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Sara träumte schwer. Sie wollte gar nicht einschlafen. Sie wollte auf Andrej warten. Auf sein Klopfen warten. Aber alles blieb still, das Dorf in Dunkelheit gehüllt.
Doch die Dunkelheit wurde immer schwerer, lastender. Angst wachte in ihr auf. Angst bemächtigte sich ihres Körpers. Die Angst kroch über ihre Beine, ihren Leib, ihre Brüste hoch, sie wollte sie vertreiben, aber sie blieb weiter da, nistete sich ein in ihren Kopf, hinter die Augen, sie lauerte in den Ohrmuscheln, sie kroch eisig unter die Haut und lähmte sie.
Sie wollte aufstehen, sich retten. Endlich gelang es ihr, sich zu dem Fenster zu schleppen. Aber es schien ihr eine Ewigkeit, bis es ihren zitternden Händen gelang, es zu öffnen.
Wie schrecklich, wie undurchdringlich war die Dunkelheit. Sie war wie in den Märchen, im Lande der Bösen, wo die Dunkelheit so dicht war, daß Gegenstände in ihr hängenblieben.
In diese tiefe, klebrige Dunkelheit hinein begann sie um Hilfe zu schreien. Erst mit erstickter Stimme, aber sie wuchs und verbreitete sich mit solcher Schnelligkeit, daß Sara den Gedanken bekam, daß man sie in der ganzen Welt hören konnte.
Langsam öffneten sich auch alle Fenster. In allen Fenstern erschienen viele Gestalten. Sara konnte jedes Gesicht genau erkennen, obgleich sich die Dunkelheit gar nicht verändert hatte.
Die Gesichter, von bösen Leidenschaften verzerrt, gleichgültig oder stumpf, erfüllten sie mit noch größerem Grauen. Sie wußte, sie schrie vergeblich um Hilfe, und doch hörte sie sich rufen: »Hilfe, Hilfe!«
In diesem Augenblick schreckte sie auf. Unten klopfte es. Das war Wirklichkeit. Das war Andrej. Andrej stand unten mit dem Beil. Sie mußte hinunter und öffnen.
Neben ihrem Bett stand die Kerze und lagen die Streichhölzer. Sie machte Licht. Groß tanzte ihr Schatten in der Stube.
Sie hörte den ruhigen Atem des Kindes. Aber jetzt mußte sie hinunter. Sie durfte nicht zögern.
Warum wollten die Füße sich nicht vorwärts schieben? Noch nie schien ihr die Treppe so hoch, so endlos. Endlich stand sie bei der Tür. Sie hielt den Atem zurück. Vielleicht ging Andrej fort. Vielleicht stand er gar nicht mehr draußen. Vielleicht hatte sie auch das Klopfen nur geträumt.
Sie stieß die Tür auf. Im Türrahmen stand Andrej. Er sah geistesabwesend aus. Er hatte die Axt in der Hand. Als müßte er sie fürchten, hielt er sie weit ab vom Leib.
Er schrak zusammen, als Sara die Tür geöffnet hatte. Er hatte sie vielleicht gar nicht mehr erwartet. Er schrak auf, wie ein Traumwandler, den man ins Leben zurückruft.
Es dämmerte schon. Die Sterne waren erloschen. Aus dem flammenden Sonnenfeuer entstieg hellgrün der morgendliche Himmel. Die Umrisse der Häuser und Bäume waren zu erkennen.
»Du bist so spät gekommen«, flüsterte Sara und zog Andrej in die Wirtsstube.
Andrej setzte sich gleich. Noch immer hielt er die Axt weit von sich. Er ließ sie aber nicht aus der Hand.
Sara wußte, daß sie jetzt um Hilfe schreien wollte, den Schwieger herbeirufen, die Schwieger in die Falle locken. Sie wußte, heute wollte sie ein Ende machen ihrer Qual.
Aber kein Ton verließ ihre Kehle. Ihre Stimme war wie eingefroren. Sie konnte nicht rufen.
Sie setzte sich neben Andrej. Sie sprachen nicht. Sie saßen da, bewegungslos.
Sie hörten die Hähne krähen.
Langsam, schwerfällig holpernd, fuhr der erste Wagen vorbei. Gleichmäßig schlugen die Pferdehufe den Takt.
Endlich gelang es Sara, zu sprechen. Sie wisperte: »Du bist zu spät gekommen, Andrej.«
Draußen fuhren immer neue Wagen vorbei. Man hörte das Gebrüll des Viehs. Man hörte schon das Gesumm der Menschenstimmen wie im Chor.
Doch etwas schien vorgefallen zu sein. Das Stimmengewirr wuchs. Das Auftrampeln von vielen Stiefeln erfüllte lärmend den Raum. Als der Lärm draußen seinen Höhepunkt erreicht hatte, wurde die Tür ganz unerwartet aufgerissen.
Wie auf eine Erscheinung sah Sara auf die Gestalt, die vor ihr stand.
Heinrich war da.
Hier saß sie neben Andrej am Tisch und konnte sich nicht rühren. Die reißenden Schmerzen in ihrem Körper wachten plötzlich auf. Es war, als wären sie sich sofort bewußt geworden, daß Sara die Herrschaft über sie verloren hatte, und als wollten sie sie nun aus Rache doppelt peinigen.
Andrej sah Heinrich gar nicht. Wie zu Stein erstarrt, blickte er vor sich hin. Die Axt hielt er immer noch krampfhaft in der Hand. Aber Heinrich kam auf sie zu, als wäre es nicht merkwürdig, daß sie beide, Sara und Andrej, hier saßen, als wäre es das Natürlichste der Welt, mit einem Beil dazusitzen, so wie eben Andrej dasaß.
Es war auch überraschend, daß Heinrich sich kaum verändert hatte, obgleich auch er vollkommen abgerissen war wie die anderen Heimkehrer, aber sein Gesicht war rasiert, seine Bewegungen waren flink. Die Gefangenschaft hatte ihn nicht zermürbt, er schien lebhaft und tätig. Er eilte mit ausgestreckten Händen auf Sara zu, als wären sie beide nicht durch eine endlose Reihe von Jahren, fern voneinander, durch Qualen und Schmutz gewandert. Er umarmte sie. Dann ging er zu Andrej und rüttelte an seiner Schulter. Die Axt fiel mit großem Lärm auf die Erde. Andrej zitterte ein wenig. Er sah sich um, als wäre er aus einem Traum erwacht.
»Komm, Andrej, hilf«, hörte er Heinrich sagen. Er wurde von ihm zur Tür gezogen.
Draußen wuchs der Lärm immer mehr. Die Wirtshaustür wurde weit aufgerissen, und man sah die Dörfler in einem Knäuel um eine primitiv zusammengefügte Bahre geschart.
Vom Wasser und den Fischen entstellt, mit allen schaurigen Merkmalen des Todes gekennzeichnet, lag Mattheus auf der Bahre. In seinem Bart und Haupthaar hatten sich Schlamm und Wassermoos eingenistet, naß und zerzaust lagen sie um das grünlich schimmernde Gesicht. Es lag offen in der Sonne, denn alle wollten es sehen, und man hatte das Tuch, das es bedeckt hatte, weggerissen.
Einige Bauern, die gerade aufs Feld gingen, hatten den Leichnam entdeckt, und auf das Gerücht eilten die Leute herbei. Alle, die vor zwei Tagen an dem Fest teilgenommen hatten, wollten ihn sehen. Es war keine Neugierde, es war mehr eine selbstquälerische Sucht, mit eigenen Augen zu sehen, was sie in ihrer grausamen Dummheit angerichtet hatten.
Der Zank ging aber um folgendes: Auch der Großbauer und sein Anhang waren auf die Nachricht erschienen, und sie wollten nun die Leiche in das Haus des Großbauern schaffen. Das gerade wollten die anderen nicht zulassen. Unterwegs hatten sie Heinrich getroffen, der schon in der Nacht aus der Stadt aufgebrochen war, um nach Hause zu eilen. Laut zankten sie sich um den toten Mattheus, der jetzt vor der Tür des Wirtshauses lag. »Ihr seid die Mörder«, riefen sich immer die feindlichen Gruppen zu. Am allertollsten trieb es der Großbauer. Lamentierend trauerte er um den Toten. Er wollte ihn den Bauern entreißen. »Wenn er auch der größte Verbrecher gewesen wäre, mein Bruder blieb er. Ihr, die Mörder, möchtet ihn nicht einmal im Tod ruhen lassen. Geht, ihr habt hier nichts bei ihm zu suchen. Die Leiche kommt zu mir. Ich werde meinen Bruder begraben, werde ihn nicht den Mördern ausliefern. Die Gendarmerie ist in der Nähe, vergeßt es nicht, wir werden sehen, wer recht bekommt, ich, der leibhaftige Bruder, oder ihr, die wilde Horde.«
Es wurde still. Die Bauern wußten, daß er ihnen leicht die Polizei auf den Hals hetzen konnte, und sie wußten selbst nicht klar, warum sie sich sträubten, dem Großbauern den Leichnam Mattheus' auszuliefern, warum sie ihn selbst mit allen Ehren begraben wollten.
Die Witwen-Anna hatte sich vor den Großbauern gedrängt. Groß, mager, mit stechenden Augen, fuchtelnden Händen stand sie vor ihm. Laut, alles übertönend, gellte ihre Stimme: »Sag mal, was will dir der Graf für die Leiche Mattheus' zahlen?«
Der Großbauer packte sie am Arm: »Unverschämtes Weibsbild! Gäbe ich dir die Antwort, die du verdienst, könntest du dein großes Maul nie wieder aufreißen.«
Aber die Stimme Witwen-Annas wurde nur noch lauter: »Hört ihr, Leute, wißt ihr, wer alle Trinkgelage, wer das große Festmahl für alle Dorfbewohner bezahlt hat? Glaubt ihr, dieser Geizhals? Nein, der Graf war es. Und für jedes Schnäpschen, für jedes Glas Wein hat er eine Extrabelohnung bekommen, Geld, das er in seine eigene Tasche stecken konnte. Ja, für jedes Glas, mit dem er euch verdummt hat, euch benebelt hat. Fragt ihn, wieviel er bekommen hat für den Mord an Mattheus. Ja, die Bauern sind dumm, aber doch nicht so dumm, wie du meinst. Man hat dich in der Stadt gesehen, in der Bank des Grafen. Man hat es herausgefunden, wie groß die Belohnung ist. Aber du hast sie verdient, du hast sie ehrlich verdient. Der Graf hat sein Land zurückbekommen, und sein Schloß ist wieder sein, die Bauern haben wieder zu kuschen. Und du, du bist auch nicht ärmer geworden. Komm, wein uns was vor. Wir möchten deine Tränen sehen, Großbauer. Komm, spiel noch ein bißchen Theater.«
Feindlich umringten ihn die Bauern. Er und seine Anhänger begannen, sich aus der bedrohlichen Lage zurückzuziehen. Erst als sie sich schon aus dem Haufen herausgeschlängelt hatten, begann der Großbauer zu schreien: »Auspeitschen lasse ich euch alle. Die Prügelstrafe wird wieder eingeführt. Gut für euch. Und wenn sie dich auspeitschen, Witwen-Anna, dann will ich aber dabeisein und sehen, ob deine Zunge so giftig bleibt.«
Die Bauern blieben da, stumm, mit dunklen Gesichtern, als begriffen sie erst langsam, was mit ihnen geschehen war, was sie verloren haben. Wie leicht sie sich verraten ließen.
»Sag, Heinrich, du kommst von so weit«, sprach der alte Hirte. »Ist die Welt überall so wahnsinnig wie hier in unserem Dorf. Ist überall die Welt so durcheinandergeschüttelt, daß die alten Augen sie gar nicht mehr erkennen können?«
»Ja, Alter, so ist es«, sagte Heinrich, und alle hörten ihm aufmerksam zu, denn er kam von fern. »Das Sterben einer alten Welt ist nicht leicht und die Geburt der neuen noch schwerer. Ihr möchtet gern danebenstehen und leben, so gut ihr könnt. Aber das gerade ist unmöglich. Denn die alte Welt seid ihr ja selbst und auch die neue. Andere haben für euch gekämpft, und alles, das ganze Land, fiel euch in den Schoß. Deshalb habt ihr dieses große Geschenk nicht wertgehalten, und man konnte es euch wegnehmen, wie ein Erwachsener einem Kind ein Spielzeug wegnimmt.«
Sara stand neben Heinrich. Jetzt war er da, und sie konnte nicht mit ihm sprechen. Aber sie mußte mit ihm reden, bevor die Schwiegereltern kamen. Schliefen die noch? Hörten sie nichts? Sie zog ihn am Ärmel.
Da war aber ein Bauer zu ihnen getreten, derselbe, der gestern hier getrunken hatte und mit Münzen und Spangen herumwarf, die er geraubt hatte.
Immer noch war sein Gesicht verzerrt, seine Augen von Schlaflosigkeit gerötet. Man sah seinen Kleidern an, daß er irgendwo in einem Graben geschlafen hatte.
Seine Hand hielt er in der Tasche, während er sprach. Leise und zögernd kam jedes Wort aus ihm, als kostete es ihm Anstrengung, sich mitzuteilen.
»Du kennst doch, Heinrich, die Judenfrau aus dem Nachbardorf, die so viele Kinder hat. Ich möchte, daß du zu ihr hingehst und ihr das gibst.«
Er holte aus seiner Tasche einige Münzen und Ringe und eine Silberkette.
»Es fehlen ein paar Münzen, weil ich getrunken habe, gestern hab ich viel getrunken, weil alles erlaubt war, weißt du. Du gibst ihr das zurück, der Jüdin, vergiß es nicht. Man hat uns dumm gemacht, das merk ich jetzt auch. Wir hatten einen großen Goldklumpen in der Hand, da haben sie uns eine Kupfermünze gezeigt. Wir haben den Goldklumpen stehengelassen und sind der Kupfermünze nachgejagt. Jetzt sind die Taschen leer. Hab nichts. Sieh dir mein Gesicht gut an. Seh ich aus wie der alte Jud? Nein, das ist nur eine Lüge vom Schwager. Aber du hast ihn gar nicht gesehen, den Juden, wie er gegrinst hat. Ja, vergiß nicht, alles der Jüdin zu geben.«
Sara zog Heinrich von dem Bauern fort.
»Jetzt will ich sprechen. Warum hast du alle die Fremden hergebracht? Was geht uns das an, was sie alles tun und sprechen. Deine Mutter wird bös über mich reden, aber hör nicht auf sie. Du wirst nichts verstehen, weil du so weit fort warst. Ich weiß nicht, wie ich dir alles sagen könnte.«
»Glaubst du denn wirklich, Sara, daß ich dich nicht verstehen könnte? Begreifst du denn immer noch nicht, daß du nicht ein von den anderen abgeschlossenes Einzelwesen bist? Begreifst du denn nicht, daß die anderen keine Fremden sind? Daß dein Schicksal mit dem ihren zusammenhängt? Du willst das, was um dich geschieht, gar nicht sehen. Du meinst, es geht dich nichts an. Nur dein eigener Schmerz, dein eigenes Leid gehen dich an. Dein Leid ist winzig, wenn es allein ist, aber es ist ungeheuer, wenn du weißt, daß Millionen und aber Millionen dasselbe wie du erleiden müssen. Begreife, daß du nicht allein bist, daß du viel kleiner, aber auch viel größer bist, als du ahnst.«
Sara dachte mit gespannten Zügen über jedes Wort nach.
Dann sagte sie leise: »Heute nacht habe ich im Traum um Hilfe gerufen, aber niemand wollte mich hören. Du aber hast mich gehört, nicht wahr?«
Dann verfinsterte sich wieder ihr Gesicht. Denn oben auf der Treppe waren die Schwiegereltern erschienen. In ihrer Mitte stand Martin.
Sie hatten wahrscheinlich schon längst den Lärm gehört, aber nicht gewagt herunterzukommen. Jetzt, da es ruhiger wurde, wollten sie doch sehen, was vorgefallen war.
Die Schwieger hatte zuerst Heinrich erblickt.
Mit einem Aufschrei stürzte sie auf ihn zu. Erst als sie ihn wieder losließ, merkte sie, wie verschieden er von dem Bild war, das in ihrer Phantasie gelebt hatte. Er war ein unscheinbarer, bescheidener Mensch, kein Richter und Rächer. Sie wußte, sie besaß keine Macht über ihn, der lächelnd und ein wenig verlegen vor seinen alten Eltern stand. Sie waren ihm fremd. Aber sein Kind war ihm noch fremder.
Dort stand sein Sohn. Dieses fremde, zarte Wesen, das er noch nie sprechen gehört hatte.
Sara lief hin zu dem Kind: »Komm, Martin«, rief sie laut. »Dein Vater ist hier. Komm.«
Das Kind blickte nicht nach ihm. Er war ja nur ein fremder Mann. Draußen aber lag Mattheus, sein Freund, furchtbar entstellt, umgeben von den stillen, trauernden Bauern. Zu ihm wollte Martin hinlaufen, ihn sehen, hören, was mit ihm geschehen war.
Sara hielt ihn fest. Ihre Hände verdeckten schnell seine Augen: »Du sollst nicht hinschauen«, flüsterte sie. »Du sollst nichts wissen.«
Heinrich aber löste ihre Hände von seinem Gesicht. Er nahm das Kind in seine Arme und flüsterte: »Verhülle nicht seine Augen. Er soll sehen. Er soll wissen.«