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Neunzehntes Kapitel.

Fast niemals gestalten die Verhältnisse sich in der Weise, die man erwartet hat. Mögen Verstand und Phantasie sich mit ihnen noch so lange beschäftigt, mag man alle Wahrscheinlichkeiten noch so vorsichtig berechnet haben, der Dämon des Zufalls weiß unsere Voraussicht zu Schanden zu machen und Combinationen zu erzeugen, die wir nicht erdenken konnten und die alle unsere Vorsätze und Grundsätze mit einem Stoße in die Luft schnellen.

Der Baron hatte es, wie er den Grafen kannte, für möglich gehalten, daß derselbe es vorziehen werde, sich mündlich statt schriftlich gegen ihn zu erklären: aber er hatte erwartet, daß er in diesem, ihm nicht erwünschten Falle doch mindestens seine Ankunft melden werde, und sich vorgenommen, ihm dann entgegenzufahren, die Unterredung am dritten Orte abzumachen, und je nach ihrem Erfolge, schonend für beide Theile die weiteren Schritte zu thun. Daß St. Brezan sich gleich nach Empfang seines Briefes auf den Weg machen, daß er zwölf Stunden früher auf dem Gute eintreffen werde, als die Meldung seines Kommens, daß er Helenen im Dorfe begegnen, die Ohnmächtige in seinem Wagen als seine Braut in's Schloß geleiten werde, das war ein Zusammentreffen von Umständen, welches auch der Scharfsinnigste nicht vorauszusehen vermochte. Die unbefangene Weise, mit welcher der Graf sich einführte, sein scherzendes: »Ich hoffe, daß Sie mich nicht auch für einen Usurpator halten, mein theurer Freund! weil ich so unerwartet gekommen bin, die Rechte zu vertheidigen, welche Ihre Freundschaft und Helenens Vertrauen mir gegeben haben!« mißfielen dem Baron. Er fand sie leichtsinnig. Aber dem Gastfreunde, der sein Haus betreten hatte, dies auszusprechen, hielt seine Achtung vor dem Gastrecht ihn zurück, und er begnügte sich, ihm zu erwiedern: »Sie sind mir dreifach willkommen, lieber Graf! wenn es uns gelingt, uns zu verständigen!«

»Das wird mit wenig Worten leicht gethan sein!« versicherte St. Brezan. »Sobald ich von der Güte der Frau Baronin Gebrauch gemacht und mich auf meinem Zimmer von dem Staube der Reise befreit habe, stehe ich Ihnen für die Erörterung zu Dienste, die sicher kürzer sein wird, als eine Debatte in den Kammern, denn Sie werden mir bald zugeben, daß man sich dem fait accompli zu fügen habe.«

Damit entfernte er sich und ließ die Familie in einer unbehaglichen Stimmung zurück. Die Baronin, welcher jede Miene ihres Gatten verständlich war, sah deutlich was in ihm vorging, ohne daß sie es wagte, die Art des Grafen zu vertreten oder den Vorschlag zu machen, der Baron möge, wie die Verhältnisse sich jetzt einmal gestaltet hätten, die ganze Sache auf sich beruhen lassen: denn sich durch Andere in seinen Entschlüssen bestimmt zu fühlen, war ihrem Gemahl so unerträglich, daß der geringste Versuch einer Einwirkung ihn um so fester auf der eigenen Ansicht beharren machte. Indeß in ihm selbst hatte ein Kampf begonnen. So sehr auch gerade in diesem Augenblicke sein Zutrauen gegen St. Brezan erschüttert war, so widerstrebte es seiner Ansicht von dem Schicklichen und Würdigen, jetzt dem Manne, der bereits vor den Augen der ganzen Dienerschaft die Rechte von Helenens Bräutigam behauptet hatte, feindlich entgegenzutreten und ihn, den Edelmann, durch die Auflösung der Verlobung in eine seinem Stande und seinen Verhältnissen gleich unangemessene Lage zu versetzen. Er verwünschte die Eilfertigkeit des Grafen, er verwünschte den Zufall, der seine Tochter in das Dorf geführt hatte, und ging noch verdrießlich nachdenkend in den Zimmern auf und nieder, als der Graf bereits zurückkehrte, und sich mit der Versicherung dem inzwischen hergerichteten Theetische näherte, daß er sich auf der ganzen Reise des Augenblickes gefreut habe, in dem er sich zum ersten Male als ein Glied der Familie in dem Kreise der Baronin befinden würde. Die Herzlichkeit der Mutter, die Sicherheit des Grafen waren neue drückende Fesseln für den Willen des Barons, und als St. Brezan sich dann behaglich niedersetzte und heiter sagte: »Lassen Sie uns nun, mein verehrter lieber Freund! unsere große Streitfrage friedlich schlichten!« ward diese Weise, die Dinge zu behandeln, dem Baron unerträglich.

»Ehrensachen, wie diese,« sagte er mit ablehnendem Tadel, »sind zu wichtig, um in den Bereich der Frauen gebracht zu werden. Sie werden mich verbinden, Graf! wenn Sie mich später auf mein Zimmer begleiten wollen!«

Diese Zurückweisung mußte den Grafen verletzen. Er ward plötzlich ernsthaft, aber weit entfernt, den Forderungen seines, Wirthes nachzugeben, rief er: »Im Gegentheil! es handelt sich hier um meine Rechtfertigung nicht nur vor Ihnen, sondern vor Helenen, Herr Baron! und Sie werden mir gestatten müssen, mich hier in ihrer Gegenwart über mein Handeln auszusprechen, da Sie aus demselben Veranlassung, genommen haben, mir Helenens Briefe zu entziehen, ja mir meine Braut versagen zu wollen!«

Damit rückte er näher zu Helene heran, nahm ihre Hand und fragte: »Nicht wahr, Helene? Sie haben nicht an mir gezweifelt, und Sie wünschen, daß ich mich in Ihrer Gegenwart über meine Handlungsweise erkläre?«

Helene, mehr noch als die Mutter und Cornelie gepeinigt durch diese Scene, sah den Vater an, als wolle sie seine Entscheidung fordern, der Graf aber wartete diese nicht ab. »Lassen Sie mich denn sagen, lieber Baron!« erklärte er, »daß ich Ihre Bedenken von Ihrem Standpunkte aus vollkommen begreiflich finde. Ich würde wie Sie urtheilen, ich würde ganz nach Ihrer Ansicht gehandelt haben, wären meine, unsere Verhältnisse nicht gerade wesentlich verschieden! Wäre für mich in Frankreich zulässig, was in Ihrem Vaterlande Ihnen eine gebotene Pflicht erscheint und sein mag!«

»Das gerade ist der Punkt, den ich bestreite!« rief der Baron, »die Pflicht der Ehre ist überall dieselbe.«

»Das ist sie nur bedingungsweise, werther Freund! Sie hier in Preußen, die Sie in einem absoluten Staate leben, übernehmen mit dem Huldigungseide, mit dem Beamteneide eine Pflicht und – verzeihen Sie mir den Ausdruck – eine Art von Knechtschaft!«

Der Baron fuhr auf und wollte eine Einwendung machen, der Graf ließ es nicht dazu kommen, »Ich sage eine Art von Knechtschaft,« wiederholte er, »weil es darauf ankommt, in solcher Streitfrage die Sätze auf die Spitze zu stellen. Der Diener eines absoluten Herrschers, dessen Wille, wie hier bei Ihnen in Preußen, das alleinige Gesetz ist, der Diener eines solchen Fürsten giebt mit dem Beamteneide sein eigenes Urtheil, seine Ansicht, und damit auch natürlich die Freiheit seines Handelns auf, denn er schwört sich zum Werkzeug des einzigen Willens, der im Staate Geltung hat. Diesen höchsten Willen zu tadeln, ihn nicht anzuerkennen, sich seinen Anordnungen zu widersetzen, ist für den Beamten Eidbruch und dessen habe ich mich nicht schuldig gemacht, denn solchen Eid würde ich nie geleistet haben!«

Die Züge des Barons waren immer düsterer geworden, seine Frau sah besorgt bald zu ihm, bald zu dem Grafen hinüber und erbleichte, als ihr Gemahl mit kaltem Tone fragte: »Meinen Sie mir einen Vorwurf damit zu machen, daß die Erfüllung dieses Eides mir höchste Ehrensache ist?«

»Nimmermehr!« rief der Franzose, der es fühlte, daß er zu weit gegangen war, »aber schon jetzt müssen Sie mir zugestehen, daß unsere Verhältnisse verschieden sind, daß also auch unsere Pflichten, unsere Handlungsweise verschieden sein müssen. Das absolute Königthum ist für Frankreich eine Unmöglichkeit geworden. Ob wir dies als ein Glück, als ein Unglück für das Land betrachten müssen, gilt hier gleich – die Thatsache ist da. Die Revolution hat für alle Zeit der Nation das Recht erobert, gesetzgebend und sich selbst vertretend neben dem Könige zu stehen. Frankreich ist constitutionell. Das Volk erkennt in seinem Herrscher den Schützer der Gesetze, es schwört ihm Treue als solchem, aber es giebt damit sein Recht nicht auf, über die Erhaltung der Gesetze zu wachen, sein Recht nicht auf, den König in ihrer Ausübung zu controliren, denn es steht als selbständige Macht neben dem Throne. Der Eid in einem constitutionellen Staate ist die feierliche Unterzeichnung eines Contractes, der nur Dauer haben kann, so lange beide Theile ihn erfüllen. Karl der Zehnte hat nach meiner Ueberzeugung den Contract gebrochen, er hat die Verfassung angetastet, er – –«

»Wer ist der Richter über ihn?« fragte der Baron mit dem Tone geringschätzenden Tadels.

»Die Majorität der Volksvertreter, die öffentliche Meinung!« sagte der Graf bestimmt.

»Eine öffentliche Meinung, deren Allmacht aus Millionen käuflicher Seelen und Millionen von Nullitäten besteht, die wollen Sie, Sie Graf St. Brezan! erkennen als Richter über einen legitimen Herrn?«

»Ich erkenne die öffentliche Meinung vielleicht mit Widerstreben als meinen Herrn an, aber ich erkenne sie als letzte Instanz für einen constitutionellen Staat, und wollte ich es nicht, ich müßte es thun – denn die Gewalt der öffentlichen Meinung steht als Thatsache in Frankreich vor uns da. Hätte die öffentliche Meinung sich gegen mich in der Verwaltung meines Amtes ausgesprochen, so hätte ich es verlassen müssen. Der König selbst würde gezwungen worden sein, mich zu entfernen, wäre er persönlich auch von meiner Unschuld überzeugt gewesen. Jetzt forderte die öffentliche Meinung seine Entfernung – und wie er sich dieser Gewalt fügen müßte, füge ich mich ihr, ganz abgesehen davon, daß überhaupt von Fügsamkeit nicht mehr die Rede sein kann vor der vollendeten Thatsache. Selbst der Arm eines Titanen hält den Gang der Weltgeschichte nicht zurück in ihrem Laufe. Folgerechte Ereignisse haben Napoleon zerschmettert, Ludwig den Achtzehnten erhoben, Karl den Zehnten gestürzt, dem Herzoge von Orleans die Königswürde in die Hände geworfen auf wie lange, das wird die Zeit uns lehren, das werden seine Handlungen bedingen. Jetzt verlangte das Volk, jetzt verlangte Frankreich nach dem Bürgerkönige Louis Philipp, die Majorität ist zufrieden gestellt durch ihn, und gegen diese sich aufzulehnen, das allein ist Meineid in einem constitutionellen Staate. Den Dienst in solcher Krisis zu verlassen, wäre Mangel an sich selbstverläugnender Vaterlandsliebe, wäre fruchtlos und unklug gewesen gegenüber dem fait accompli

Er hatte mit Ernst und mit großer Wärme gesprochen, nun wendete er sich Helenen zu und sagte plötzlich mit ganz verändertem Tone: »Nicht wahr, theure Helene! Sie stimmen mir bei, und die Lehre von dem fait accompli wird Ihnen einleuchten, denn Sie giebt Ihnen unwiderstehliche Waffen gegen mich in Händen. Vor dem fait accompli werden Sie mich immer fügsam finden, in der Ehe wie im Staate, und da Sie mir fortan alle Frauen der Welt ersetzen, so wird meine schöne Helene auch ewig der Majorität mir gegenüber sicher sein!«

Er hatte, so mächtig er des Deutschen war, die ganze Unterredung französisch geführt. Das gab ihm, ob gesucht ob zufällig, einen bedeutenden Vortheil über seinen Gegner, denn die fertigen Phrasen, welche das öffentliche, politische Leben der Franzosen erzeugt hatte, boten sich ihm willig dar, und die anmuthige Galanterie, mit der er von der Discussion sich schnell wieder zu seiner Verlobten zurückwendete, machte auf diese und auf die anderen Frauen einen angenehmen Eindruck. Zum ersten Male gefiel der Graf Helenen, zum ersten Male faßte sie Zutrauen zu ihm, weil seine biegsame Weltanschauung ihr neben der Starrheit ihres Vaters mild und versöhnlich vorkam.

Sie reichte ihm die Hand, der Graf küßte dieselbe, und während der Baron sich anschickte, mit den edeln, aber schweren Waffen seines legitimen Glaubens das Unrecht darzuthun, welches in der Anerkennung des fait accompli liege, eben weil es ein solches sei, sah er sich gezwungen, hier in seinem Privatleben, in dem ihm Nächsten, Theuersten, in seiner Familie, die Gewalt der erfüllten, bestehenden Thatsache gegen seine Ansicht gelten zu lassen. Er fühlte, er habe jetzt noch die Möglichkeit seine Tochter dem Grafen, dessen Gesinnung ihm nicht zusagte, zu verweigern, er konnte sogar auf ihren Gehorsam, auf die mehr oder weniger schnelle Fügsamkeit seiner Gattin rechnen. Niemand konnte ihn tadeln, er achtete auch fremden Tadel nicht, wo es nach einer Ueberzeugung zu entscheiden galt – und doch folgte er dieser Ueberzeugung nicht, weil die Nachtheile, die Unbequemlichkeiten, welche solches Handeln für den Augenblick herbeigeführt haben würden, sich ihm zu deutlich aufdrängten. Der starre Vertreter unwandelbarer Grundsätze fügte sich zum ersten Male der ihm so verächtlichen Lehre von der Gewalt der erfüllten Thatsache, aber er that es mit Schmerz.

»Frankreich hat sich nicht Glück zu wünschen,« sagte er, »daß es zu solchen Doctrinen seine Zuflucht nehmen muß, sich vor der Wiederkehr der Anarchie zu wahren, und ich beklage Sie, ich beklage jeden Edelmann, der gezwungen ist, sie zu den seinigen zu machen. Ich freue mich, daß unserem Volke eine andere Straße vorgezeichnet ist, denn ich für mein Theil würde mich durch Nichts in der Welt bewegen lassen, einem constitutionellen Staate zu dienen, und mich und meine Handlungen dem bestechlich grillenhaften, millionenköpfigen Phantome zu unterwerfen, das man die öffentliche Meinung nennt. – Die öffentliche Meinung!« wiederholte er nochmals spöttisch mit den Achseln zuckend – und gegen Helene gewendet, fügte er hinzu: »Diese öffentliche Meinung wird also künftig auch Dein Richter werden! Halte Dich aber lieber an die Zufriedenheit des Grafen, das wird Dir und ihm in allen Fällen das Ersprießlichere sein!«

Die Tochter küßte seine Hand, die beiden anderen Frauen athmeten auf, als wären sie einer Angst entledigt, und der Graf, dem es überall mehr auf die Erreichung seiner Absichten, als auf den Sieg in einem Prinzipienstreite ankam, suchte mit der geselligen Leichtigkeit, die ihm zu Gebote stand, sich und die Anderen über das Unbehagen fortzuhelfen, das die ganze Besprechung in ihnen erregt hatte. Ihm selbst aber war der Vorgang bei Helenen von dem größten Nutzen gewesen. Die Eile, mit der er gekommen war, sich ihren Besitz zu retten, schmeichelte ihr, trotz der Freude mit der sie noch vor wenig Stunden an die Wiedererlangung ihrer Freiheit gedacht, und weil sie mit dem Grafen von dem kalten Empfange gelitten hatte, den ihr Vater ihm bereitet, war, sie, ohne daß sie es wußte, auf die Seite St. Brezan's getreten, so daß sie seinen Sieg als den ihrigen betrachtete.

Der erste Augenblick ruhiger Ueberlegung hatte es ihr klar gemacht, daß sie ihren Herzenswünschen jetzt wie früher zu entsagen habe. Die ersten Umarmungen, die ersten Küsse des Grafen hatten ihr mit dem Erschrecken über ihre Unfreiheit doch unwiderleglich das Gefühl der Abhängigkeit von ihm und seinem Willen aufgedrungen.

Das verbreitete den Ausdruck einer Weichheit, einer Hülflosigkeit über ihr Wesen, der dem Grafen sehr reizend war. So abhängig von fremdem Willen, so unberührt vom Leben hatte er sich seine Gattin stets gewünscht. Diese Strenge häuslicher Zucht bei vollendeter Bildung für die große Welt, hatte er stets als die Bürgschaft seines Glückes angesehen. Von einer Liebe in dem Sinne der Jugend, von jener Leidenschaft, wie sie die Schönheit heißen Sinnen abgewinnt, konnte bei dem Grafen nicht die Rede sein, der alle Regungen des Herzens, alle Genüsse des Lebens, wenn auch nicht erschöpft, so doch in reichem Maaße gekostet hatte. Er verheirathete sich, weil er einer Hausfrau bedurfte, um sich eine angenehme Ruhe, seinem Hause eine liebenswürdige Wirthin zu geben. Helenens Wesen hatte ihn angezogen, ihre Schönheit erfreute ihn, er wünschte sich Glück zu ihrem künftigen Besitze, er hatte zu seinen Freunden mit selbstgefälligem Lobe von ihren Vorzügen gesprochen, und hatte sein Herz auch nicht eben schwer davon gelitten, diese Heirath scheitern zu sehen, so wäre ein solches Ereigniß gerade, für das Selbstgefühl des ältern Mannes ein schwer zu überwindender Verlust gewesen. Diese Rücksicht hatte seine eilige Reise bestimmt. Sie ließ ihn den kalten Empfang, den Tadel des Barons nicht achten, und die Eitelkeit, die so oft als Stellvertreter der Tugend die Handlungen der Menschen bestimmt, ersetzte in diesem Falle, was der Liebe des Grafen an Wärme fehlte. Sie machte Helenen an eine Leidenschaft glauben, die zu empfinden ihr Bräutigam seit langer Zeit verlernt hatte.

Die politischen Verhältnisse, welche dem Grafen die Pflicht auferlegten, so bald als möglich wieder auf seinem Posten einzutreffen, die Ueberzeugung der Baronin, daß es für den Seelenzustand ihrer Tochter eine Erleichterung sei, ihr Schicksal möglichst schnell für immer zu entscheiden, und die nicht beseitigte Verstimmung des Barons gegen seinen künftigen Schwiegersohn, veranlaßten, daß man den Beschluß faßte, die Trauung schon nach wenigen Tagen auf dem Gute vollziehen zu lassen. Erst nach derselben wollte man in die Stadt gehen, um in einem Abschiedsfeste Helenens Bekannte noch einmal zu vereinen, ehe sie das Vaterhaus verließ. Gleich nach der Hochzeit sollte dann auch Erich seine Reise antreten, und beide Brüder wurden jetzt schleunig auf das Gut hinausberufen, damit die Familie noch einmal vollzählig beisammen wäre, ehe die Lebenswege der Geschwister sich zu trennen begannen.

Die Eltern sowohl als die Kinder fühlten, daß sie an einem Wendepunkte ihres bisherigen Daseins ständen, und wie man gern noch einmal zurückblickt auf eine uns liebgewordene Stätte, ehe man von ihr scheidet, so sahen Alle mit wehmüthiger und dankbarer Liebe auf die Vergangenheit zurück. Erst jetzt, da man sich trennen sollte, glaubte man vollkommen zu verstehen, was man an einander besessen hatte, erst jetzt meinte man recht zu würdigen, was man an Glück und Freude hier genossen. Man konnte es nicht müde werden, jeden Tummelplatz der kindlichen Spiele noch einmal zu besuchen, jeden Baum, jeden Strauch noch einmal zu sehen, den man gepflanzt oder unter dessen Schatten die fröhlichen Familienfeste begangen worden waren, und mitten in diesen fröhlichen Rückerinnerungen, brach dann der Schmerz über das nahe Scheiden mit erschütternder Heftigkeit sich Bahn.

So natürlich der Graf diese Zustände fand, so ermüdend wurden sie ihm bald. Ihn knüpfte Nichts an jene Vergangenheit, er konnte sich nicht mehr in die schuldlose Wollust solcher kleinen Leiden und Freuden zurückversetzen, aber er mochte sein Unbehagen daran nicht äußern, um es Helenen nicht fühlbar werden zu lassen, wie groß die Kluft sei, welche seine Weltanschauung von der ihrigen, sein und Helenens Alter trennte. Mit richtigem Takte überließ er sie sich selbst. Er verstand die Kunst zurückzutreten, um sicherer vorschreiten zu können, er verstand sich zu fügen im Privatleben wie in der Politik, sobald es seinen Zwecken diente.

Gegen seine Voraussetzung fand sich Georg zu dem Grafen hingezogen. Er hatte erwartet, in ihm einem Manne von den strengen Grundsätzen seines Vaters zu begegnen und sich den Grafen kalt, höfisch geschmeidig und abweisend gedacht. Nun lernte er mit Ueberraschung in seinem Schwager das gerade Gegentheil dieser Eigenschaften kennen. Weit davon entfernt, den Unterschied der Jahre zwischen ihnen geltend zu machen, oder, wie der Baron es that, von jüngeren Männern ehrerbietige Unterordnung zu verlangen, stellte er seine Schwager als gleichberechtigt neben sich. Er ritt und jagte mit ihnen, hatte Theilnahme für alle ihre jugendlichen Interessen und ward für Georg schon nach wenig Stunden ein Gegenstand der Zuneigung, weil alle Erzählungen des Grafen aus dem eigenen Leben, alle Mittheilungen aus den Kreisen, in denen er sich bewegte, das Gepräge einer Lebensanschauung trugen, nach deren Freiheit der junge Offizier bisher vergebens geschmachtet hatte. Wie viel Antheil an diesem Auftreten des Grafen sein Bestreben hatte, Helenen nicht als älterer Mann zu erscheinen, das berechnete Georg nicht, der es sich bald zum Vorwurf machte, ihn falsch beurtheilt und ihm in seinen Aeußerungen gegen Friedrich und Larssen Unrecht gethan zu haben.

Auch währte es nicht lange, bis er dieses dem Grafen selbst erklärte. Es schien ihm eine Art von Pflichterfüllung zu sein, eine Gerechtigkeit, die er ihm schuldete, eine Buße, welche er sich auferlegte. »Ich habe noch etwas gegen Sie auf dem Herzen,« sagte er, als sie eines Abends aus dem Billardzimmer in das Freie traten, »das ich Ihnen endlich aussprechen muß.«

»Kann ich Ihnen irgend dienlich sein, lieber Georg!« entgegnete der Graf, »so sagen Sie es mir. Ich weiß von Helene, daß Sie im Ganzen nicht vollkommen befriedigt sind durch manche Ihrer Verhältnisse, und kann ich – –«

»Nein! davon ist nicht die Rede,« fiel ihm der Lieutenant in das Wort, »und gerade in diesem Augenblicke merke ich doch zum ersten Male an Ihrem ›daß Sie im Ganzen nicht vollkommen befriedigt sind durch manche Ihrer Verhältnisse,‹ daß Sie doch ein Diplomat sind. Um es denn kurz zu machen, ich hatte ein Vorurtheil, einen wahren Haß gegen Sie!«

»Das ist sonderbar, da Sie mich nicht kannten!« wendete der Graf lächelnd ein, und es lag in seinem Tone Etwas, das Georg verlegen machte, weil es urplötzlich eine Schranke zwischen ihnen errichten zu wollen schien. Er fühlte, daß er eine Unschicklichkeit begangen habe, und seine Befangenheit zu überkommen, wollte er sich mit einem noch entschiedeneren Worte befreien, ohne zu bedenken, daß wir den Knoten nur fester schlingen, den wir gewaltsam zu lösen trachten. »Die Diplomatie ist mir immer schrecklich zuwider gewesen,« rief er, »weil das ewige Unterhandeln, Ausgleichen und Vermitteln den Charakter ruiniren. Man soll gut gut, und schlecht schlecht nennen. Daß man gerade drauf losgeht, ist das Beste am Soldatenleben. Wer das nicht thut, der bleibt kein ehrlicher Kerl, und das ist doch die Hauptsache!«

»Ehrlich sind Sie freilich, mein lieber Georg!« entgegnete ihm der Graf, indem er ihm auf die Schulter klopfte, »was Sie aber mit solcher Ehrlichkeit erreichen werden, das ist eine andere Frage!«

Der junge Offizier empfand den Tadel. »Ich sage eben, was ich denke,« meinte er, »es mag nicht weltklug sein, – aber – –«

»Es ist auch nicht die Klugheit des Soldaten!« unterbrach ihn St. Brezan, »denn wo Sie im Felde keinen Frontangriff riskiren können, da müssen auch Sie, trotz Ihrer Schwärmerei für Ehrlichkeit, den Feind umgehen und ihm in die Flanke fallen oder ihn im Rücken attakiren. Es kommt nicht immer darauf an, eine Parade von Grundsätzen zu machen, sondern zu parveniren; und nehmen Sie, so verhaßt Ihnen die Diplomatie auch sein mag, von einem Diplomaten die bekannte Lehre an, daß en voyage l'essentiel est d'arriver

Es entstand eine Pause, die der Graf absichtlich verlängerte. Er wollte dem jungen Manne seine Unschicklichkeit fühlbar werden lassen, indeß er mochte niemals eine gewonnene günstige Meinung einbüßen, und unberührt durch die jugendliche Uebereilung des Lieutenants, war er es, der die Unterhaltung wieder aufnahm.

»Es ist Schade,« sagte er, »daß Sie nicht in Frankreich leben, Ihr Streben nach Freiheit – –«

»Ja! das würde dort Genügen finden!« unterbrach ihn Georg.

»Das würde sich beschränken lernen,« bedeutete der Graf, »in einem Lande, in welchem Jedermann Freiheit für sich selbst beansprucht. Die Freiheit, welche Sie zu wünschen scheinen, finden Sie eher in Rußland als bei uns!«

Der Lieutenant sah ihn betroffen an, der Graf merkte, daß der junge Mann ihn nicht verstanden hatte. »Eine Kanonenkugel, die grade aus ihren Weg verfolgt, kann man eher in einer öden Steppe dulden, als in den Straßen einer menschenvollen Stadt,« erklärte er. »Wollen Sie sich frei fühlen lernen, so bewegen Sie sich so vorsichtig in der Menge, daß Sie auf Ihrem Wege vorwärts kommen, ohne an die neben Ihnen Gehenden zu stoßen. Kraft und Rücksichtslosigkeit mögen Freiheit erkämpfen in der Barbarei, in einem civilisirten Staate machen nur Fügsamkeit und Schonung gegen Andere uns persönlich frei!«

»So werde ich also unter die Barbaren gehen oder auf Freiheit verzichten müssen!« rief der junge Offizier.

»Vielleicht werden Sie beides thun!« meinte St. Brezan sehr ruhig.

Georg war ganz ernst geworden und sah nachdenkend vor sich nieder. Da nahm der Graf seinen Arm und mit der scherzenden Anmuth, die ihm zu Gebote stand, sagte er, während sie sich dem Hause wieder näherten: »Wenn Sie sich in der Barbarei genug gethan haben werden, lieber Freund, so werden Sie denkbarer Weise einmal einen Vermittler für Ihre Rückkehr in die Civilisation gebrauchen. Denken Sie dann an mich. Vielleicht ist Ihnen dann auch die Diplomatie nicht so verhaßt, die zwischen Gut und Böse noch ein Drittes kennt, und die zu toleriren und zu unterhandeln weiß. Wie wollte die Jugend fertig werden mit dem Leben, wenn die Gesellschaft nicht mit sich unterhandeln ließe?«

Die letzte Bemerkung, die ganze Art und Weise seines Schwagers bestachen Georg. Während er im Grunde deutlich einsah, wie fern die Ansichten des Grafen seinen eigenen Meinungen und Wünschen standen, wuchs sein Zutrauen zu demselben mehr und mehr. Immer begieriger nahm er die Bilder eines heitern, üppigen Lebensgenusses in sich auf, dessen flimmernde Farben, dessen verlockende Reize durchblicken zu lassen der Graf ab und zu, selbst in den Unterhaltungen mit den Frauen, nicht verschmähte, und die, wie buntstrahlende Arabesken auf dunklem Hintergrunde, um so mächtiger auf die jugendlichen Hörer wirkten, je weniger sie dafür Ebenbilder in ihrem bisherigen Dasein zu finden vermochten.

Ohne daß sie es merkten, hatten die Mädchen seit der Ankunft St. Brezan's von Liebeshändeln, von Ehescheidungen, von Abenteuern aller Art in einer Weise sprechen hören, die ihnen vollkommen fremd war, und die sie auch an ihm früher nicht gekannt hatten. Sie thaten plötzlich Blicke in eine Welt, in der die Leidenschaften dem Gesetze Hohn sprachen oder es geschickt zu umgehen wußten, ohne daß das Gesetz oder die öffentliche Meinung dafür Rache nahmen; aber diese Blicke waren so kurz, so flüchtig, die erwähnten Gegenstände so geschickt verschleiert, daß kein Bild sich ihnen störend oder verletzend aufdringen konnte. Sie waren vor dem ersten Schauen befremdet zurückgewichen, hatten die Augen davon abgewendet und gelauscht, ob die Mutter, ob der Vater solche Mittheilungen, die sonst in ihrem Hause nie geduldet worden waren, nicht als Ungehörigkeiten tadelnd zurückweisen würden. Die leichte Art des Grafen, die Natürlichkeit, mit der er jene Verhältnisse als alltäglicher Erscheinungen flüchtig erwähnte, machten jedoch daß er meist lange darüber fortgeschlüpft war, ehe eine Entgegnung möglich wurde; und äußerten die Eltern sich darüber, so geschah es nur in einer Weise, die die Thatsache anerkannte und sie mehr beklagte als verdammte. Ob dies aus Rücksicht für den Grafen, ob aus irgend einem andern Grunde so geschah, machten die erstaunten Mädchen sich nicht klar. Sie fühlten nur, es sei eine Schranke niedergerissen zwischen ihnen und der Welt. Die Eltern, die Brüder selbst, hätten vor ihnen bisher eine absichtliche Zurückhaltung beobachtet. Diese Alle kannten andere Seiten des Lebens, Alle schienen die Reize derselben zuzugeben und Niemand tadelte sie so strenge, als man bisher die geringste Abweichung von den Regeln einer als allein berechtigt aufgestellten Sitte, in ihrer Gegenwart verdammt hatte.

St. Brezan und die Zukunft, die er ihr zu bieten hatte, gewannen dadurch einen geheimnißvollen Reiz für seine Braut. Ihre unentweihte Phantasie ward aufgeregt. Es war ihr, als umfange sie der berauschende Duft fremder Wohlgerüche, als locke sie ein auftauchender Lichtglanz, das leise Heranklingen einer Musik, die uns geheimnisvoll ladend vorwärtsziehen, wenn wir in unseren Träumen die Schwelle eines mystischen Tempels betreten haben, und wie von einem Zauber befangen, der ihr den Blick in die Vergangenheit verhüllte, sah sie ihrem Hochzeitstage entgegen.

Am Vorabende desselben, als man die letzten Gerätschaften ihres Schreibtisches, die Portraits und jene tausend Kleinigkeiten verpackte, die ihr als liebe Erinnerungen in die neue Heimath folgen sollten, fielen ihre Augen auf ein Heft Gedichte, die ihr Friedrich einst gegeben und die sie noch immer zurückbehalten hatte, um ein Andenken an ihn zu besitzen. Sie schlug es auf, es waren einfach gefühlte Lieder, wie sein stilles Knabenleben sie erzeugt hatte, aber sie erschienen ihr viel reiner, viel schöner, als je zuvor. Es war ihr, als läge die Zeit jenes friedlichen Empfindens, jenes begnügten Genusses an der Natur, jenes ahnungsvolle Hoffen auf Freundschaft und auf Liebe jahreweit hinter ihr. Ein Gefühl von Bedauern gegen sich und Friedrich, eine unbestimmte Reue und Sehnsucht nach der Vergangenheit kamen über sie. Sie konnte es nicht ertragen diese Blätter durchzulesen und doch zauderte sie, sich von ihnen zu trennen. Endlich nahm sie ein Band, das sie viel getragen hatte, schlang es um das Heft, schrieb das Datum darauf, versiegelte es, und als sie es dann Cornelien gab, mit der Bitte, es Friedrich nach ihrer Abreise zuzustellen, stürzten ihr die Thränen aus den Augen und sie entfernte sich schnell.

Diesem Schmerze gegenüber fühlte sie die Nothwendigkeit, sich gegen den Grafen zu erklären, ihm zu sagen, wie schwer ihr das Opfer ihrer Neigung geworden sei und sich vertrauend an seine Brust zu legen, denn es war ihr, als bedürfe sie seines Beistandes gegen sich selbst. Schnell, damit der Muth ihr nicht entschwinde, eilte sie die Treppe hinab in den Salon, an dessen Fenster sie ihn kurz vorher mit dem Lesen einer Zeitung beschäftigt gesehen hatte, so daß sie hoffen durfte, ihn allein zu treffen. Ihre Rede, des Grafen Antwort, die ganze Scene schwebten ihr in fester Vorstellung vor der Seele, als sie aber die Thüre öffnete, war St. Brezan nicht mehr allein. Die Baronin saß auf dem Sopha und fragte nach einer jungen Dame, die sie in Karlsbad gemeinsam kennen gelernt und die sich seitdem verheirathet hatte.

»Die Ehe war bald nach der Hochzeit nahe daran unglücklich zu werden!« sagte der Graf.

»Wie das?« fragte die Baronin.

»O, durch eine falsche Sentimentalität von beiden Theilen. Die kleine Caroline hatte eine Herzensgeschichte gehabt, eine Liebe, wie jedes Mädchen sie mit siebzehn Jahren für einen armen Cousin oder für irgend einen andern jungen Mann ohne Aussichten hegen zu müssen scheint, damit das Herz klopfen lernt. Diese Liebe hielt sie sehr hoch, was ihrem Alter besser anstand, als der Erfahrung ihres Mannes, der jenes schuldlose Gefühl wie eine ernste Sache ansah. Sie machte Confidenzen, ihr Mann verlangte Schwüre, und die Sache ward durch Mißverstehen zu einem Drama erhoben, während sie kaum den Stoff zu einem Vaudeville darbieten konnte. Indeß es ist Alles ausgeglichen und Caroline ist zufrieden, wie mir scheint!«

Die Baronin hatte Helene flüchtig angeblickt, aber das hatte genügt, die Wangen des Mädchens mit dunkler Gluth zu überziehen. Ihr Entschluß, sich dem Bräutigam vertrauend mitzutheilen, war zerstört. Sie schämte sich, ohne zu wissen weshalb, und es dünkte sie leichter, das Gefühl einer Unredlichkeit in sich zu tragen, als von ihrem künftigen Gatten belächelt zu sehen, was ihr eine heilige Erinnerung war. Aber zum ersten Male beklagte sie es tief, daß der Graf nicht jünger sei, daß er nicht mehr zu empfinden, zu denken vermöge, wie sie selbst.

Endlich kam der Tag der Trauung heran. Im weißen bräutlichen Gewande, dessen Falten schwer herniederflossen, den Myrthenkranz auf den dunkeln Locken, so führte die Mutter Helene in das Zimmer des Barons. Erich befand sich bereits bei ihm. Er sollte bald nach Helenens Hochzeit seine Reise antreten, und der Vater hatte gewünscht, die beiden Kinder, welche fast zu gleicher Zeit sein Haus verlassen sollten, noch einmal in besonderer Unterredung zu sprechen, ehe sie schieden.

Die Fenster des Gemaches waren geöffnet, die letzten Strahlen der Sonne fielen hinein. Ein starker Blumengeruch drang aus dem Garten empor, in den Blättern des Weinlaubes, das seine Ranken bis in die Fenster hineinbog, zwitscherten die Vögel. Sonst war Alles still, und die schöne Einfachheit, mit der das Zimmer ausgestattet war, gaben ihm in dieser Ruhe das Ansehen einer Kirche, während es zugleich einen würdigen Hintergrund bildete für die edle Gestalt seines Besitzers, der in schwarzer Kleidung, die Brust mit Ordenzeichen bedeckt, der Tochter entgegentrat, ihre beiden Hände erfaßte und sie schweigend eine Weile mit liebevollem Ernst betrachtete. Dann wendete er sich ab, umarmte ihre Mutter und auf die beiden Kinder zeigend sagte er: »Du hast mir treulich geholfen, sie so weit zu bringen, ich danke Dir!

Die Baronin umarmte ihn und küßte dann seine Hand, er ließ es ruhig geschehen. »Noch sind sie unser!« sprach er, »aber nur noch diese Stunde! Noch sind wir für sie verantwortlich! Welch ein Trost liegt darin, verantwortlich zu sein für die Menschen, die man liebt! Welch ein Trost, welch eine Erhebung! und ich darf es mir und Dir in dieser Stunde sagen, wir haben die Jugend unserer Kinder zu einer glücklichen gemacht. Nichts Unedles hat sie berührt, kein übles Beispiel ist ihnen gegeben worden. Mit edlem Namen, mit reiner Ehre und mit reinem Herzen entlassen wir sie bei ihrem Eintritt in die Welt.«

Die Mutter weinte, Helene war vor dem Vater niedergekniet, Erich ihrem Beispiele gefolgt. Da legte er seine Hände auf ihre Häupter, und mit bebender Stimme sagte er leise: »Sei das Gedächtniß an Eure Eltern Eure Schutzwehr gegen jedes Unrecht, und wo mein Auge Euch nicht mehr erreichen, meine Hand Euch nicht mehr leiten kann, da sei Gott mit Euch!«

Die Geschwister richteten sich empor, umarmten die Eltern, umarmten einander. Es war still im Zimmer und der Friede der äußeren Natur erhöhte die Feier dieses Augenblickes.

Als die Erschütterung ausgeklungen hatte, setzte sich der Baron auf seinen Divan und nöthigte die Anderen ebenfalls Platz zu nehmen. »Ihr werdet nun Beide in wenig Tagen in eine Welt gehen,« sagte er, »in der andere Ansichten, andere Begriffe, ja eine andere Ehre herrschen, als die, nach deren Grundsätzen ich Euch erzog. Der Ehrenbegriff der sogenannten großen Welt ist locker und dehnbar. Laßt ihn nie den Euren werden. Wortbruch, Treulosigkeit, Gesinnungslosigkeit, Leichtsinn, Coketterie, ja jeder Verrath lassen sich verbergen unter dem Deckmantel jener Gesellschaftsehre, jener Cavalierehre, die sich zur wahren Ehre eines Edelmannes verhält, wie der Paradedegen eines Hofmannes zu der festen Waffe, die unser Freund ist in der Stunde der Gefahr, wie fremdes Lob zu unserm eigenen Bewußtsein. Was Ihr nicht vertreten könntet hier vor mir zu jeder Stunde, das ist sündhaft und ehrlos, und wenn alle Welt das Gleiche thäte, und wenn alle Welt Euch darum lobte. Ich, der ich Euch erzog, der Euer Gewissen bildete, ich bin und bleibe Euer Richter, denn mir schuldet Ihr den Namen, den Ihr als Eure edelste Mitgift hinaus nehmt in das Leben, mir seid Ihr dafür verantwortlich. Erhaltet ihn rein, er ist der meine! Gebt mir die Hand darauf!«

Helene that es schweigend. Erich aber stand auf und seine Rechte in die des Vaters legend, sagte er: »Ich schwöre Dir, den Namen rein zu erhalten, der mein Stolz ist und den ich Dir als mein höchstes Gut verdanke! Ich schwöre Dir's!«

»So werden Deine Kinder einst Dich segnen, wie Dein Dank mich segnet!« entgegnete der Baron mit hoch erhobenem Haupte, umarmte seine Kinder nochmals, und hatte sie freigesprochen zur Wanderschaft in das Leben.


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