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I

Sara hob den Spiegel mit der rechten Hand, mit der linken hielt sie über der Brust ein goldfarbenes, schillerndes Seidentuch fest. Sie sprach mit ihrem Spiegelbild wie ein Kind, das sich von Erwachsenen unbeobachtet weiß.

»Sara ist schön«, flüsterte sie. »Weißes, weiches Gesicht, keine Falten, keine Runzeln. Sara ist jung, vierundzwanzig Jahre, das ist kein Alter. Alle Zähne heil, weiß. Kannst lachen, soviel du willst, Sara. Bist jung und schön, Sara. Brauchst dir nichts gefallen zu lassen.« Sie horchte. Alles blieb still. Das Kind spielte irgendwo. Kein Mensch war in der Gaststube. Die Schwiegereltern schliefen. Wie gut, allein zu sein.

Aber schon hörte sie unten Stimmen, die Schritte der Alten. Gleich wird die Schwieger kommen und sie rufen. Nie darf sie allein sein, nie. Ein Arbeitstier ist sie, nichts weiter. Ihr lächelndes Gesicht wurde böse, die dunklen, feuchten Augen kalt und stechend. Sie stand da bewegungslos und wartete.

Ganz langsam kam jemand die Treppen herauf. Sie erkannte die gichtkranken, schlürfenden Schritte der Schwieger. Wie sie diese Schritte haßte. Sie schlug den Spiegel auf den Tisch, warf das Seidentuch zerknüllt in den Schrank.

Im Türrahmen stand die Schwieger. Eine alte, verhutzelte Frau. Die schmalen Lippen versanken zwischen den zahnlosen Kiefern. Die grelle Stimme Saras schrillte in die Ohren der Alten: »Was suchen Sie hier. Was schnüffeln Sie immer nach mir. Darf ich keine Minute frei sein? Bin ich denn eure Magd?«

Ganz leise murmelte die Alte: »Was hast du nur, Sara. Du weißt sehr gut, du bist keine Magd.« Sie flüsterte nur: »Jetzt keine mehr.«

Sara wollte wieder aufbrausen, aber sie erblickte jetzt einen Brief in der Hand der Alten. Der Brief sah ganz schmutzig und zerknüllt aus. Auch der Gesichtsausdruck der Schwieger schien ihr nun merkwürdig, sie suchte Erklärung in ihren Augen, sah wieder auf den Brief, streckte dann schnell die Hand nach ihm aus, und ganz zaghaft, fragend kam es von ihren Lippen: »Heinrich?«

Die Stimme der Alten jauchzte jetzt los: »Ja, siehst du, Heinrich hat geschrieben. Hab ich's dir doch immer gesagt, daß er lebt. Eine Mutter, die weiß anders Bescheid als eine fremde Frau, auch wenn sie ihm angetraut wurde.«

Sara hielt den Brief lange in der Hand. Wieviel Stempel waren auf dem Umschlag, und seine Hand, die schrieb jetzt anders, obgleich sie seine Schrift erkennen konnte.

Also er lebte noch. Früher, als sie soviel um ihn gebangt hatte und keine Nachricht kam, da hatte sie immer gedacht, wenn ich ihn ganz vergessen werde und schon gar nicht an ihn denke und mich auch sein Tod nicht mehr quälen würde, dann wird er plötzlich heimkommen. Und wirklich, so kam es. Sie hat sich nicht mehr um ihn gequält und hat schon kaum an ihn gedacht, und nicht einmal im Traum ist er ihr mehr erschienen, und jetzt hielt sie seinen Brief in den Händen.

Die Schwieger stand vor ihr und blickte mißtrauisch nach ihr, weil es gar so lang dauerte, bis sie die Blätter dem Umschlag entnahm. Sara also begann zu lesen, laut. Sie las wie Schulkinder in den Dörfern, wenn sie zu lesen beginnen. Ihr Zeigefinger wies jeden einzelnen Buchstaben dem Auge. Laut stieß sie sie aus. Verband sie, erkannte dann überrascht die Worte, die einen Sinn ergaben.

So las sie, daß er lange krank war, im Fieber lag, dann abgeschnitten lebte von der übrigen Welt und daß er nun bald sich auf den Heimweg machen würde. Zuletzt las sie ganz langsam: »Ich habe viel über dich nachgedacht, Sara.«

Die Schwieger, obgleich sie den Inhalt des Briefes schon kannte, trank jedes Wort. Sara aber blieb nachdenklich. Was wollte er nur damit sagen: »Ich habe viel über dich nachgedacht.« Er schrieb nicht, ich sehne mich nach dir, auch nicht, ich habe viel an dich gedacht, nein, nachgedacht hat er über dich, Sara. Als ob die Männer überhaupt viel nachdenken würden über eine Frau.

Sie sah ihn jetzt ganz klar vor sich, ihren Mann, den sie seit Jahren, seit langen Jahren nicht gesehen hatte. Sah sein schmales Gesicht mit der zartdünnen Haut. Die schwachen grauen Augen hinter den Gläsern. Wegen seiner Brille und weil er sich gern im größten Lärm hinter Büchern verschanzte, hatte er im Dorf den Spitznamen der »Herr Doktor« erhalten. Auch Sara dachte jetzt ein bißchen spöttisch: Der »Herr Doktor« wird also nach Hause zurückkommen.


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