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Achtes Kapitel.

Regina hatte die Vaterstadt verlassen, der alte Unteroffizier von der in Berlin neu errichteten Häuslichkeit geschrieben und die Meisterin sich schnell gewöhnt, ihr Pflegekind selbst an den Waschtagen zu entbehren. Sie dachte der eben erst geschiedenen Nachbarn, wie man an Dinge denkt, welche eine lange Vergangenheit von uns trennt, mit Theilnahme zwar, aber ohne sie wesentlich zu vermissen. Tägliche, angestrengte Arbeit ist ein Wunderbalsam gegen jene Leiden der Sehnsucht, welche der Unbeschäftigte mit kränkelnder Wollust in sich nährt. Wie sollte auch der Arme leben können, käme die nothwendige Arbeit ihm nicht zu Hülfe, brächte sie nicht seinen Nächten Schlaf, seinen Tagen Vergessenheit, und mit der Vergessenheit die Gesundheit der Seele wieder, denn unfruchtbare Sehnsucht ist eine Krankheit der menschlichen Natur. Der gesunde Mensch strebt kräftig zu erreichen, was er bedarf, und verzichtet ebenso fest auf das Unerreichbare. Er will vor allen Dingen sich selbst ganz und ungetheilt besitzen – und der Arbeiter muß das wollen, bewußt oder unbewußt, weil er seiner selbst bedarf.

Drüben in dem Hause, das der Unteroffizier so viele Jahre inne gehabt, lebten neue Nachbarn und gaben Frau Brand Anlaß zu vielfachem Betrachten ihres Thuns und Treibens. Der Meister kümmerte sich nicht darum, er war zufrieden, daß er Arbeit hatte, und noch zufriedener mit Friedrich; denn hatte der Vater gefürchtet, daß er den Büchern untreu werden, daß er in ein wüstes Vergnügungsleben sich versenken, daß er Zeit, Geld und Gesundheit daran setzen werde, so gewahrte er von alle dem das Gegentheil. Der junge Entrepreneur beschäftigte sich mit den Bällen nur so viel, als seine Pflicht es forderte, zog sich aber mehr und mehr von dem Umgange mit seinen Commilitonen zurück und verlebte fast alle seine Mußestunden mit Erich und dem Doctor, zu dem er seit jenem ersten Abende im Heidenbruck'schen Hause in ein näheres Verhältniß getreten war.

Beide Verbindungen gewannen bald einen entschiedenen Einfluß auf ihn und seine Bestrebungen. Erschloß ihm der Umgang mit Erich und dessen Familie den Blick für allgemeine Bildung, machte er ihn gerecht gegen das Gute, welches die bevorzugten Stände in ihrer glücklichen Ruhe in sich zu entwickeln vermochten, so erhielt der Doctor in ihm das Gefühl rege, daß die Möglichkeit ähnlicher Bildung für Alle zu erleichtern, gerade die Aufgabe Derjenigen sei, welche aus dem Volke hervorgegangen wären, und wie Friedrich's war das des Doctors Fall.

Als Jude geboren, hatte der Doctor aus seinen ersten Lebensjahren die Erinnerung an eine drückende Armuth in seinem Gedächtnisse bewahrt, obschon der Fleiß seiner Eltern es später zu Vermögen gebracht hatte, und dem Sohne alle Mittel zur Ausbildung seines Geistes gegeben worden waren. Selbst mit jener eisernen Ausdauer, mit jener unermüdlich thätigen Geduld begabt, die einen Hauptzug in dem Wesen des jüdischen Volksstammes bilden, hatte Bernhard, der Sorge um das tägliche Brod enthoben, sich früh dem Leiden der Menschen zugewendet, und leiblicher und geistiger Noth zu steuern gestrebt, wo sie ihm begegnet waren. Er kannte die Erste aus den Tagen seiner Kindheit, er kannte die Andere durch die Unterdrückung seines Volkes, durch die Kränkungen und Behinderungen, welche er als Sohn dieses Volkes auf seinem Lebenswege erfahren hatte. Kaum in das Mannesalter getreten, war er der unermüdlichste Arzt der Armen, der rastlose Arbeiter für die Emancipation der Juden, und durch Ueberzeugung und Erfahrung ein Menschenfreund, ein freier Mensch geworden. Ohne an sich und seinen persönlichen Vortheil zu denken, gemeinnützig thätig, errang er dadurch die größten Vortheile für sich selbst. Er war gesucht als Arzt, geachtet als Mensch, und hatte für seine Person von der Gesellschaft die Emancipation erlangt, welche der Staat damals den Juden noch versagte. Vor Allem schätzte man ihn im Heidenbruck'schen Hause, dessen Arzt er war, und sein Urtheil übte einen wesentlichen Einfluß auf die Ansichten fast aller Familienglieder aus.

Es war ein paar Tage vor dem Weihnachtsfeste, als Erich und Friedrich eines Abends an die Thüre des Doctors klopften, den sie, wie fast immer, einsam und mit seinen Arbeiten beschäftigt fanden. Dennoch nöthigte er sie angelegentlich zum Bleiben. Er schien ungewöhnlich zur Mittheilung geneigt und schloß seine Aufforderung, ihren Besuch zu verlängern, mit den Worten: »Drei machen ein Collegium, und Ihr Heiland hat ja auch erklärt, daß, wo Drei beisammen wären, er unter ihnen sei! So lassen Sie uns denn beisammen sein und plaudern, das wird ein gottgefällig Unternehmen werden!«

»Ich bewundere es an Ihnen, Herr Doctor!« äußerte Friedrich, während Bernhard seinen Gästen Cigarren anbot und Wein bringen ließ, »daß Sie in jedem Augenblicke so bereit sind, Ihre Arbeit aufzugeben, wenn ein geselliger Anspruch an Sie gemacht wird.«

»Und ist denn für Andere leben, ist denn überhaupt als Mensch mit dem Menschen sprechen, nicht auch eine fördersame, nützliche Arbeit?« fragte Bernhard.

»Für uns in diesem Falle gewiß!« bemerkte Erich, dem solche Höflichkeit der Form durch seine Erziehung zur Natur geworden war.

Der Doctor lächelte. »Eure Höflichkeit erfreut mich sehr, ich bin ein Mensch wie And're mehr!« rief er, den Wein einschenkend, und der junge Edelmann selbst fühlte, daß die allgemeinen Redeformen, wie alles Allgemeine, im besonderen Falle komisch sein können. Auch sprach der Doctor diese Bemerkung offen gegen ihn mit dem Zusatze aus: er möge aus diesem kleinen Beispiele einen Schluß ziehen für die Unterredung, welche Bernhard neulich mit dem Baron über allgemeine Regeln, feste Grundsätze und bestehende Ordnungen gehabt habe, und in welcher der Baron dem Doctor den Vorwurf gemacht, ein Feind alles Bestehenden zu sein.

»Das sind Sie auch wirklich,« rief Erich, »aber die Aerzte sind von jeher die schlimmsten Revolutionäre gewesen!«

»Was nennen Sie revolutionär, lieber Erich? Das ist ein vieldeutiger Begriff!«

»Ich nenne das Prinzip und den Menschen revolutionär, die sich dem Bestehenden feindlich entgegenstellen, wie Sie.«

»Lassen wir das gelten, obschon die Erklärung nicht die richtige ist, nur lassen Sie mich dieselbe aus den Bereichen vervollständigen, in denen ich mich am meisten heimisch weiß. Wir ziehen ja doch unsere Erkenntniß, unsere Bilder für dieselben am sichersten aus den Sphären, die uns zunächst umgeben: der Landmann aus der allgemeinen Natur, der Gelehrte aus dem speciellen Fache seines Wissens. Meine Erkenntniß, meine Anschauungen der Welt und der Menschen, der Lebensprinzipien und der aus ihnen folgenden Gesetze des Menschenverbandes zur Herstellung eines vernünftigen Staates, danke ich zumeist der Beobachtung des menschlichen Organismus.«

»Und hat diese Sie revolutionär gemacht, wie mein Freund es nennt?« fragte Friedrich.

»Ja!« entgegnete der Doctor. »Ich habe einsehen lernen, daß der menschliche Organismus kein selbständiges, um seiner selbst willen ausschließlich geschaffenes Wesen, sondern ein Theil des Weltalls ist, mit dem er in dem engsten, fortdauernden und unauflöslichsten Zusammenhange steht. In der Natur ist Nichts bestehend und dauernd, als ihre nie endende Thätigkeit in Auflösung und Neugestaltung der vorhandenen Elemente. Ebenso ist es im menschlichen Organismus und es muß so in ihm sein, denn etwas Unbewegliches könnte sich in der allgemeinen Bewegung nicht selbständig erhalten. Ist das aber mit dem einzelnen Menschen der Fall, so muß es auch dasselbe sein mit der Gesammtheit der Menschen. Sie erzeugt sich neu in sich selbst, sie erzeugt neue Gedanken und Bedürfnisse mit ihrer sich umstimmenden Organisation, sie bedarf also neuer Befriedigungen für ihre neuen Bedürfnisse. Da haben Sie den Weg, aus dem die Mediziner Männer der Bewegung und Ungläubige gegen das Bestehende werden.«

»Damit erklären Sie,« sagte Friedrich, »die Revolutionen als den nothwendigen und eigentlich natürlichen Zustand der menschlichen Gesellschaft, und stoßen alles Recht des Bestehenden um, das die Vorsehung unter uns hat werden und gedeihen lassen!«

»Die Vorsehung?« fragte der Doctor, und Erich rief: »Sie freilich sind ein Atheist und glauben nicht daran!«

»Nein!« antwortete der Doctor bestimmt; »aber lassen wir auch das, da Sie Beide daran glauben, und bleiben wir bei dem Kapitel von der Revolution.«

Friedrich erschrak, als er die Gleichgültigkeit gewahrte, mit welcher Bernhard über den Glauben an eine Vorsehung, an einen persönlichen Gott hinwegging, den er als eine Bedingniß seines Lebens und Strebens empfand. Der Doktor schien ihm plötzlich fremd, der Freund räthselhaft, daß er jene Behauptung mit einem Lächeln hinnehmen konnte, und ganz verwundert rief er: »Wie ist Ihnen, Ihnen gerade die Art Ihres selbstlosen Wirkens möglich, ohne den Glauben an Gott und seinen Beistand? Wie können Sie Fuß fassen in der Welt, wenn Ihnen das Fundament des Glaubens an einen Allmächtigen entzogen ist, der sie erhält und leitet?«

Der Doctor sah ihm klar und groß in's Auge und sagte mit ruhiger Würde: »Und wenn ich ein festeres Fundament kennte, einen stärkeren Glauben besäße?« – Dann aber brach er plötzlich ab, ließ auch Friedrich, mit der Herrschaft, welche er über die jüngeren Männer ausübte, zu keiner Entgegnung kommen, sondern nahm die frühere Unterhaltung wieder auf.

»Sie meinten,« sprach er, »ich erkläre die Revolution für den gesunden Zustand des Staates, darin irren Sie. So wenig ich den Blutsturz als den gesunden Zustand des Körpers ansehe, der zuweilen eine heilsame, immer aber eine bedenkliche und gefährliche Krisis der sich selbst helfenden Natur ist, so wenig halte ich die Revolution für etwas Gesundes. Sie ist die Krisis einer Krankheit, und muß natürlich entstehen oder auch künstlich herbeigeführt werden, wo die fehlende Thätigkeit des Organismus, wo Uebermaß oder Mangel, Stockung oder Erschlaffung und Ueberreizung verursacht haben, und die fortschreitende Zerstörung und Neubildung des Organismus hemmen. Unnatürliches Festhalten des Bestehenden erzeugt Stockungen, bildet Krankheiten und Krisen, und weil ich diese dem einzelnen Menschen so bedenklich halte, als die Revolutionen der Menschheit, bin ich ein Feind alles dessen geworden, was die Bewegung, das Fortentwickeln hindert. Um Revolutionen zu vermeiden, wünsche ich die Zerstörung dessen, was sie erzeugen muß.« – Er zog einen langen Zug aus der Cigarre, füllte aufs Neue die Gläser der beiden Freunde und sagte, nachdem er selbst getrunken hatte: »Da haben Sie die Geständnisse eines Arztes! machen Sie daraus, was Sie können!«

»Fideicommisse lassen sich darauf freilich nicht gründen!« meinte Erich.

»Wer sagt Ihnen denn, daß man sie gründen soll?«

»Sie lassen sich auch nicht einmal erhalten!«

»Nun wenn sie sich vor den Lehren der gesunden Vernunft nicht erhalten lassen, so geben Sie sie auf!« lachte der Doctor. »Der Vorschlag mag aber freilich für den Erben von Wogau anders klingen, als für unser Einen, die wir ohne das beglückende Schneckenhaus eines prächtigen Majorates mit nackter, kahler Haut auf die Welt gekommen sind!«

»Was bringt Sie darauf, Doctor?« fragte Erich, »mich heute so plötzlich als Majoratsherrn zu behandeln?«

»Weil mehr davon in Ihnen steckt, als Sie glauben: Sie sind durch und durch conservativ!«

»Ich wünsche allerdings,« entgegnete der junge Baron, »den Besitz und die Vorzüge, welche mir als rechtliches Erbe zugekommen sind, zu erhalten: aber ich würde mich freuen, wenn alle Anderen gleiche Güter erreichen könnten. Sie wissen, daß mir das deutsche Kastenwesen als eine Thorheit und ein Unglück erscheint.«

»Das heißt,« sagte der Doctor, »Sie würden Nichts dagegen haben, wenn Ihr Freund oder ich, gelegentlich Majoratsherren werden könnten, wie Sie; aber Sie standen doch Ihrem Bruder Georg nicht bei, als er das Cadettencorps zu verlassen und allenfalls lieber Zimmermann als Offizier zu werden forderte.«

»Weil er mit den Begriffen seiner Erziehung sich als Gewerbtreibender unglücklich fühlen mußte, und weil er dadurch dem Kreise entzogen worden wäre, in dem wir leben! Es wäre Wahnsinn gewesen, freiwillig sich seiner Rechte zu entäußern, alle Welt hätte es getadelt!«

»Ich und viele Andere nicht!« meinte der Doctor, »aber Sie sehen das allgemeine Urtheil nur in dem Kreise Ihrer Umgangsgenossen, darin besteht Ihre Unfreiheit, und doch haben Sie in Ihrer Familie auch ganz oppositionelle Naturen, die innerhalb der ihnen vorgeschriebenen Bahn zu keiner ihnen angemessenen Entwicklung kommen werden.«

»Deine jüngere Schwester macht mir allerdings den Eindruck, als ob sie nicht ganz glücklich wäre,« bemerkte Friedrich, der dem Gespräche mit Spannung zugehört hatte.

»Mein Gott!« meinte Erich, mit sichtlicher Ungeduld, »Cornelie ist zu klug, um nicht einzusehen, daß sie reizlos ist, und darüber fühlt jedes Mädchen sich unglücklich. Das ist nicht die Schuld unserer Familienverhältnisse oder unserer aristokratischen Unfreiheit!«

»Doch, Erich!« sagte der Doctor. »Fände Cornelie Gelegenheit sich nützlich zu machen, so würde sie sich glücklich fühlen. Daß sie Nichts zu thun hat, Nichts thun soll, als liebenswürdig scheinen und sich an geselligen Genüssen betheiligen, die sie nicht als solche empfindet, das ist ihr Unglück. Ihre Unzufriedenheit ist ihre beste Eigenschaft.«

»Aber Sie haben Unrecht, sie in den Ansichten zu bestärken, mit denen sie in unserer Familie nicht durchdringen kann. Sie soll und kann weder Gouvernante, noch soeur grise, noch eine bürgerliche Hausfrau werden.« –

»Weshalb nicht?« fragte der Doctor. »Hat Ihre Tante Windham nicht dasselbe gekonnt?«

»O! die Zeit der romantischen Liebe und der Entführungen ist vorüber,« sagte Erich empfindlich, »und meine Schwestern, welche Mängel sie sonst auch haben mögen, besitzen das strenge sittliche Gefühl ihrer Mutter. Selbst Corneliens von Ihnen sogenannte Opposition ist fern von Möglichkeiten jener Art!«

Damit stand er auf und der Doctor wechselte den Gegenstand der Unterhaltung. Nur als die beiden jungen Männer ihn verließen, sagte er zu Erich, indem er ihm auf die Schultern klopfte: »Machen Sie es sich klar, Erich, daß Sie ein eingefleischter Aristokrat sind, denn es ist weniger schädlich für Sie und Andere, wenn Sie wissen, daß Sie es sind!« Da man aber heiter mit einander verkehrt hatte, nahm Erich die Bemerkung ruhig hin und man schied freundlich und in bester Stimmung.


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