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In den ersten Tauwettertagen des März erhielt ich den Bericht meines Bruders über seine Rückfahrt vom Weihnachtsurlaub. Seine Tagebuchblätter beschworen noch einmal den Winter Rußlands in seiner ganzen Brutalität.
Die Fahrt hatte genau so lange gedauert wie der Urlaub: sechzehn Tage und Nächte. Dabei hatte er jede nur erdenkliche Mühe aufgewandt, äußerste Strapazen auf sich genommen, um die Fahrzeit möglichst zu kürzen. Was er dabei auf Bahnhöfen, offenen Strecken, in »Wartesälen« und Lazarettzügen gesehen hat, zeigt, daß Gesunde wie Verwundete, besonders aber jene, die dienstlich auf den russischen Linien eingesetzt sind, nicht nur der Gewalt einer mörderischen Kälte, sondern auch so vielen Zufälligkeiten ausgeliefert waren, daß jeder, der mit halbwegs heiler Haut sein Ziel erreichte, von Glück reden kann. Die Winterfahrten zur Front oder von ihr in die Heimat gehörten zum Wesentlichen dieses russischen Krieges; da sie auf dem größten Teil der Strecke ohne feindliche Einwirkung vor sich gingen, sind sie mit den Monaten an der Front selbst zwar nicht zu vergleichen, lassen aber doch erkennen, daß nicht weit hinter der Reichsgrenze ein erbarmungsloser Ernst begann. Auch die beste Organisation ist bloß Menschenwerk und als solches gefährdet wie alles Leben. Behält aber der Mensch auch dann noch den Kopf oben, wenn sie vor höherer Gewalt versagen muß; ist er auch dann noch bereit, dem Mitmenschen zu helfen; gibt er weder ihn noch sich selber auf, weil ein höherer Zweck es fordert, dann darf man von jener Art Heldentum sprechen, die zwar ohne Glanz und ohne Ruhm ist, die aber die Unzerstörbarkeit einer Nation verbürgt.
Der Soldat des russischen Feldzuges wird einmal an ihn zurückdenken, wie unsere Generation an den flandrischen Schlamm, an die Trichter vor Verdun, den glühenden Karst am Isonzo, die Lawinenhänge Tirols zurückdenkt. Das Entsetzen wird vorbei sein, die Mühen verschmerzt, aber das Gewicht des Erlebnisses, das man in solcher Gestalt nur einmal zwischen Geburt und Tod haben kann, wird auch sein Leben verwandeln, wie das unsrige verwandelt worden ist. Noch ist alles, was er erträgt, nacktes, zuckendes Leben; wo man es anfaßt, schmerzt es, wo man es befragt, wird es stumm. Was im Kriege gewagt, getan und gelitten wird, ist elementar und nicht weiter aufzulösen; darin gleicht es dem Gebären und Sterben, der Liebe und der Zeugung.
Der genannte Bericht, in Form von Tagesnotizen abgefaßt, ist von einer schonungslosen Hand geschrieben; die Konturen, die sie zeichnet, sind hart und bestimmt. Alles ist da, wie wir es von damals her kennen, das höllische Gefluche ebenso wie die Gastfreundschaft völlig Unbekannter, die man nie wieder im Leben sieht; das ewige Warten, der Dreck und die Läuse – warum sollte es anders sein als damals, sie gehören zum Krieg wie das Amen zum Gebet.
Ich gebe eine Stelle wieder, die das Innen und das Außen eines Erlebnisses auf die krasseste Weise gegeneinanderstellt:
»Als vierzehnter Fahrgast auf dem Kohlenhaufen des Tenders. Der Dampf der Maschine schlägt sich in feinen Eiskörnern über Gesicht, Mantel und Gepäck. Schneesturm von allen Seiten. Fünfunddreißig oder vierzig Kilometer sind es bis M. Es geht an Borodino vorbei. Schlug nicht hier Napoleon eine blutige Schlacht? Ich denke an die beiden Borodin-Quartette, aber zum Pfeifen der Themen reicht die eingefrorene Puste nicht. Es wird früh dunkel. Die Gesichtshaut brennt, die Knochen klappern. Zuletzt überfahren wir ein Auto und einen Pferdeschlitten. Die Brocken sind vom Schneesturm bald verschluckt. Endlich in M. Ich stapfe durch die Schneeverwehungen, oft bis zum Bauch einsinkend, zur Kommandantur. Man weiß nichts von meiner Truppe und schickt mich wieder zum Bahnhofoffizier. Ein Gefreiter meldet zweiundvierzig Grad unter Null. Ich muß in der Nacht wieder zurück.«
*
Am Tage des Frühlingsanfanges, dem 21. März, lasen wir minus sechzehn Grad vom Thermometer. Eine Fahrt nach Süden wenige Tage darauf ging über eine halbe Stunde zwischen zwei bis drei Meter hohen Schneewänden dahin und der Abend holte aus dem verschneiten Land noch einmal die volle Farbenschönheit eines vergehenden russischen Wintertags.
Aber eine Woche später taute es mächtig und zum erstenmal wieder waren Teile und Streifen des Flusses eisfrei. Der Himmel verkündete den Frühling: zarte helle Wolken schwammen im Blau, das wie von freudiger Erwartung glänzte. Es war das rechte Wetter, die »Winterzelte abzubrechen«, also das behaglich warme Haus, das uns fünf Monate lang beherbergt hatte, zu verlassen und wieder zu wandern. Schon sahen wir auf der Fahrt große Flächen der Ebene schneefrei und unsere Ungeduld witterte in jeder Regung der Luft, jedem aufglänzenden Tümpel, jedem Spatzengezwitscher den Frühling. Wir glaubten, er werde über Nacht da sein und das Land mit ungeheurer Gewalt an sich reißen, den Frost brechen, das Eis auf den Flüssen sprengen, den Boden öffnen und mit Wärme überschütten.
Es ging nicht so schnell. Fortschreitend von Süden nach Norden tritt ab Mitte Februar oder Anfang März alljährlich die große Schmelze ein, die Zeit des Schlammes und der Wegelosigkeit. Die Straßen ohne festen Unterbau werden unbefahrbar. Der Boden ist bis zu anderthalb Meter tief gefroren und taut nur langsam auf, die Schmelzwasser haben keinen Abfluß und verwandeln die ebenen Flächen in Sümpfe. Drei, vier Wochen lang können Ortschaften, die nicht an einer Rollbahn liegen, von jedem Verkehr abgeriegelt sein. Die Leute verwenden, um über den Hof zu gehn, angeblich Bretter, die sie mit Schnüren – als führten sie Zügel – gegen die Sohlen pressen; wir haben es nirgends so gesehen, sie stapfen, ohne viel Aufhebens davon zu machen, mit den bloßen Stiefeln durch den Schlamm. Daß Fahrzeuge kehrtmachen mußten, weil die Räder sich in den Grund zu mahlen begannen, haben wir einige Male erlebt. Auch festere Straßen wurden gesperrt, damit ihre Decke, die nun auf dem tauenden Untergrund zu schwimmen beginnt, von den schweren Kolonnen nicht eingedrückt wird.
Wann nun eigentlich hier der Frühling beginnt, kann niemand genau sagen; die Ukrainer versichern, er komme heuer um volle zwei Monate zu spät, und mitunter hört man – unter freundlichem Lächeln zwar – die Lesart, man sei selber schuld daran.
Wir waren Ende März hundertfünfzig Kilometer ostwärts gezogen. Am Ostermontag, es war der 6. April, stand ich am Fluß und sah den riesigen Eisschollen nach, die langsam vorübertrieben. Die Ufer eine arktische Landschaft: beiderseits in Stromesbreite von Eis bedeckt, das in mächtige, dreiviertel Meter dicke Tafeln zerbirst, sich langsam verschiebt, plötzlich absackt, so daß sich breite Klüfte auf tun, aus denen das Wasser steigt. Es ist ein heimliches, unberechenbares Wirken und Beben, ein Knistern und Krachen, und wenn vielleicht auch einer das Gesetz zu errechnen vermöchte, nach welchem hier Wärme und Kälte, Wasser und Eis, Last und Kraft miteinander einig zu werden versuchen (denn auch hier zielt das Ganze wohl auf Einigung und der Krieg ist bloß der Weg zu ihr), das Gefühl würde er dennoch nicht los, ausgeschlossen zu sein von einem Vorgang, der nicht menschlichen Gesetzen unterliegt. Der eisfrachtende Fluß zog vorüber, als täte er es in einem tausendjährigen Auftrag; das Eis verschob sich und zerfiel mit leisem Bersten, als erinnerte es sich einer alljährlichen Pflicht; der Mensch hatte nichts damit zu tun.
Aber es war herrlich, an diesem Fluß zu stehn und den großen, einfachen Dingen zuzuschauen, die da geschahen. Von den Häusern kam das Geschrei spielender Kinder, das Krähen der Hähne. Ein Stück flußaufwärts kauerte ein Junge auf der äußersten Scholle und versuchte mit einem Leinennetz zu fischen. Eine Möwe flog darüber weg. Sonnenschein und helle Farben; Leute kamen von der Kirche heim, weitleuchtende Sträuße von künstlichen Blumen in den Händen. Nun konnte es doch nur noch ein paar Tage dauern, dann mußten die Knospen platzen.
Aber erst einen Monat später sah ich zum erstenmal jenen grünen Anhauch des Bodens über dem Fluß drüben, der einem wie ein holder Schreck durch die Glieder fährt. Das Stück Grün war freilich nicht größer als ein ordentliches Hausdach, und ringsum war alles braun, falb, schwarz. Die Bäume vor dem Fenster hatten wohl schon ihre silbergrauen, purpurn gesprenkelten Kätzchen, aber das Laub stak noch in den Knospen, die Wurzeln fanden in der Tiefe noch klamme Schichten eiskalter Erde und brachten den Saft wohl nur mühsam in die oberen Organe. Der Himmel, schwer von grauem Gewölk, machte das Licht stumpf und trübe. Nein, es wollte nicht werden.
Aber manchmal war doch ein Abend, der schon die ganze Süße enthielt, die in das wachsende Jahr steigt wie der Honig in die Blüte. Immer zog es uns zum Fluß. Das Eis an seinen Ufern schmolz, eines Tages waren die Haltepflöcke für das Seil der Fähre in den glitschigen Boden gerammt. Mittels eines kleinen Holzklöppels zog der Fährmann den Kahn von Ufer zu Ufer. Das Wasser stand um uns wie ein See, tiefblau und purpurn vom Widerschein des Abends, die braune Kirche, die braunen Hütten, die braune Erde und darüber der wolkige Himmel in leidenschaftlichen Farben. Der Aufruhr des Lichtes im Gewölk, die Gewaltsamkeit des Rot und Gelb auf den von der tiefen Sonne getroffenen Häusern – das Leuchten konnte sich in wenigen Minuten so steigern, daß man hätte glauben mögen, nun und nun müßten die Flammen aus den Wänden schlagen –, all das ging in völliger Stille vor sich und war dadurch nur um so erregender. Die Mauern der großen Mühle glühten in warmem Rot, und schon wenn man über den Staudamm auf sie zuging, kam einem der Getreidegeruch entgegen und sie schien als riesiger Backofen über dem Fluß zu stehn, die glühende Mitte des kornwogenden Landes. Noch lagen die meisten Felder freilich brach; wo sie gepflügt waren, trat das tiefe Schwarz der Erde hervor, eine Farbe, die hier oft große Teile der Landschaft beherrscht und ihr einen fast finsteren Ernst verleiht. Aber sie ist nun keinen Tag gleich, die Bilder wechseln oft von Stunde zu Stunde.
Neulich war ein Morgen, an welchem weißes Gewölk in kräftigen Wülsten, einer über dem andern, um den Horizont lag, das Blau dazwischen war anders als sonst, die Natur schien aufgewühlt, ein frühester Tag der Schöpfung war angebrochen, starkes Licht quoll aus den Wolken und ging in schrägen, milchweißen Strömen nieder.
Dann gab es wieder wunderbar zarte Tage, an denen helle runde Wolken langsam durch das Blau zogen und die Kätzchen der Pappeln silbern schimmerten, das kahle Astwerk wie Gold glänzte. Es ist unmöglich, das Wetter für den nächsten Tag vorherzusagen, die Bauernregeln, die ich von zu Hause her weiß, stimmen hier nicht. Es gibt Bilder, die in keinen bisher erlebten Frühling passen – wie der gleichmäßig graue Himmel z. B., unter dem das Land so fahl wird, als käme Hagel oder ein Sandsturm; bei uns daheim wäre dies ein stiller, regenerwartender Tag. Hier fegt von früh bis spät ein kühler Sturm unter dem glatten Himmel dahin, der unbewegt bleibt, als wäre er aus graugelbem Stein.
Überall graben die Leute um ihre Häuser den Boden um, flicken sogar die Zäune, was sie schon lange nicht mehr getan haben dürften, denn bei den meisten nützt auch das Flicken nichts mehr. Abends gehn die Mädchen zu zweit spazieren und die Landser sowohl wie die Ungarn merken, wozu sie sich schön gemacht haben. Auch draußen auf den Ackerflächen wird gearbeitet – es geschieht nach Maßgabe der deutschen Anbauplanung – und da war es neulich ein Bild von großartiger Einfachheit, als etwa acht oder zehn Männer in einer Zeile über den Acker schritten und im gleichen Takte säten. Nichts als der schwarze Boden, die Männer in erdfarbnem Gewand und hinter ihnen der graue Himmel. Da an Arbeitskräften, Traktoren und Brennstoff nicht gerade Überfluß herrscht, behilft man sich streckenweise damit, den Samen in die Herbststoppeln zu werfen und mit der Egge darüberzugehn. Gedüngt braucht nicht zu werden.
Wir querten auf einer Dienstfahrt eine langgezogene Talmulde, in der der kleine Fluß kein rechtes Bett zu haben schien; so hatte er sichs rechter Hand der Straße als See bequem gemacht. Die flachen Hänge grünten, einzelne Eschen, Birken und Weiden standen im Wasser, das Tal war sanft gekrümmt, auf der Höhe des Ufers stand ein kleines Gehöft. Man begegnet hin und wieder solchen Landschaften; sie können außerordentlich schön sein, von einer zärtlichen Schönheit, einer stillen, lächelnden Anmut. Einen bäurisch derben Zug verliehen dem lieblichen Tal drei Fischerinnen, die, bis zu den Hüften im Weiher, ein Netz ans Ufer zogen. Sie wateten hinein und heraus, standen mit ihren Stiefeln und schweren Weiberkitteln unbekümmert in der kalten Flut, gingen in ihr herum und hantierten mit dem Netz, als gäbe es da weit und breit kein Wasser. Als sie ihre Beute dann den Hügel hinauftrugen, klebten ihnen die Röcke an den Schenkeln wie schwarzglänzende Robbenhaut.
Auf der Straße nach Kiew – immerhin hundert Kilometer – ist ein ewiges Hin und Her von Männern, Frauen und Mädchen. Alles schleppt sich mit Säcken oder zieht das Seine in kleinen, selbst gebauten Fahrzeugen hinter sich her; zwei Räder und eine flache Bretterkiste, armseligst zusammengenagelt, ist das ganze Wägelchen. Die meisten kaufen in den Dörfern Lebensmittel und machen am Tage vierzig bis fünfzig Kilometer; es scheint keine Rolle zu spielen, wie lange sie einiger Eier wegen auf dem Marsche sind. Oft trifft man ganze Familien unterwegs; am Straßenrand wird gerastet, gegessen, geschlafen, alles auf der nackten, noch feuchten Erde. Die grau und braun gekleideten Gestalten scheinen dann mit dem Boden zu verwachsen, oder, aus seinem Stoffe geformt, ihm zu entsteigen. Wo eine niedrige Böschung an der Straße Schützenlöcher aufweist, braucht man bloß ein Stück feldeinwärts zu gehen und man ist auf der Stätte, auf der die russischen Versuche, den deutschen Vormarsch aufzuhalten, zusammengebrochen sind. Da kann es sein, daß aus einer aufgerißnen Furche eine Totenhand sich dir entgegenstreckt, schwarz wie die Erde, zu der sie nun wird, und du sinnst eine Weile dem Geheimnis der Verwandlung nach, den stofflichen Formen der Unsterblichkeit. Weit draußen geht ein lautloser Regen nieder; wo er hintrifft, werden Keime und Knospen aufbrechen, das Grün wird aus den Bäumen, aus dem Boden quellen wie eine gestaute Flut, es wird die Toten hinabnehmen bis zu den Wurzeln des Lebens. Dann erst wird der Frühling diese Erde im Arm haben wie ein bereites Weib, wird lieben und zeugen, damit sie Leben gebäre und nicht Verwesendes. Zur gleichen Zeit aber werden unsere Kameraden aus den Gräben steigen, die Panzer werden zu rollen beginnen, die Geschütze zu dröhnen, die stählernen Vögel herabzustoßen – denn es muß ein Ende werden mit der Herrschaft des Finstern, des Eiskalten, des Hasses und der Sünde wider das Leben und den Geist.
*
Die Stadt, in der wir nun hausen, gefällt uns, obwohl zwei Drittel von ihr zerstört sein mögen. Sie liegt an einem Nebenfluß des Dnjepr, sein rechtes Ufer ist ein wenig erhöht, Fels durchbricht hin und wieder das Erdreich, flußaufwärts steht Wald. Der Ort selbst ist weiträumig angelegt und geht an den Rändern in bäuerliche Siedlung über. Wir haben einen schönen Neubau gefunden und fühlten uns noch nirgends so rasch zu Hause wie hier. Mein Zimmer, weiß getüncht, zwei Fenster nach Nordwest, eins nach Südwest, mit dem Blick auf Bauernhütten, hinter denen Stücke des Flusses sichtbar sind, auf nahe Baumkronen, einen jungen Obstanger und das jenseitige Ufer, dieses Zimmer war mir von der ersten Stunde an lieb. Es erinnert an die Stube eines Tiroler Pfarrwidums, und es ist wie diese von einem Geist weitabgewandter Heiterkeit erfüllt. Weiß ist die mönchische Farbe, die Farbe des einfachen Lebens und jener fruchtbaren Nüchternheit, aus der die Gedanken kommen. Wenn der Abend durch die Scheiben glüht, atmet es rosig über die Wände hin, oder die Sonne hängt scharfkantige Spiegel aus purem Gold an die Wand, hellblaue oder tiefviolette Schatten wirft das Fensterkreuz, das Papier auf dem Tisch ist behaucht wie von Lebendigem. Bald wird die Krone der Silberpappel des Morgens einen grünen Schimmer verbreiten und so wird der Tag wechselnd über die weißen Mauern gehn.
Ein Freund schrieb mir, er habe noch keinen Vorfrühling inniger genossen als den heurigen, »das Ansetzen, Grünwerden, Knospen«. Mir geht es hier nicht anders. Auch daran erkenne ich den Krieg. Im Menschen muß es tief unter dem Bewußtsein ein Organ geben, das, ähnlich einer Waage, immerzu nach Ausgleich verlangt. Der brutale Appetit des Landsknechts, dieses Raufers mit dem Tod, nach Rauschmitteln und Weibern ist der primitivste Ausdruck dafür. Warum sollte die ungeheure Zerstörung, mit der ein Krieg über die Erde geht, in empfindsameren Naturen nicht eine plötzliche Hinneigung zu den Anfängen des Lebens bewirken? Zu allem Keimenden, Sprossenden, zärtlich zu Behütenden? Das Maß ist verletzt und will wiederhergestellt sein.
Ich erinnere mich, Farben und Formen der Natur niemals erregter begegnet zu sein als nach langer Krankheit. Ist es ein Wunder, daß einen, der seit drei Vierteljahren nur noch zwischen Trümmern lebt, täglich an zerstörten Häusern, brandschwarzen Straßenfronten, an Schutt und Asche vorüberkommt, eine aufblühende Primel auf seinem Fensterbrett entzückt, so oft er sie anschaut? Daß er erschrickt, wenn sie eines Morgens die Blätter hängen läßt, weil er ihr am Abend Wasser zu geben vergaß? Es ist zu wenig gesagt, daß er erschrickt; er ist von dem Gefühl einer Schuld betroffen, weil er eine Pflicht versäumt hat, für die er sich vor dem Leben selbst verantwortlich weiß.
Nichts Holderes als dieses Gewächs: das helle Grün des Blattwerks, das blasse Lila der Blüten um einen winzigen hellgrünen Kelch, die blonden Härchen an den Stengeln, dazu die strotzende Schwärze ukrainischer Erde, aus der die Schäfte fleischig, erst rötlich, dann grün, sich erheben, in kraftvoller Bewegung aus einem Wurzelknoten sich lösend, den Fangarmen gewisser Meerestiere ähnlich, aber nach obenhin das üppige Schwellen des Triebes immer mehr und mehr verbrauchend, um sich schließlich in der Blüte ganz in Zartheit, Leichtheit, Licht und Farbe, ja, gleichsam in etwas Geistiges zu verwandeln. Das Auge kann sich nicht sattsehn, täglich entdeckt es die Schönheit des Geschöpfes aufs neue und in Einzelheiten, die dem ersten Blick entgangen sind. Naturkundlern sind sie längst bekannt, und wahrscheinlich kann man sie in jeder Botanik auf das bequemste nachlesen; aber wie der Liebende den Körper der Geliebten anders entdeckt als der Arzt, der ihn weiß, so nehme ich das Längsterforschte mit einem Staunen wahr, das die Freude an der schönen Form, der zarten Farbigkeit zum Entzücken steigert. Daß die Blüte z. B. mit einem langen, schlanken, fast farblosen Hals in einem fünfzackigen Kragen steckt, der ihn locker umgibt und der selbst wieder ein köstliches Gebilde ist, das hab ich erst dieser Tage einmal wirklich gesehn. Es ist eine Form von seltener Schönheit, offenbar aus fünf Kelchblättern zu einem Stück verwachsen, gotischen Sturmhauben, Halspanzern, Eisenmanschetten auf eine unerklärliche Weise verwandt, auch süddeutschen Kirchturmzwiebeln, im Pflanzenreich jedenfalls eine höchst eigenwüchsige Erscheinung. Die großen Blätter gleichen Gebilden aus hellgrünem Fleisch mit dunkleren Flecken; sie rufen die Vorstellung von zartesten Lungen hervor, die Licht atmen. Die Dolde der Blüten aber ist der eigentliche Sinn des Gewächses, jede einzelne frömmster Bewunderung würdig. Wie da der Rand jedes der fünf Blütenblätter gegen die Mitte zu in dunklem Violett, das Bogenstück aber, das ein Fünftel des Blütenumfanges bildet, mit einem Streifen helleren Lilas nachgezogen ist, das gibt eine Auflockerung der Farbe wie bei besten Aquarellen. Die silbernen Härchen an den üppigen Stengeln umhüllen sie mit konturauflösendem Licht, auch eines der Mittel, die Zartheit des Gewächses zu steigern.
Da wir in allen Zimmern Primelstöcke haben, kann ich Vergleiche anstellen, und da ist es verblüffend, daß es schon unter den sieben oder acht Exemplaren alles gibt, was wir in der menschlichen Gesellschaft zu finden gewohnt sind: derb gewöhnliche Naturen, leidenschaftliche, nichtssagende, dürftige und gleichsam von Geist beseelte. Es liegt in der Anordnung des Blattwerks, der Länge, Stärke und Richtung der Stengel, in der Farbe der Blüten und schließlich in einem ganz und gar unnennbaren Etwas, das diese Wesen voneinander unterscheidet wie uns.
Der Umgang mit Blumen – es steht noch ein Topf mit Tulpen, die noch nicht blühen, und eine kleine Palme im Zimmer – hat eine eigentümliche Gewalt, einen zu verwandeln. Vielleicht ist er aber nur ein Zeichen dafür, daß schon längst dieser Krieg an der Arbeit ist, das bisherige Leben in eine neue Richtung zu zwingen. Die Erfahrungen, die er vermittelt, übertreffen die in friedlichen Zeiten weitaus an Eindringlichkeit, sie beschleunigen das Wachstum keimkräftiger Anlagen, wie eine mineralische Lösung durch Erschütterungen den Anstoß zur Kristallisation empfängt.
So ist mir mitten in einem Kriege, der nun die ganze Welt in den Bereich seiner Schrecken, seiner unerbittlichen Forderungen, seiner unabsehbaren Folgen gerissen hat, eine Stille aufgebrochen, aus der ich wie aus einem Brunnen trinke. Er gleicht den ukrainischen Brunnen, bei denen nicht Tag und Nacht das Wasser aus dem Rohre sprudelt; sie sind vielmehr tiefe Schächte und das Wasser wird mit der Winde heraufgeholt. Wer aber hinabblickt, sieht in seinem dunklen Spiegel das eigne Gesicht, dahinter ein Stück Himmel und vielleicht das Gezweig eines Baumes, eine helle Wolke oder das rasche Vorüber eines Vogels.
Mußte der weite Weg gegangen werden, der Durst Jahr um Jahr sich steigern, damit man diesen Brunnen finde?
Die Stille, diese winzige ausgesparte Stille in der Brandung einer Zeit gegen die ihr zu eng gewordenen Dämme, ich weiß nicht, wessen Geschenk sie ist. Sie ist erfüllt von den wechselnden Bildern dieser Landschaft, dieses Frühlings. Sie ist erfüllt von Heiterkeit wie mein weißgetünchtes Zimmer. Noch einmal mußte die große Armut kommen, damit die verborgenen Truhen aufspringen. Sie war vor fünfundzwanzig Jahren so groß gewesen, daß sie das Leben nach dem Krieg wie ein saugender Strudel an sich riß; sie ist heute wieder so groß, vielleicht größer noch als damals, aber das Leben steigt aus ihr selbst herauf, sie braucht es nicht mehr an sich zu saugen.
Kommen diese Bilder an den Wänden nicht aus meinem Leben? Der jüngere von den Buben daheim hat sie für mich gemalt. Ich habe sie rahmenlos an die Wände geheftet und sie sind mir lieber als der echteste Tizian. »Hochbetrieb auf der Skiwiese von E. L.« heißt das eine (E. L. ist der Maler), »Der Frühling kommt, der Winter geht« ist ein anderes. Auf einem dritten ist ein kühn nach links gebogener Baum zu sehn, dahinter ein Bauernhaus, auf dem Hügel daneben eine Kapelle und im Vordergrund rudern zwei Buben im Renntempo einem Schwane nach, dem es vor ängstlicher Erregung nicht mehr gelingt, vom Wasser aufzufliegen. Eine glührote Herbstsonne sieht sich die traumhafte Verzauberung an, in der diese Jagd sich abspielt (Kinder sind oft Meister in der Darstellung solcher Vorgänge, solange sie keine Wirkung beabsichtigen und bloß ihrer träumenden Hand vertrauen). Mit wunderbarem Gefühl für Bewegung ist der Baum nach der Seite gebogen, nach welcher der Schwan entflieht. Auf einem anderen Bild, es ist in kaum angedeuteten Farben gehalten, lädt ein Almwirtshaus mit Tisch und Stühlen im Freien zur Rast ein, nicht ohne mittels eines Wegweisers zum Weitermarsch auf die Fleckalm aufzufordern. Besucher sind noch keine da, nur ein Pferd weidet die ersten grünen Spitzen ab, die um einen Frühlingsbaum aus dem Boden sprießen. Wie oft hab ich mich vor dieses freundlich einladende Wirtshaus gesetzt und den hellen, noch kühlen Vorfrühlingstag neben dem weidenden Pferde verdöst! Die Bilder meines Buben sind jedesmal ein Stück Tirol; ich hab sie um mich wie lauter kleine Fenster, durch die ich geradenwegs in das geliebte Land schauen kann. Da sind noch einmal zwei kleine Ruderer; ihre nackten Leiber haben die Farbe dunklen, warmen Ockers, das Boot ist rostbraun, der See fast violett; dahinter ein heller Wiesenstreifen vor dunklem Wald und dann steigt das »Horn«, ein kegelspitzer Berg, auf. Das Ganze ist farbig von schönster Einheitlichkeit und im Himmel stehn herzliche Grüße vom Herrn Maler. Zu Ostern bekam ich das »Tiroler Dorf«, mit hohen Bergen dahinter, in schweren, ernsten Farben gemalt, das prunkvollste Stück der Sammlung. Der Bauer spannt das Pferd vor den Erntewagen, sein Bub jagt die Hühner über den Weg, drei von ihnen sind auf den Misthaufen geflüchtet, die Häuser scharen sich um die Kirche, wie es bei uns daheim der Brauch ist, den Hügel hinter dem Dorf krönt die Kapelle und neben ihr stehn wie dunkle Kerzen zwei Pappeln. Es ist alles da, was unser Bergdorf ausmacht, ist von genau hinsehenden Kinderaugen in eine fast abstrakte Form gebracht und dennoch voll von leisen, verhaltenen Regungen des Gemüts.
Es mag fast frevelnd erscheinen, wenn ich so von meinem Zimmer und seinen Ausblicken in die Heimat spreche, während die Kameraden an der Front in Löchern hausen und Tag und Nacht vor dem Tode stehn. Aber sie werden es nicht anders halten, als wir es damals in den Kavernen und Unterständen des Grabens hielten: da hatte fast jeder über seinem Schlafplatz das Bild eines Mädchens hängen, eines Freundes, seiner Kinder oder irgendeine Ansichtskarte, die ihn mit dem Zuhause seines Herzens verband. Bei Gefallenen findet man die Photographie ihrer Familie und es gehört zu den erschütterndsten Augenblicken, wenn man den Toten vor sich liegen hat und zugleich das Bild in der Hand hält, das ihn mit Frau und Kindern zeigt, meist lächelnd, sonntaglich gestimmt und gekleidet, als wäre das ganze Leben ein freundlicher Feiertag.
Niemandem nützt es, wenn man sich härter legt, als man gebettet ist. Üppig ist das Leben auch hier bei uns nicht; so mögen die Bilder ruhig an der Wand hängen und weiterhin täglich das Herz erfreun.
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Während ich dies schreibe – es ist die Mittagsstunde des siebenten Mai –, rollt unter einem wolkenlos stählernen Himmel ein Sturm über das Land, rauschend, anprallend, rückflutend wie aufgewühltes Meer. Die Bäume schwanken, auch die großen, den ganzen Stamm hinab, obwohl ihre Kronen noch kein Laub tragen. Vom Horizont aber steigen hellbraune Wolken auf, nicht anders als der Qualm riesiger Brände, sie erheben sich hoch in den Himmel, verteilen sich und lassen nun schon das jenseitige Ufer des Flusses nur noch durch einen Schleier erkennen. Das Sonnenlicht verliert dort drüben an Glanz, die Hütten, die Bäume verwischen sich – im Südwesten aber gehn immer neue Sandwolken hoch, als schaufelte ein Riese dort drunten die Äcker leer. Die Luft ist erfüllt von feinstem Staub, der Sturm eher lau als kalt.
Nach den Eiszeiten Nord- und Mitteleuropas haben ungeheure Stürme den Moränensand der geschwundenen Gletscher hieher getragen und die mannshohen Lößböden aufgeschichtet. An einem Tag wie heut ist in diesem Land noch ein Erinnern an die Urzeiten der Erde zu spüren, eine ungebrochne, jungfräuliche Kraft. So ist der ukrainische Frühling am ehesten dem unsrigen in Tirol verwandt, wo er die Lahnen löst, während der Märzföhn durch die Täler stürmt. Wie der Inn blitzt der Fluß da draußen, als zögen Millionen silberner Fische vorbei – so jagt ihn der Sturm vor sich her –, der Wind schwillt um das Haus wie daheim, statt des Gebirges aber ist es die grandiose Weite, die einem das Idyll verwehrt und Geist und Gemüt der Größe, der Einsamkeit, der Freiheit verpflichtet.
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Unsre kleine Gemeinschaft lockert sich, als drängte sich die fülligere Luft dieser Tage und Nächte trennend zwischen uns. Die Abende werden lang, die Straßen beleben sich nach den Dienst- und Arbeitsstunden, auf dem Hauptplatz und in der verhältnismäßig engen Straße, die ihn nach Westen hin fortsetzt, entsteht so etwas wie eine Abendpromenade. Drei Gruppen von Spaziergängern begegnen sich dort: deutsche und ungarische Soldaten, ukrainische Hilfspolizisten und die Mädchen der Stadt.
Der Hauptplatz ist ein sehr großes Viereck, dessen Seiten zur Hälfte von zerstörten, ausgebrannten Häuserfronten gebildet werden, durch deren Fensterläden der Himmel schaut. In der Mitte des Platzes steht ein verschont gebliebenes markthallenähnliches Gebäude, bescheidene Anlagen umgeben den leeren Sockel eines Denkmals; wahrscheinlich stand hier ein Lenin oder ein Stalin aus Beton, wie man sie in allen Städten vorgefunden hat. Dieser Sockel ist aus gutem Stein; Würfel, Quadern und Platten sind symmetrisch auf- und nebeneinander geschichtet, als hätten Kinder nach einer völlig einfallslosen Baukastenvorlage gespielt. Die ausgebrannten Häuser weisen die üblichen Fassaden auf: unverputzter, getünchter Backstein, Bogenfenster, Balkone mit Eisengeländern, Renaissancegiebel der Neunzigerjahre, gemauerte, weiß gestrichene Säulen, die nichts zu tragen haben. Die Bauten der letzten Jahre vor dem Krieg sind durchwegs rote Ziegelhäuser, zeigen die geläufigen Formen der sogenannten Sachlichkeit und dienten, soweit sie nicht Kasernen sind, behördlichen Zwecken. Am erfreulichsten wirken noch immer die Bauernhütten am Rande der Stadt und die Kirchen, von denen einige zerstört sind. Nur die große Mühle ist ein guter, neuerer Bau, 1905 am linken Flußufer errichtet.
Die Stadt hatte ungefähr 50 000 Einwohner und soll früher ein gern gewählter Aufenthalt pensionierter Offiziere und Beamter gewesen sein. Sie ist heute noch, besonders an ihren Rändern, von unzähligen Bäumen durchsetzt, und das gibt ihr eine Freundlichkeit, als hätte die Landschaft sie dem Menschen nie ganz überlassen; sie ist gleichsam aus der Zeit ins Grüne entrückt, und daher kommt es, daß nun das Drängen und Zögern, das wunderbar verhaltene Wirken und Verwandeln des Frühlings sich unmittelbar vor unsern Augen abspielt.
Als ich aber neulich an einem sonnigen Morgen über den Hauptplatz ging, glaubte ich das Leben, das uns hier zuteil wird, tiefer zu verstehn. Der Krieg hat die Stadt ihres früheren, ihres eigentlichen Sinns beraubt. Viele von ihren Häusern sind nur noch Erinnerung an die Formen städtischen Daseins; nun blaut der Himmel durch ihre Mauern, die Wolken ziehn darüberhin, der Wind wohnt in den offenen Räumen. Die geschichtliche Zeit hält inne, an ihre Stelle tritt jene ohne Jahreszahl; es ist die alljährlich in sich selbst zurückkreisende Zeit der Natur. Daß diese nun über eine Stadt herrscht, mit der wir weiter nichts zu tun haben, als daß wir in ihr wohnen, macht unsre Tage und Nächte auf eine erregende Weise unwirklich. Als ich einmal über das Forum Romanum ging, hatte ich die gleiche Empfindung eines wunderbaren Befreitseins von der Zeit. Der ungeheure Himmel des ukrainischen Landes, dessen heller, schwebender Rand vom Glänze eines nahen Meeres durchleuchtet zu sein scheint, steigert noch das Gefühl, aller Menschenzeit ledig zu sein, gleichsam außerhalb ihrer Geschichte zu weilen. Das Zeitliche, das einen bewegt, spielt sich in großer Ferne ab: das Persönliche in der Heimat, das Allgemeine an den Fronten; das eine ist so weit fort, daß ein Gespräch mit der Frau, den Kindern oder den Freunden drei bis vier Wochen zu seinem Hin und Her braucht; über das Geschehen an den Fronten berichtet der Rundfunk, aber dies hebt seine Entfernung nicht auf und spricht nicht ein unmittelbares Bewußtsein in uns an, sondern jenes, mit dem wir überhaupt Berichtetes aufzunehmen gewohnt sind. Selbst unserer täglichen Arbeit fehlt die Unmittelbarkeit der Anschauung; wir sehen die Wirklichkeit dessen, worauf sie abzielt, nur selten. Dies alles bewirkt, daß man in einer großen Abgeschiedenheit lebt, am stärksten noch den Veränderungen der Atmosphäre hingegeben, den Farben der Wolken, dem Ziehen des Flusses, dem Leben der Tiere, die einem begegnen, dem Gehen und Lächeln der Mädchen. Eine unbestimmte, gefährlich zerlösende Sehnsucht bedrängt manchmal das Innere und droht die Klarheit des Bewußtseins farbig zu verwischen; es ist, als kündigte sich darin die Kraft eines panischen Sommers, die weibliche Glut einer Erde an, die von unerschöpflicher Fruchtbarkeit überschwillt. Schon ruht die Stille des Abends auf dem nicht abreißenden Geläut, als das sich das ferne Lärmen der Frösche anhört und das man erst wieder wahrnimmt, wenn es dennoch einmal aussetzt; schon ist eine fast schwüle Weichheit auch im kühlen Wind, man fühlt sich wie von Armen der Luft umschlungen, in süßes Dunkel gezogen und liebkost; am Morgen aber in den blauen unendlichen Raum gehoben, aus dem man auf die Länder hinabsieht und auf das Meer.
Es ist schwer zu sagen, warum fast jeder Ausschnitt der Landschaft, ja selbst Straßenbilder mit Ruinen und Schutthaufen schön sind. Einer der Gründe ist sicherlich ihr Entrücktsein aus der Zeit, von dem schon die Rede war; ein anderer ist wohl die große Einfachheit der Formen. Der Fluß und seine Ufer, die Mühle und der Staudamm, die weiße Kirche auf dem Hügel über dem Fluß, die Fähren auf dem unmerklich strömenden Wasser – das alles ist schön, weil es nichts anderes sein will als es ist, Ding und Erscheinung sind eins. Schön ist es auch, weil es farbig von größter Sparsamkeit ist – außer an leidenschaftlichen Abenden –, am Morgen von Bläue durchhaucht, mittags trotz des sich mehrenden Grüns vorwiegend falb, hellbraun, den Strohdächern ähnlich, die in allen Stufen der Verwitterung seidig schimmern.
Man begegnet vielen schönen, langhaarigen Ziegen hier; die meisten sind schneeweiß. Ein Abend wird mir trotz seiner trüben Schwere lange in Erinnerung bleiben, weil ich dem Spiel zweier Zicklein zusah, die voreinander aufsprangen und zurückfallend mit den Köpfen so gegeneinander schlugen, daß es krachte. Sie hatten richtige Bubengesichter, drollige Dickschädel, und ihre unermüdliche Rauflust, die keinen Augenblick den Charakter brüderlichen Spiels verlor, sie aber zu den verrenktesten Sprüngen zwang, war von bezaubernder Komik. Die Mutter sah ihnen eine Weile – man möchte am liebsten sagen – kopfschüttelnd zu, wandte sich dann aber an ihren ernsthaften Beruf des Fressens, als wüßte sie um die geheimnisvolle Chemie, durch die das Gras, das ihr schmeckte, zur Milch wird, die wieder den beiden Rangen schmeckt. Offenbar, um diese frühzeitig auf wirtschaftlich eigene Beine zu stellen, hatte man ihnen den süßen Quell verstopft, indem man das Euter der Geiß mit einem Sack verhüllte; auf der Weide sieht man die Geißen fast immer so, wenn Jungvolk dabei ist. Macht schon dies den Eindruck, als mischte sich der Mensch ungebührlich nutznießend in eine Welt, die ihm zwar anvertraut ist, deren schöne Unschuld aber unter seinen Händen gleichsam ihren Flaum verliert, so war es für mich empörend zu sehn, wie er den weidenden Pferden mitspielt. Ich glaubte zuerst, einem kranken, krüppelhaften oder gar verrückt gewordenen Tier zu begegnen. Es weidete; wenn es sich aber fortbewegte, hob es mit einem Ruck den Kopf und beide Vorderbeine, setzte sie zugleich einen Schritt vorwärts, so daß es einen Augenblick lang aussah, als sei es mitten im Sprunge erstarrt, und zog dann die Hinterbeine eins nach dem andern nach. Erst beim Näherkommen sah ich, daß man ihm die vorderen Fesseln mit einem dicken Strick verbunden hatte. Später fand ich die quälerische Art, sich die Aufsicht über weidende Tiere zu ersparen, auch bei Rindern angewandt; da und dort waren Hennen und Hähne mit einem Bein an den Zaun gebunden, und ich sagte mir: nein, es ist nichts mit dem Menschen, er wird von Freiheit nur immer reden, aber nie etwas von ihr verstehn, auch von der eigenen nichts.
Es ist immer gleich wunderbar, einem Tier zum erstenmal zu begegnen. Das erste Schneehuhn, der erste Auerhahn, das erste Wiesel im Hermelin, die erste Forelle, das erste Tagpfauenauge, die erste Nachtigall – sie gehören zum Leben, nicht bloß zum wahrgenommenen, sondern zum einverleibten, ins eigne Innere verwandelten Leben. Und es ist des Nachdenkens wert, warum die Begegnung mit dem fremden Tier im zoologischen Park gegen eine unvermutete im Freien so stark verblaßt.
Neulich traf ich den ersten Wiedehopf. Er lief vor mir über die Straße, ein wenig gravitätisch, wie es ihm seines sonderbaren Kopfschmucks wegen geziemt, im wesentlichen von brauner Farbe – es ging zu rasch, als daß ich sein Kleid genauer hätte mustern können –, aber als er fortflog, war er ein herrlicher Farbenfächer, der sich spreitete und der die Pracht ebenso plötzlich wieder in sich nahm, da er sich schloß. Daß ich niemals von ihm mehr erfahren werde als dieses farbige Fächern im Flug, zeigt, wie weitgehend wir uns aus der Gemeinschaft alles Lebendigen gelöst haben, um Dingen nachzuhängen, die wir merkwürdigerweise das Leben nennen.
Den Tag darauf flog ein himmelblauer, märchenhaft blauer Vogel vor uns her; Schwarz und Weiß blitzten während des Fluges in seinen Schwanzfedern auf. Er glich den Nachmittagen, die nun mit hellen, aber plastischen Wolken, mit Fluß und Kirche, kleinblättrigen Bäumen wie auf himmelblaues, spiegelnd glattes Porzellan gemalt sind.
Auf einem der abendlichen Spaziergänge kam ich zum erstenmal an dem Haus vorbei, in welchem Ljuba wohnt. Sie macht mein Zimmer sauber, wäscht meine Sachen und erzählt mir manchmal, was ihr gerade durch den Kopf geht. Sie lebt von der Hoffnung, daß ihr Mann eines Tages doch noch zurückkommt, sie wußte ihn zuletzt an den Kämpfen östlich Borispol beteiligt; seither hat sie nichts mehr von ihm gehört. Als sie das Bild meiner Tochter an der Wand sah, brachte sie mir nachmittags ihre Kleine, ein hübsches, überaus blondes Kind, zutraulich und scheu in einem. Ljuba selbst ist trotz ihrer sechsundzwanzig Jahre gleichsam ohne bestimmtes Alter, sie wechselt in ihrem Aussehen fast täglich. Das, was man an einem Gesicht russisch oder östlich zu nennen gewohnt ist, fehlt ihr ganz, wie es unzähligen Ukrainern fehlt; sie könnte ebensogut aus Salzburg, Frankfurt oder Königsberg sein. Sie hat eine schöne Stimme und singt bei einer nationalen Chorvereinigung Sopran. Die Ukrainer singen alle gern. Melodie und Harmonie ihrer Lieder erinnern an alte Kirchentonarten, die Mehrstimmigkeit mündet am Versende häufig ins Unisono, und das Dur ist seltener als das Moll.
Ich war auf meinem Spaziergang zuerst an der weißen Kirche auf dem erhöhten jenseitigen Flußufer vorbeigekommen, hatte einen Blick hineingeworfen und ein wenig dem Psalmodieren zugehört, mit dem der Pope in starrendem Brokat eine Andacht hielt – es klang halb weinerlich, halb beschwörend, im ganzen unklar, ob empfunden oder bloß geläufig –; vor der Kirche, unter abendlich glühenden Kiefern, saß ein blinder Bettler. Die Augen fehlten ihm ganz, aber er wandte den Kopf, als könnte er einen mit den Höhlen sehen. Als ich ihm den Obolus gegeben hatte, begann er laut zu beten, viele große Kreuze zu schlagen und seine Stimme in dem Maße zu verstärken, in welchem ich mich von ihm entfernte. Doch war sein Gehaben von wirklicher Überzeugungskraft, und ich freute mich seiner feierlichen Fürbitte.
Dann kam ich an Ljubas Haus vorbei. Ich sah sie in der Türe stehn und grüßte; sie forderte mich auf, einzutreten.
Fast immer darf man sich über die Sauberkeit freuen, die in ukrainischen Wohnräumen herrscht. Ljuba war sehr befangen, ihre Scheu schwand jedoch, als ich Galina, das Töchterchen, begrüßte. Die Zimmer sind meist angefüllt von Hausrat, Erinnerungsstücken, Bildern; eine uns fremde Art von Gemütlichkeit durchwärmt sie, und man spürt, das Leben muß hier doch anders empfunden werden, vielleicht auch die Liebe anders und der Tod. In der Ecke steht der Gummibaum – so häufig hier wie bei uns die Zimmerlinde –, in der andern hängt das Heiligenbild. Ich fragte nach dem sechsjährigen Sohn, den ich noch nie gesehen hatte. Er spiele irgendwo draußen, sagte die Mutter, und ich verabschiedete mich.
Aber auf dem Heimweg kam ich noch einmal vorbei. Ich war schon vorüber, als die Haustür aufgerissen wurde. Das war der kleine Boris. Er mußte von der Mutter gehört haben, daß ich nach ihm gefragt hatte, und als sie mich wieder vorbeikommen sahen, lief er vor die Tür. Ich stieg die zwei, drei Holzstufen hinauf, um ihn zu begrüßen. Er stand abwartend da, mit einem festen, prüfenden und zugleich vertrauenden Blick in den braunen Augen. Er war noch ganz Kind mit seinen winzigen sechs Jahren, aber es lag eine eigentümliche Wärme in seinem Blick, ein freundlicher, lächelnder Ernst, wie er einem Erwachsenen nicht besser hätte anstehen können. Ich gab ihm die Hand; er hielt sie fest und auch dies wieder auf eine sehr eindringliche Weise, dann sagte er: »Komm!«
Die Kinder hier lernen rasch Deutsch, die meisten sprechen schon ein paar Sätze, aber in keinem, schien mir, hätte können mehr ausgesagt sein als in diesem »Komm!« Ein kleiner fremder Bub vor dem fremden Offizier, vielleicht kann er fünf oder zehn Worte, aber sein Herz wählt das eine, das schönste, vertrauensvollste. Mir war zumut, als hätten Boris und ich einen gemeinsamen Schritt ins Künftige getan, einen kleinen Schritt in den Frieden.