seltene Glück, an einer wirklich mustergültigen Schule zu lernen. Ich habe absichtlich die Eindrücke wiedergegeben, die der Schüler von der Schule hatte. Es mag auch im Schulganzen weniger tüchtige Lehrer gegeben haben, aber mir sind sie nicht begegnet, und im Schulganzen verschwanden sie. Die Schule scheint später nicht mehr so gut gestellt gewesen zu sein. Nach Rektor Ilbergs Tode fand wohl das Ministerium, daß zur Heranbildung von Staatsbeamten, die man so nötig braucht, doch besser eine Mittellage als eine Höhenlage tauge, denn man bedarf ja am meisten der Mittelmäßigkeiten. Unsere großen Meister erhielten also sehr ehrenvolle Berufungen und wurden über das ganze Land verteilt. Ob der Schule entsprechender Ersatz geboten wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich habe die Schule nie wieder betreten können.

Die deutschen Schulen

Eines habe ich gesehen und dankbar erlebt: Wir hatten eine Schule mit Höchstleistungen, die nicht überschritten werden konnten. Wenn wir von einem solchen Lichtpunkte aus auf unser gesamtes Schulwesen blicken, erhebt sich die Frage: Leistet eine Schule ersten Ranges wirklich das, was das Volk bedarf? Entsprechen unsere Schulen wirklich dem Bedürfnis des Volkes? Das ist mir im Laufe der Jahre mehr und mehr zweifelhaft geworden. Wäre ich von einer minderwertigen Schule gekommen, so würde ich für später sichtbare Mängel sie verantwortlich machen. Aber hier geht das nicht. Wenn etwas fehlt, so fehlt's am Schulgefüge an sich.

Unsere Gelehrtenschulen, also die Gymnasien, sind ja hervorgegangen aus den früheren Kloster- und Lateinschulen. Ihre letztliche Bestimmung war, Priester und Beamte zu liefern, und da die Priester eine einseitige Sonderausbildung vorzogen, erzog sich der Staat seine künftigen Beamten und Lehrer in den Gymnasien. Damit wurden diese aber Pflegestätten römischen Denkens und Wesens, bereiteten auf römisches Recht vor und entsprachen vielleicht gewissen Staatsinteressen, aber doch nicht dem Wohle des deutschen Volkes. Die römischen Beamten und Rechtsgelehrten standen doch dem Empfinden des Volkes recht fremd gegenüber und sind es bis zur Stunde. Das Volk empfindet diesen ganzen staatlichen Betrieb als etwas Fremdes, dem es gern aus dem Wege geht, zu dem Vertrauen einfach nicht vorhanden ist. Als wir vollends sahen, wie bei dem Systemwechsel in der Revolution sämtliche Staatsbeamte in einer Nacht umfielen wie die Holzkegel, und aus begeisterten Stützen für Thron und Altar ohne jeden Uebergang in einer einzigen Nacht ebenso tüchtige Republikaner wurden, da wußten wir, daß das bei jedem Wechsel der Fall sein werde. Sie werden ebenso wieder Hurrah schreien, wie Sowjetsternschnuppen sein, je nachdem der Wind wehen wird. Sie können gar nicht anders, denn es ist einfach eine Brotfrage für sie. Aber mit dem eigentlichen Leben des Volks sind sie nicht verwachsen. Um dem Nutzen des deutschen Volkes zu dienen, müßten unsere Schulen schon grundsätzlich anders eingerichtet sein.

Nun schuf die Reformation neben der Lateinschule eine neue Schulart, die eigentliche Volksschule. Sie war zunächst als Religionsschule gedacht und lehrte lesen und schreiben, weil der Protestantismus dessen bedurfte. Diese Schule, die dem Volksbedürfnis wirklich entsprach, war auch sehr erweiterungsfähig und konnte allerlei Wissenschaft aufnehmen, möglicherweise in längerem Schulbesuch Naturwissenschaften und allerlei Fächer des wirklichen Lebens behandeln. Es ist ja auch so geworden. Es erwuchsen Realschulen, und später hat man die Gymnasien tunlichst diesen Realschulen angeglichen. Es geschieht noch.

Aber da zeigte sich wieder ein peinlicher Gegensatz. Religion und Naturwissenschaft konnten sich nicht allewege gut vertragen, und dieser ziemlich deutliche Widerspruch war ebensowenig zum Nutzen des Volkes, denn es vermag ihn nicht zu lösen. Das Ergebnis war schließlich, daß die religiöse Gedankenwelt und der Glaube der Väter zu versinken begann, und das Denken des Volkes sich mehr an die meß- und wägbaren Wirklichkeiten hielt, um so mehr, als diese Geld einbrachten, und Geld ist die Hauptsache, seit der Mammonsdienst unser Volk überkam.

Wir können eigentlich nicht sagen, daß unsere Schulen wirklich dem Wohle des Volks dienen. Sie können es gar nicht, ihre ganze Einrichtung dient nicht der Einigung, sondern der Zerklüftung. Wir können das Ergebnis heute mit Händen greifen. Nicht bloß die törichten politischen Parteien, die mit fremdem Gelde in unser Volk hineingetragen worden sind, haben die Zerfahrenheit hervorgerufen, sondern ihre Wurzeln liegen tiefer.

Das deutsche Empfinden wird sich in Rechtsfragen nie mit Paragraphen zufrieden geben, sondern wird stets fragen, was ist vor Gott und dem Volksgewissen recht oder unrecht? Darauf hat das römische Recht keine Antwort, auch dann nicht, wenn man versucht, es mit deutschem Recht zu verschweißen. Das deutsche Empfinden wird ferner niemals verstehen, wieso es einen Gegensatz geben kann zwischen der Natur und ihrer Erkenntnis und den Weistümern Gottes. Das liegt uns im Blute seit Urzeiten.

Wir haben in Deutschland seit unvordenklichen Zeiten Schulen gehabt, die wirklich dem Wohle des Volkes dienten und für deutsche Bedürfnisse gegründet waren. Das beweisen noch die vielen Ortsnamen, in denen die Silbe Ol vorkommt als Olbernhau, Olmütz, Oldenburg, Ohlsdorf und viele. Ol bedeutet Geist oder Schule, eigentlich »offenbartes Licht«. Es heißt auch Ul und liegt im Worte Schule. Wegen des Gleichklangs galt die Ul, die Eule, als Vogel der Weisheit, wie des Gleichklangs wegen in der heraldischen Sprache »Löwe« das Wahrzeichen des »Lebens« ist.

Diese Olorte finden wir überall in der Nähe uralter Heiligtümer, und sie waren in ihrem Sinne gegründet und verwaltet. Es waren Armanenschulen. Das armanische Denken aber ruhte wie jede arische Vorstellung auf einer Dreieinheit. Sie sahen alles dreieinig, die Zeit, den Raum, das Schicksal in den drei Nornen, die Weltesche, also das Volksganze, als Dreiheit in Zweigen und Wurzeln. Sie hatten drei Stände, drei Berufsgrade (Lehrling, Geselle, Meister). Kurz alles war ihnen Dreieinheit. Auch das Wesen Gottes selbst. Der Unaussprechliche, dessen Wesen unerforschlich ist, hatte sich offenbart im Zwiespalt, der in ihm selbst wieder seinen Ausgleich fand. Wir sagen heute dafür im Deutschen Polarität. Die Alten bezeichneten dieses erste Offenbarwerden Gottes durch das heilige Dreieck, in dem die beiden Pole doch wieder in der Spitze zusammenlaufen.

Demnach war auch alles Erkennen Dreieinheit. Es gab nur Eine große Gottesoffenbarung, die Natur. Dazu mußte alles stimmen. Demnach gab es ein Weistum, ein Heilstum und ein Rechtstum, aber diese drei waren unbedingt Einheit. Was der Natur entsprach, war Recht, alles Widernatürliche Unrecht. Was man aus der Natur herauslas, war Erkenntnis Gottes, aber auch der Welt.

Demnach schuf die Schule einheitliches Denken, und alles Erkennen ruhte auf tiefster Ehrfurcht. Es stand nicht jedem Beliebigen jeder Olort offen, sondern man wurde dazu berufen und in das Wissen eingeweiht. Dazu gehörten aber Geweihte. Geweihte können auch nur Volksführer sein. Das Volk wird niemals reif genug sein, sich selbst zu führen. Es ist stets von Führern abhängig. Für das Wohl des Ganzen ist aber sehr wichtig, was das für Leute sind.

Nun, wir wissen ja heute, was für Führerschaften unser armes Volk preisgegeben ist. Das konnte nur eintreten, wenn jeder Beliebige, Deutscher oder Fremder, das Recht hatte, deutsche Schulen zu besuchen, und wenn es der Wissenschaft nicht mehr darauf ankam, Weistum zum Wohle des Volks zu sein. Die Wissenschaft hält sich für berechtigt, alles zu lehren, was sie augenblicklich für richtig hält ohne irgendwelche andern Rücksichten. Dadurch aber hat sie und mit ihr alle Lernenden jede Ehrfurcht verloren und auch jeden wohltätigen zusammenhaltenden Einfluß auf das Volk. Da doch mancherlei Fortschritte im Wissen und Erkennen gemacht werden, ist ihr Weistum jeden Augenblick ein anderes, und da es schlechthin nicht gehütet wird, muß es auf die Massen verwirrend wirken. Das Volk verliert seine Ehrfurcht, und ein Volk ohne Ehrfurcht muß die Beute seiner Feinde werden. Die Schule dient offensichtlich nicht den Bedürfnissen des Volksganzen.

Da nun unser starkes Volk nur besiegt werden konnte, wenn es zerrissen und zerklüftet wurde, haben unsere Feinde geflissentlich die Einheit der Schule zerschlagen und auf jede Weise zu unterbinden gesucht. Die Kloster- und Lateinschule war offenbar gegründet, uns zu entdeutschen. Daran ist auch wenig dadurch geändert worden, daß die Schulen den Humanismus erlebten und durch ihn humanistische Gymnasien wurden. Die deutsche Zerrissenheit und Uneinigkeit wurde dadurch nicht aufgehoben. Seit Karl der Halsabschneider unseren führenden Weisen die Köpfe abschlagen ließ, um Deutschland zu vernichten, gibt es in der Welt fortwährend Menschen, deren Vorteil diese Zerklüftung ist. Darum wird sie mit allen Mitteln aufrechterhalten, daß wir nicht zur Ruhe kommen können. Darum dienen auch unsere Schulen nicht der Einigung und dem eigentlichen Wohle des Volkes. Auch die denkbar besten sind auf Grund ihrer ganzen Einrichtung und ihrer geschichtlichen Herkunft nicht imstande, dem Volksganzen den Nutzen zu bringen, dessen es bedarf.

Heute dämmert der Gedanke, daß wir unser gesamtes Schulwesen auf neuer Grundlage aufbauen müssen. Ob man den rechten Grund finden wird, bleibt abzuwarten, aber zu begrüßen ist schon, daß die Empfindung aufwacht, es muß von der Wurzel aus Neues geschafft werden. Werden wir erst wieder in weiteren Kreisen wissen, was deutsch ist, und daß deutsch sein für uns die Lebensfrage ist, dann werden wir auch unschwer den Boden finden, auf dem grundsätzlich Neues aufgebaut werden kann. Es ist nicht schwer, sobald das Verständnis erwacht ist.

Daß wir über ganz vorzügliche Lehrkräfte verfügen, haben wir in unserer Jugend erlebt. Es wird heute nicht anders sein. Sie müssen nur einheitlich arbeiten lernen, und die Auswahl der Schüler muß nicht vom väterlichen Geldbeutel, sondern von der Eignung für die deutsche Schule abhängen. Ein Generalwissen, was jedem Volksgenossen aufgezwungen wird, sollte man lieber nicht festhalten, dafür die frei werdenden Lehrkräfte in den Dienst der Geeigneten stellen.

Als wir Dresden verließen, geschah es unter aufrichtigem Dank. Viele von uns wollten Lehrer werden, solche Lehrer wie die, die uns ihr Bestes gegeben hatten. Das ist ein gutes Zeichen für die Schule. Das Leben selbst lenkt nachher die Wege der Entlassenen in seine Bahnen.


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