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VII

Zu Mittag aß die Familie in der Wirtsstube.

»Du siehst ja aus wie der Tod«, sagte die Schwieger zu Sara.

Wirklich wirkte Sara, als hätte sie keinen Tropfen Blut im Leib. Die Kleider hingen schief an ihr. Die Haare fielen ihr in die Augen. Und eine Schramme vom gestrigen Fall lief quer über die linke Wange.

Martin hatte seinen Kopf über den Tisch gelegt und wollte nicht essen. Ganz leise weinte er vor sich hin.

Der Schwieger sprach auf das Kind ein: »Du mußt essen, Martin. Du darfst nicht weinen. Wir müssen jetzt alle ganz still sein und die anderen alles unter sich ausmachen lassen.« Er sprach nicht mehr zu dem Kind. »In den Nachbardörfern geht es schon ganz wild zu. Man hat die Bauern wie ausgehungerte Tiere auf die Juden gehetzt. Was auch geschieht, immer sind es die Juden, die zahlen müssen. Sara, du mußt schweigen, und laß das Kind mit niemandem sprechen. Du kümmerst dich nicht genug um Martin, Sara. Gestern nacht fand ich ihn bei dem Mattheus. Der Großbauer hat es gemerkt, ich hab den Blick gut gesehen, mit dem er das Kind verfolgt hat.«

Sara wollte erst aufbrausen. Hatte sie schon wieder nicht genug gemacht? Ach, es lohnte ja nicht zu sprechen. Aber die Luft hier, die war unerträglich.

»Ich muß die Fenster öffnen, ich ersticke hier. Entsetzlich dieser Dunst. Ich ertrag es nicht.«

Sie wollte die Fenster aufreißen.

»Bist du wahnsinnig?« rief der Schwieger. Er lief selbst zur Tür und schob den Riegel vor. »Niemanden darfst du hereinlassen.« Er ließ die Vorhänge herab. »Wir haben ja nichts zu befürchten. Uns wird doch nichts geschehen. Keiner kann sich über uns beklagen. Ich hab ihnen immer zu trinken gegeben, soviel sie wollten. Wir haben nie gesprochen, nie uns eingemengt.«

»Ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich nicht vor den Bauern. Ich fürchte mich vor niemandem und vor nichts. Ich will Luft ...«

Die Schwieger sprang auf. Sie stand vor Sara wie eine alte, böse Katze. »Von dir weiß man, was du möchtest. Glaubst du, ich weiß nicht, was in deinem Kopf vorgeht? Glaubst du, man hat keine Ohren, keine Augen? Glaubst du, man ist taub und blind? Sieh in den Spiegel! Meinst du, man sieht dir nicht alles an? Glaubst, man weiß nicht, daß du eigentlich ins Gefängnis gehörst? Ich habe geschwiegen, weil man Erbarmen mit dir hat. Aber man kann ja noch sprechen. Man ist ja nicht stumm. Ja, sieh dich nur vor.«

Sie fiel wieder zurück auf ihren Stuhl.

Sara bewegte sich nicht. Sie maß sie nur mit eisigen Augen.

Martin begann lauter zu weinen.

Sara nahm ihn bei der Hand: »Komm, Martin, ich bring dich hinauf.«

Als sie mit dem Kind sprach, wurde ihre Stimme weich.

Die Alte murmelte ihren Spruch, den sie in letzter Zeit hundertmal hersagte: »Nur gut, daß bald der Heinrich nach Hause kommt.«

Draußen rüttelte jemand an der Tür.

Alle blieben still, regungslos.

Sara war es, die zuerst die Vorhänge wegschob und hinausspähte. Dann kamen die Alten. Das Kind hatte man hinaufgeschickt.

Draußen stand eine dicke Frau. Sie war ganz in Schweiß gebadet. Ihr Gesicht war stark gerötet. Sie hatte einen Schiebekarren gezogen. Sie hielt noch jetzt die Hand an der Stange. In dem Karren waren zwei Säcke, die noch mit Tüchern zugedeckt waren. Man hätte meinen können, sie schleppte sich mit Kartoffelsäcken ab, aber mit einer komisch wirkenden Zärtlichkeit streichelte sie von Zeit zu Zeit die Säcke.

Sie war eine Verwandte der Alten aus einem der Nachbardörfer, eine reiche Frau, die sich sonst wenig mit ihnen abgab und noch nie bei ihnen in einem ähnlichen Aufzug erschienen war.

Als sie wieder an der Tür zu rütteln begann, öffnete man ihr.

Sie begann zu jammern. Ging dann aber zur Karre. Ächzend trug sie die Säcke selbst in die Wirtsstube. Sie legte sie behutsam auf den Boden.

Die Säcke bewegten sich, man konnte sehen, daß in ihnen lebende Wesen waren. In den Stoff waren mehrere Löcher eingeschnitten, anscheinend, um ihnen das Atmen zu erleichtern.

»Wasser, gib uns Wasser, und Milch.«

Sie stöhnte.

»Was ist denn geschehen? Du darfst uns nicht auch ins Unglück bringen. Es wäre besser, wenn du gingest«, flüsterte die Schwieger.

»Ich will ja gleich gehen. Ich will über die Grenze. Aber hab Erbarmen. Bring Milch.«

Plötzlich hörte man Lachen, ein Lachen, wie im Kitzel erstickt. Trunken taumelte dieses Lachen in den dumpfen Raum.

Alle drehten sich um, suchten das Lachen. Es durchschnitt immer lauter die Stille.

Eines der Bündel, die die Frau hereingeschleppt hatte, begann sich auf dem Boden zu bewegen. Die dicke Frau beugte sich hinunter, flüsterte in die Tücher hinein: »Still, Anna, still.«

Aber das Bündel wurde immer lebhafter, wälzte sich hin und her. Die Tücher verschoben sich, und man erblickte einen Kopf, zerzauste Haare, von Trunkenheit verschwommene Augen, dann kam eine nackte Schulter zum Vorschein, Hände befreiten sich, fuchtelten in der Luft, und wieder stieg das Lachen hoch, röchelnd aus einem aufgedunsenen, geröteten Mädchengesicht.

Auch aus dem anderen Bündel wollte sich ein Mädchenkopf befreien. Die Dicke streichelte die Haare, versuchte das Mädchen zu beruhigen: »Schlaf, Julia, schlaf.«

Sie deckte das andere Mädchen hastig zu: »Auch du mußt schlafen, Anna, hörst du?«

Sie reichte ihnen Milch, dann flüsterte sie wieder: »Ihr müßt schlafen. An nichts denken.« Ihre Hände liefen an den verhüllten Gestalten entlang: »Ihr habt nur bös geträumt, nichts ist wahr. Ihr sollt vergessen. Schlafen, ihr müßt schlafen.«

Sie warf ihren Kopf zwischen die Hände und weinte laut jammernd.

»Du darfst nicht so laut schreien. Du bringst uns auch ins Unglück. Was ist denn geschehen? Du sagtest doch, du wolltest gleich weiter.«

»Erst müssen sie einschlafen. Sie müssen ganz tief schlafen. Wie habe ich sie gehütet. Wie habe ich sie geschützt. Wie verwöhnte Prinzessinnen haben sie gelebt. Nichts sollten sie wissen vom Leben, nichts von der Schlechtigkeit der Menschen. Nur lernen sollten sie, klüger und besser sein als wir. Als bei uns alles wahnsinnig wurde, dachte ich, es soll sie nicht berühren. Ich wollte fort mit ihnen. In ein anderes Land, wo sie in Ruhe hätten weiterleben können. Unsere Koffer standen schon gepackt, nur fort. Unten heulte schon die wilde Bestie, aber die Kinder - sie hören nichts, wissen von nichts. In weißen Kleidern sitzen sie in einer Ecke und lesen. Draußen klopft es, und zwei von den Reitern mit der Falkenfeder an der Mütze, mit glänzenden Stiefeln, geschniegelt und gestriegelt, stehen da. Und die Mädchen, sie lächeln ihnen entgegen. Ich will sie warnen, ihnen sagen, daß diese sporenklirrenden Kerle unsere Todfeinde sind, stell mich vor sie hin, will sie verbergen. Aber sie lugen hinter meinem Rücken hervor, wollen die Fremden sehen.

Ich dreh mich zu ihnen um, ich muß sie ja irgendwie retten, sag ihnen, geht schnell, ich muß mit den Herren allein reden.

Die Fremden lachen nur, nähern sich uns: ›Oh, nein, sie sollen nur hierbleiben, die lieben Mädelchen.‹

Sie schieben mich fort. ›Verstellen Sie uns nicht wieder die schöne Aussicht, gute Frau.‹

Anna und Julia aber lächeln weiter, sie halten das alles noch immer für einen Spaß, vergeblich werf ich ihnen mahnende Blicke zu. Sie sehen mich schon gar nicht, sie schauen die beiden Kerle an. Der eine, er hat eine dunkelbraune Haut und funkelnde Augen, nähert sich Julia, legt die Arme über ihre Schultern, reißt sie hoch, drückt sie fest an sich. Sie will sich erschrocken losmachen, blickt entsetzt nach mir.

Der Kerl, der lacht und lacht: ›Du brauchst keine Angst zu haben, brauchst nicht nach deiner Mutter zu schauen, die Alte hat nichts mehr zu sagen.‹

Aber sie wirft die Fäuste gegen seine Brust, macht sich frei, will zu mir flüchten.

Der andere, ein großer Blonder, nähert sich Anna, legt seine Hände streichelnd unter ihr Kinn, hebt ihren Kopf hoch: ›Nun, bist du auch so eine kleine Furchtsame? Du siehst nicht so aus.‹ – Er zog sie bei der Hand an den Tisch. Anna lachte nur, sah gar nicht nach mir.

Der Dunkle kommt wieder zu Julia: ›Sei doch nicht so ängstlich, du kleiner Vogel, willst mir davonfliegen? Komm.‹

Wieder legt er seine Arme um ihre Schultern, und Julia läßt sie jetzt da, schauert nur zusammen, blickt erblassend in die Luft, aber ihr Kopf wendet sich ab von mir.

Sie sitzen jetzt alle um den Tisch. Die beiden Hunde, breit lachend, zwischen ihnen meine Töchter, die armen Engelchen, Julia und Anna. Sie wagen sich kaum zu bewegen, blicken mit bebenden Lippen auf den Boden, ihre Augen weichen mir aus.

Ich will den Kerlen Geld bieten, aber sie lachen nur, schieben mich fort. Der Blonde beginnt zu schreien: ›Bring Wein her, Alte! Die Kleinen sind zu still, zu traurig, die armen Würmchen, hast sie nicht gut gehalten, sie müssen fröhlich, lustig werden, die kleinen Mädelchen.‹

Ich nehme mich zusammen, will ganz ruhig antworten, ganz ruhig, diesen Schurken, ganz ruhig, aber doch so, daß sie merken, sie können hier nicht tun, was sie wollen, ich werde ihnen meine Kinder nicht überlassen, sie nicht einfach diesen Hunden vorwerfen.

›Geht, geht‹, sag ich, ›laßt meine Kinder in Ruhe, geht‹, meine Hand streckt sich aus, zeigt nach der Tür, und meine Stimme wird immer lauter, ich kann sie nicht zurückhalten, sie wird immer stärker, ich weiß, das ist nicht richtig, daß du so mit ihnen schreist, du schadest nur deinen Kindern, du machst sie nur noch wilder, diese Schweine, nur noch schlechter. Aber ich kann nicht, kann nicht über sie herrschen, immer mächtiger dringt sie aus meiner Kehle.

Die Mädels sehen mich erschrocken an, wollen mir winken, mich beruhigen. Die Kerle, sie werfen sie auf ihre Stühle zurück, lachen laut. Der Blonde sagt: ›Schrei nur, schrei, du schadest nur dir selbst, wir haben dir noch nichts getan und auch nichts den Fräuleins, den Judenmädchen, doch mach uns nur wütend, um so besser. Bring nun den Wein, den besten, hörst du!‹

Julia ist ganz weiß geworden, mein süßer Engel, ihre Arme erheben sich über alle, sie betteln: Bring ihnen, was sie verlangen, bring es ihnen schnell. Du machst ja alles nur noch schlimmer. Ich geh also ganz langsam hinaus, bin ganz still geworden, weiß, daß ich dumm war, dumm, nur meinen eigenen Kindern schade.

Ich bring ihnen nun Wein, soviel ich tragen kann. Als ich wieder eintrete, sehe ich, daß Anna zusammengeschrocken ist und mit schuldbewußten Augen nach mir schaut.

Der Blonde neben ihr hat ein röteres Gesicht, er zieht sie in seinen Schoß, gießt ihr Wein ein: ›Trink und blick doch nicht immer wieder nach deiner Mutter.‹ Er beginnt sie zu küssen, schamlos, gemein. Sie erbebt, er gibt ihr wieder zu trinken, sie lacht zerbrochen. Ich kann es nicht weiter sehen, weiter hören, will zu ihnen hinlaufen, sie aus seinen Armen, von seinem Schoß reißen, aber sie lachten, lachten, ich möchte sie erschlagen, aber ich kann ja nichts tun, ich kann alles nur noch schlimmer machen.

Dann suche ich mit den Augen Julia. Der Dunkle, er ist schön, der Hund, reicht Julia das volle Glas. Sie schüttelt den Kopf, lächelnd: ›Ich habe noch nie getrunken, nie. Das darf ich nicht.‹

Der Dunkle lacht aus vollem Hals: ›Aber jetzt darfst du, ich erlaub es dir, du brauchst keine Angst mehr zu haben, vor nichts mehr. Siehst du, wie sie dasteht, deine Mutter, und nach dir schaut, aber nichts sagt, denn sie hat nichts mehr zu sagen, sie kann sich nicht mehr zwischen dich und das Leben stellen, du darfst glücklich sein, du darfst dich freuen. Sprich, sag, ist das Leben nicht schöner?‹ Julia lächelt und bekommt glänzende Augen.

Der Kerl darf so zu ihr sprechen, und ich kann nichts zu ihr sagen. Ich habe Angst, daß ich wieder in Wut gerate, besinnungslos werde und nicht mehr weiß, was ich tue. Ich sage also nichts, starre weiter zu ihnen hin, bewege mich nicht von meinem Platz. Will nicht um die Welt nur einen Schritt weichen. Solange ich da bin, kann das Schlimmste nicht geschehen. Da steh ich nun in einer Ecke.

Julia öffnet weit die Augen. Blickt den Dunklen entsetzt, aber auch irgendwie beseligt an. Ihr Gesicht wird fremd. Hätte es sich nicht vor meinen Augen verändert, würde ich es nicht wiedererkennen.

Der Dunkle beugt sich zu ihr, flüstert ihr ins Ohr. Er drängt sich näher an sie heran. Und da geschieht das Unbegreifliche. Sie schmiegt sich selbstvergessen an ihn.

Und Anna, wie sieht sie aus. Ihre Haare sind aufgelöst. Auf den Wangen rote Flecken. Sie steht neben dem Blonden, küßt ihn und läßt sich küssen, kreischt, keucht. – Sie war besinnungslos betrunken.

Dieser Hund hat mein Kind mit Alkohol vergiftet. – ›Anna‹, schreie ich, ›Anna, erwache.‹ Ich will mich auf sie werfen, sie aufrütteln, aber sie springt lachend wie eine Wahnsinnige weiter. Ihre Haare fliegen wild um sie. Und der Blonde, er gibt ihr wieder zu trinken. Halbnackt dreht sie sich im Zimmer herum, lacht höhnisch, als ich händeringend ihr nachlaufe.

›Laß mich‹, kreischt sie nur immer wieder, ›ich will nicht mehr Euer weißes Engelchen sein. Ich will leben, genießen. Ich hasse dich, du hast mich immer niedergedrückt. Ich war eine Gefangene. Befiehl mir jetzt, versuche es, mir jetzt zu befehlen. Wie habe ich leben müssen. In diesem Dorf mußte ich verfaulen. Warten sollte ich, bis Ihr für mich einen häßlichen Juden findet, mit dem Ihr gute Geschäfte machen könnt.‹ – Wie sie lachte. Ich konnte dieses Lachen nicht hören. Ich hielt mir die Ohren zu.

Julia stützte den Kopf zwischen die Hände, als fürchtete sie, ihn zu verlieren, als gehörte er nicht mehr zu ihr. – Sie hält ihn wie etwas Fremdes. Und auch ihre Hände sind fremd. Sie werden plötzlich länger, älter. Der Dunkle mit den funkelnden Augen kommt immer näher zu ihr. Seine Wangen berühren schon ihre weichen Haare. Und er flüstert ihr in die Ohren: ›Julia, hast du nicht schon geträumt, daß einmal alles ganz genauso sein wird wie heute. Das Leben ändert plötzlich sein Gesicht und kehrt dir ein wildes, unbekanntes Antlitz zu. Alles ist auf den Kopf gestellt. Alles aus den Fugen geraten. Dein behütetes, luftleeres Dasein fällt zusammen, ein Abgrund tut sich vor dir auf, und du kannst dich nicht halten, mußt hinabstürzen. Da stehst du ganz wehrlos, ganz ausgeliefert einer fremden Macht. Du kannst dir nicht helfen, aber gerade das macht dich selig.‹

Julia schauert zusammen.

›Niemand kann dir helfen. Siehst du, da steht deine Mutter, da steht sie und kann nichts tun gegen mich. Du mußt dich ins Dunkle hinabziehen lassen. Entkleide dich, Julia. Werde zum Tier, du weiße Jungfrau.‹

Und Julia wird blaß und rot, bebt am ganzen Körper. Das Blut steigt dunkel in ihr Gesicht, verliert dann wieder jede Farbe, wird fahl bis an die Lippen.

Sie sieht auf mich, die ich dastehe, zusammengesunken an die Tür gelehnt, halbtot vor Scham.

Ich will fortlaufen und kann nicht, will wegschauen und kann nicht.

Wieder sehen meine Augen Anna, die sich ganz an den Blonden drängte.

Aber ich muß auf Julia blicken. Der Dunkle sieht sie immer noch unverwandt an, er läßt seinen Blick nicht von ihr. Saugt ihr jeden Willen aus. Dann ergreift er sie, zischt in ihr Ohr: ›Julia, das hast du alles schon einmal geträumt, nicht wahr, Julia.‹

Da schreit sie auf, ihr Gesicht wird schneeweiß. Sie schreit unartikuliert, langgezogen. Ihre Hände fliegen über ihren Kopf, greifen in die Luft, scheinen Hilfe zu suchen, dann fallen sie zurück zu ihr. Und plötzlich reißt sie, wie im Fieber, die Kleider von sich ...

Dann fällt sie hin vor dem Dunklen, besinnungslos.«

Die dicke Frau verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Das tierische Wiehern brach jetzt wieder aus dem einen Bündel. Die Dicke beugte sich nieder, flüsterte in singendem Ton: »Still, Anna, schlafe, Anna, schlafe.«

Dann ging sie zu dem anderen Bündel, streichelte es, sang, als wäre es ein Schlaflied: »Schlaf, Julia, schlaf.«

Sie setzte sich wieder, barg ihr Gesicht in den Händen und jammerte laut: »Deshalb hat man gelebt, deshalb hat man gearbeitet, gespart, Opfer gebracht. Um diesen Tag zu erleben. Ein Wunder ist es, daß dieser Tag je ein Ende nimmt, ein Wunder ist es, daß man noch lebt. Daß ich sie nicht beide getötet habe, als die betrunkenen Kerle fortgingen und ich allein blieb mit ihnen, als ich sie da liegen sah, lallend, trunken, nackt. Warum hab ich sie da nicht getötet? Sie und mich. Warum? Wohin soll ich sie schleppen? Was sollen wir anfangen mit diesen Erinnerungen?«

Die Dicke kauerte sich wieder zu den Bündeln, streichelte sie. »Man hat euch vergiftet, mit Alkohol benebelt, und ich habe euch selbst das Gift gebracht. Ihr könnt nichts dafür. Nur ich war feige. Ich hätte mich von ihnen töten lassen sollen. Ihr Armen, ihr seid unschuldig. Ihr müßt schlafen und vergessen, alles vergessen.«

Sara beugte sich weit vor. Sah nach der Dicken, nach den Mädchen, in den Bündeln verschnürt. Kalt waren ihre Gedanken: So seht ihr also aus, ihr weißen Täubchen, ihr wohlbehüteten Fräuleins. So schnell vergißt man also die feine Erziehung. Und was die dicke Mama für Wesen macht aus dieser Geschichte. Die armen Mädchen sind immer den Stärkeren ausgeliefert, aber um sie jammert niemand laut, wie um diese verwöhnten Dämchen. Und eine Magd könnte man nicht so leicht trunken machen.

Die Dicke sah jetzt auf, ihr Blick begegnete den kalten Augen Saras.

Sie sprang auf: »Du lachst. Lachst spöttisch. Du böses Frauenzimmer.«

Sie wollte sich auf Sara werfen.

»Wie sie lacht, die schlechte Person. Unser Unglück findet sie lächerlich.«

Jetzt mischte sich auch die Schwieger ein: »Laß sie, die Böse. Ich weiß aber genug von ihr. Nur gut, daß mein Heinrich bald nach Hause kommt.«

Die Dicke begann, die Bündel wieder auf ihren Karren zu laden.

Sara warf den Kopf zurück und begann nun wirklich laut zu lachen: »Nun, wenn Ihr wollt, daß ich lache, gut, dann werde ich lachen. Seht, wie ich lache.«

Sie war jetzt wieder allein in der Wirtsstube.


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