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Die große Schlacht um Kiew war geschlagen. Unsre schnellen Verbände flogen nach Osten, auf Poltawa, auf Charkow zu. Der Bereich des Befehlshabers Ukraine dehnte sich bis zum Dnjepr. Damit war für uns das Zeichen zum Aufbruch gegeben.
Ich hatte mit einem Unteroffizier zwei Tage zurückzubleiben und das Haus der uns ablösenden Einheit zu übergeben. Trotz der gastlichen Aufnahme, die wir fanden, fühlten wir uns unbehaglich, wie es Kindern in den ersten Stunden ergeht, wenn man sie von ihrer Familie trennt.
An einem kalten, regenstürmischen Oktobersonntag verließen wir Rowno. Man hatte uns den besten Wagen zur Verfügung gestellt, einen heizbaren BMW, in den ich mich um so lieber setzte, als ich erfuhr, er stamme von Innsbrucker Bekannten; jeder kleine Zufall solcher Art ist in der Fremde willkommen.
In den Regen mischten sich bald die ersten Flocken, das Land rechts und links der Straße verschwand hinter dem wehenden Grau, schattenhaft trat ab und zu ein Gehöft, eine Baumgruppe, ein heimtrottendes Stück Vieh aus dem Ungewissen, wie um zu zeigen, daß die Welt noch da ist. Aber sie vergingen im Nebel so rasch wie sie gekommen waren, lautlos, gespenstisch. Straße und Wagen, das Gebrumm des Motors, hin und wieder ein Wort zwischen uns – dies war der kleine Rest von Wirklichkeit, das übrige hatte sich in Tropfen und Flocken gelöst und kreiste mit dem Wind an uns vorbei.
Kein Glanz lag auf den Goldkuppeln der Kathedrale von Shitomir, die mit ihren zackigen Formen einer Kaktee oder einer grauen steinernen Blume glich. Wir hatten nicht Zeit, sie zu besuchen. Im Soldatenheim gab es Warmes zu essen, leider ohne Besteck; die ukrainische Bedienerin lieh mir einen Löffel, sie hatte drei oder vier in der Schürzentasche stecken, für Leute, die nicht praktisch genug sind, das Notwendige immer bei sich zu haben. In der Stadtkommandantur stellten uns slowakische Soldaten Passagierscheine aus – wir waren berechtigt, Kiew zu betreten.
Nach einer Stunde Fahrt hatten wir einen Reifenschaden. Die Reparatur auf offener Straße, über die der Wind feinen Schneestaub blies, gab einen kleinen Vorgeschmack russischen Winters. Bald würde man links und rechts der Rollbahn die Lattenzäune gegeneinanderlehnen, die im Winter streckenweise die Straßen begleiten, um sie gegen Verwehungen abzudecken.
Je näher wir der Stadt kamen, um so stärker wurde der Verkehr. Bauernfuhrwerke drängten sich immer dichter zwischen die Lastwagen der Wehrmacht, Männer und Frauen wanderten am Straßenrand stadtwärts, freigelassene Ukrainer marschierten einzeln und in kleinen Gruppen ihren Dörfern zu – es war, als zöge die große Stadt mit magnetischer Kraft das Leben aus dem Raum und atmete es ein und aus. Beim Dunkelwerden waren wir in Kiew.
*
Ich hatte mich seit Wochen auf die Stunde gefreut, in der ich die uralte heilige Stadt betreten würde; in vielen russischen Büchern war sie mir begegnet, leuchtend mit hundert goldenen Kuppeln, breit und reich am großen Strom, und ich glaubte, eine spürbare Seelenkraft müsse von ihren Klöstern und Kirchen ausgehen, ihrem ehrwürdigen Alter, dem Strom und dem Himmel darüber, zu dem seit tausend Jahren die Gebete aufsteigen.
Aber die Straßen waren von stählernen Igeln gesperrt, das Pflaster da und dort aufgerissen, die Leitungsdrähte der Straßenbahn hingen zerrissen herab, ihre Wagen standen seit Wochen auf der Strecke. In ärmlichen Kleidern schlurften Männer und Frauen durch die Straßen, noch armseliger die Kinder. Die Häuser gleichgültig, zinsbürgerliche Allerweltsgebäude einer Großstadt, die Oper ohne Glanz, die Kirchen wie gestorben, kein Gedränge vor ihren Toren, als hätte man längst vergessen, wozu sie erbaut sind, kein Kaufladen weit und breit, keine Werkstatt, kein Gasthaus, kein Café. Als es Nacht wurde, verschwanden die Menschen von den Straßen, nur noch die Wagen der Wehrmacht dröhnten durch die tote Stadt.
Als wir nach dem Abendessen noch eine Weile beisammensaßen, meldete einer unserer Männer, am Ostrand der Stadt stehe ein großes Haus in Flammen. Wir traten ans Fenster und sahen über den Dächern den rosigen Schein. Es war das gleiche Bild wie in Lemberg, bloß gewaltsamer durch seine Nähe: wie ein Raubtier mußte das verborgene Feuer über seiner Beute liegen, man sah am Widerschein des Himmels, wie sein Atem flog. Von Zeit zu Zeit klatschte ein Gewehrschuß durch die Stille.
Am nächsten Morgen ging ich durch die Innenstadt. Sie war vor einer Woche durch die Explosion einer Mine in Brand geraten und nun eine einzige phantastische Ruine. Da die Stadt auf hügeligem Gelände erbaut ist und die Straßen steil auf und ab führen, glichen Trümmerhaufen, Hausmauern, stehengebliebene Pfeiler den zerbröckelten Wänden felsiger Schluchten, den Schutthalden öder Kare – eine grausig tote Berglandschaft, durch die Automobile fuhren. Ich sah lange einer alten Frau zu, die in den Trümmern nach Holzresten wühlte. Sie sammelte die verkohlten Stücke in einen Sack; mit unbegreiflicher Geduld schob sie die Ziegel zur Seite, ihre Hände glichen selbst verbranntem Gebein, in ihrem Gesicht war kein anderer Ausdruck als der des langsamen und gründlichen Suchens; es war, als sammelte sie für die Ewigkeit, aus der sie gekommen zu sein schien.
Die Stadt war unversehrt gewesen, als unsere ersten Truppen in sie eindrangen; aber der Feind hatte sie während der Wochen der Belagerung in einen tückischen Vulkan verwandelt. Ungeheure Mengen von Sprengstoff waren in den öffentlichen Gebäuden eingemauert, an die Lichtleitung angeschlossen oder mit Funkempfängern verbunden, die auf einen bestimmten Sendeton ansprachen, einen elektrischen Kontakt schlössen und die Mine zur Entzündung brachten. Es war also möglich, von Moskau oder Samara aus Häuser in Kiew zu sprengen, und dies ohne andere Verbindung als die des Äthers. Damit hat das technische Wesen einen Grad nüchterner Dämonie erreicht, der den Spekulationen der grausam verfeinerten Macht über Raum und Zeit und Leben entspricht.
Die ersten Abende ging ich mit einem ähnlichen Gefühl zu Bett wie 1917 auf unserem Kriegsberg, durch den sich der Gegner immer näher unter unsere Stellung herangewühlt hatte. Doch verfügten wir damals über Abhorchgeräte, die uns täglich den Fortschritt seiner Arbeit meldeten, und außerdem trieben wir ihm eigene Sprengstollen entgegen; hier aber war alles längst fertig und wartete bloß auf den Summerton eines versteckten Senders oder das Knipsen eines Schalters, um sich mit ungeheurer Gewalt zu entfesseln und halbe Stadtviertel in Trümmer zu legen.
Aber man macht sich auch damit vertraut, wenn es einige Male Morgen geworden ist, ohne daß etwas geschah. Es ist fast so, als wenn das Bewußtsein der Gefahr das Eigentliche in uns nie ganz erreichte; ein innerster Kern bleibt unversehrbar, und gerade in ihm, der sowohl unserm Verstand wie unserem Willen kaum zugänglich ist, wurzelt unser Lebensmut.
An einem klaren Herbstmorgen sah ich zum erstenmal von dem Ostrande der Stadt auf die Landschaft des Dnjepr hinunter. Einen Augenblick lang verschlug es mir den Atem, so machtvoll tat sich die Weite auf, aus der der Fluß kam und in die er dahinzog. Alles, was ich bis dahin an Weite und Größe des östlichen Landes gesehen hatte, war gleichsam nur Ausschnitt, Andeutung, Vorstufe dessen gewesen, was nun als unvergleichliche Einheit, als etwas Vollkommenes und durch nichts mehr Ergänzbares vor mir lag. Nun erst wußte ich, was den großen Flächen gefehlt hatte, durch die ich gefahren war, und daß die Straße den Strom nicht zu ersetzen vermag, der unaufhörlich Ferne daherträgt, um sie wieder mit sich in die Ferne zu führen.
Das Schönste an diesem Strom ist seine Freiheit. Sie wird nicht kleiner dadurch, daß er seinen Weg die Landstufe entlang gewählt hat, die nun sein rechtes Ufer bildet. Zu seiner Linken ist flaches Land. Indem er es zerteilt und mit vielen Armen umschlingt, verwandelt er es in eine langgestreckte Seenlandschaft. Als echter Herrscher besitzt er die Ebne: er läßt einen Teil seiner Wasser zurück, um die eroberten Flächen festzuhalten, während er selber weiterzieht, unbekümmert um die gesprengten Brücken, die versenkten Schiffe, die mit rostenden Kielen über den Strom ragen; dies alles ist Menschenwerk, kurzatmig, zerbrechlich, unernst – gemessen an seinem hohen Alter, vor dem die Zeit nichts ist, an seiner Kraft, mit der er sich den Raum unterwirft, an seinem Ernst, den das Gesetz des Planeten durchwaltet; vor diesem Gesetz sind unsere Bemühungen doch nur Spiele.
Auf dem Rand des Bergufers steht das alte Lawra-Kloster, und Pilger, die von Osten kamen, müssen die Türme und Kuppeln von weither glänzen gesehen haben. Die Stadt selbst ist von jener Seite des Flusses nicht sichtbar; sie liegt in den Falten der Hochfläche, deren Steilrand zum Dnjepr turmhoch abfällt. Der Strom fließt langsam, und so lebt er in allen Farben, die ihm der Himmel schenkt und die er, strömend, unaufhörlich verwandelt. Ich sah ihn hellgrün, mit Gold durchwirkt, morgenländischem Gewebe vergleichbar, ins bräunlich gelbe Land gebreitet wie ein kostbarer Teppich; ich sah ihn himmelblau – da war Frühling mitten im Herbst; schneeweiß – da wurde die Weite grenzenlos, und er glich einem Streifen fernen Meeres; am Abend aber in allen Tönen und Verwandlungen der Röte, vom Rosa der Flamingos bis zum schwersten Blutrot, vom Flammengold bis zum triumphierenden Scharlach; am schönsten, wenn eine Farbe die andere wie Lasur überhauchte, so daß reinster Smaragd durch helles Messinggelb schimmerte oder dunkles Kupferbraun unter dem Purpur des Sonnenuntergangs zu ahnen war. Wenn nun noch Schiffe stromauf und -ab zögen, Reiter und Wagen seine Breite querten, die Züge der Eisenbahn sich in der östlichen Ferne verlören! Aber vielleicht ist er gewaltiger so. Als ich das erstemal auf ihn hinabsah, war die Holzbrücke gesperrt. Sagenhaft versunken schien die Zeit des Menschen, die Eisenbrücken hingen von den Pfeilern ins Wasser, ein Kriegsschiff lag gestrandet auf einer Sandbank – der Mensch schien verschollen, aber der Fluß war da wie vor Millionen von Jahren, und er strömte dahin, als wäre nichts geschehen. Zehn Kilometer aufwärts nahm er die Deßna zu sich, es schimmerte dort von hellen Streifen, spiegelnden Flächen. So war es, als zum erstenmal ein Mensch von diesem Ufer hinaussah ins fernhin Verlockende; so wird es sein, wenn ein letzter menschlicher Blick Himmel, Strom und Land umfängt, so satt von Erfahrung, als wären sie endlich heimgekehrt in ihn.
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Der Bolschewismus hatte trotz der gründlichen Proletarisierung des Volkes das Bedürfnis, sich in prunkhaften Staatsbauten auszuleben. Das Ratshaus der Volkskommissare in Kiew ist ein dreiteiliger Bau, dessen Mittelstück in einem flachen Bogen zurückweicht und die beiden Seitenflügel um drei Stockwerke überragt. Die riesige konkave Fläche der Front ist durch vierzehn Quadersäulen gegliedert; daß sie dunkle korinthische Kapitäle tragen, will so wenig in das große Format passen wie die Zierobelisken auf dem Dach. Es ist schwer, das Gefühl näher zu bezeichnen, das einen beim Anblick solcher Bauwerke überkommt; denn es ist im wesentlichen ein Gefühl der Leere, das sich bei dem Gedanken an die tausend Bürozimmer hinter der mächtigen Fassade nur noch verstärkt.
Ich habe Bilder vom »Haus der staatlichen Industrie« in Charkow gesehen; da wird mit fast kindlichem Eifer der Wolkenkratzerstil Amerikas nachgebetet. Diese Häuser, würfelig, prismatisch neben- und hintereinandergestellt, die Wände nichts als Fensterreihen, sehen aus wie weiße Skelette, und trotz ihrer Jugendlichkeit liegt eine Art Totenstarre über ihnen. Der erste Blick auf sie macht einen staunen, denn die Ausmaße sind gewaltig; aber es fehlt ihnen etwas Entscheidendes: sie sind Verkörperungen des puren Willens, nicht der Seele. Auch Profanbauten können Zeugnis ablegen von der Frömmigkeit eines Geschlechts, wie die Burgen der Ritterzeit, die Zunft- und Rathäuser des frühen Bürgertums, die Paläste der Renaissance, sogar die Wirtshäuser, von den Bauernhöfen ganz zu schweigen. Sie sind beseelt, weil sie aus der Einheit des Lebens hervorgegangen sind, einer Einheit des Lebens in jedem Betracht. Aber wenn nur noch der Wille baut und wenn er dies innerhalb einer Gesellschaft tut, die keine höhere Daseinsform kennt als die der abstrakten Macht, dann entsteht nichts wahrhaft Lebendiges mehr. Schon das Kolosseum in Rom ist ein solcher Bau. Er erschreckt durch seine Brutalität, und nur mit einem Gefühl des Grauens geht man durch die Räume, in denen die Gladiatoren auf den Ruf der cäsarischen Tuba gewartet haben. Die dumpfen Kellergewölbe sind die Kehrseite der Kaiserloge.
Es war in den drei Wochen, die wir in Kiew lagen, nicht möglich, einen Überblick über die Anlage der Stadt zu gewinnen. Dazu kam, daß gerade das Geschäftsviertel zerstört war, die Fabriken zum größten Teil still lagen und die Stadt noch immer unter dem Banne dessen stand, was über sie hereingebrochen war. Das trübe, nasse Herbstwetter stimmte mit alledem überein. So bot sich uns der verzerrte Schatten eines Lebens dar, das einmal reich und farbig gewesen sein mag. In tausenderlei Gestalt schien das Elend selbst durch die einstige Metropole zu schwanken, nachts aber lebten die Geister der Zerstörung wieder auf, die man gebändigt glaubte.
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Im Zuge eines bestimmten Auftrages hatte ich den Befehl erhalten, über den Dnjepr zu fahren, und zwar in die Gegend, in der vor gut vierzehn Tagen die große Vernichtungsschlacht östlich Kiew zum Abschluß gekommen war. Ein Kraftfahrer und zwei Unteroffiziere begleiteten mich. Der Wagen war ein kleiner Mercedes.
In zwei scharfen Kehren führt die Straße zum Strom hinab. Seit einigen Tagen schon war die etwa siebenhundert Meter lange neuerbaute Holzbrücke dem Verkehr übergeben worden. Trotz des trüben Wetters rief der Blick über das Dnjeprland jene Freude zu Fahrt und Weite wach, die in die Gedanken an den Auftrag immer einen Schuß Neugier und abenteuerlicher Erwartung mischt. Bis Borispol führte die gepflasterte Straße; ehe wir uns den Wegen anvertrauten, die sie nach Osten hin fortsetzten, sprach ich bei verschiedenen Dienststellen vor, um Erkundigungen einzuholen. Dabei traf ich abseits der Straße auf einem fast herrschaftlichen Gutshof einen älteren Hauptmann. Er wohnte in einer kleinen Knechtekammer – das stattlichere Gebäude war nicht beziehbar –, gab sich als Schulrat aus dem Oberbayrischen zu erkennen, und wir kamen rasch in ein Gespräch über Fragen der Landschule, bald tauchten zwischen unseren Sätzen gemeinsame Bekannte auf, und erst als ich mich verabschiedete, merkte ich, wie verloren sich unsere Unterhaltung in diesem Lande für einen Dritten ausgenommen hätte. Wir waren eine halbe Stunde lang dem Raume wie der Zeit nach weit fort gewesen, wir hatten von daheim und den Jahren nach dem Weltkrieg gesprochen.
Auf dem Fensterbrett lag eine Mustersammlung russischer Infanteriemunition, ganze und säuberlich halbierte Patronen aller Art; sie waren an einer beschrifteten Tafel befestigt und erinnerten mich an das Schulpräparat »Die Entwicklung der Seidenraupe«, das vom Ei bis zum Kokon das Leben des nützlichen Tieres in allen Daseinsstufen zur Schau stellte. Daneben lag ein russisches Wörterbuch, und der Hauptmann jammerte, daß er mit dieser zyrillischen Sauschrift nicht auf gleich käme; eine seiner Aufgaben bestand nämlich darin, die Beschriftung des Patronenmusters zu entziffern und zu übersetzen. Er schilderte mit bayrischer Saftigkeit, wie sehr ihn seine Bude verdrieße; die Mäuse zu zählen, die ihn nachts besuchten, das sei er beim Licht dieses Kerzenstumpfs gar nicht imstande, der Ofen funktioniere nicht, und seine Einsamkeit sei so groß, daß er manchmal glaube, zwischen Dnjepr und Ural der einzige Mensch zu sein. Trösten läßt sich ein richtiger Bayer nicht, aber es wird ihm leichter, wenn er sich ausschimpfen darf. Am Ende unserer Begegnung war er heiter und guter Dinge, wir gingen lachend auseinander.
In Borispol begannen die russischen Straßen. Es nützt nichts, sie im Film gesehen oder von ihnen gelesen zu haben, man muß buchstäblich in ihnen steckengeblieben sein, um sagen zu können: ja, die russischen Straßen! Es hatte tagelang geregnet. Da verwandeln sie sich in zwanzig Meter breite, ein Viertelmeter tiefe Schlammströme; ein zäher schwarzer, fettig glänzender Teig ist die Fahrbahn, gefurcht von den schweren Gleiskettenwagen, durchsetzt von wassergefüllten Mulden. Ihre ungewöhnliche Breite rührt daher, daß sich jeder bemüht, nebenher am Rande des festeren Ackerbodens zu fahren, der sich dadurch schließlich auch in »Straße« verwandelt. Da unser Wagen so niedrig war, daß er an schlimmen Stellen aufsaß, verließen wir überall, wo es ging, die Fahrbahn und rollten über die harten Stoppelfelder hindernislos dahin. Der Blick schärft sich und lernt bald, die sumpfigen Stellen rechtzeitig zu erkennen, wir wichen ihnen selten straßenwärts aus, sondern fuhren in großem Bogen übers Feld um sie herum. Dabei gab es mitunter natürliche und künstliche Gräben zu überwinden, Strecken zurückzufahren, den Wagen zu heben, zu schieben, aber das alles bringt einen noch vorwärts. In der Nähe der Ortschaften mußten wir freilich jedesmal auf die Straße zurück; mit einigem Spürsinn und noch mehr Glück kommt man auch dort weiter.
Wir hatten von Borispol aus den südlicheren Strang gewählt, weil er uns fahrbarer erschien als der nördliche; an diesem aber lag das Dorf, in das wir wollten. Hinter X. kreuzte ein nordsüdlicher Weg unsere Bahn. Nach der Karte mußte er wenigstens in die Nähe unseres Zieles führen, zumindest auf die nördliche Straße treffen. Wir bogen daher in scharfem Winkel nach links ab. Die Fahrbahn war etwas härter, wir zogen es dennoch vor, neben ihr über die Äcker zu fahren. Da es weit und breit keinen Zaun gibt und die Felder ununterscheidbar ineinander übergehen, so daß eigentlich ein einziger Acker sich bis an den Horizont erstreckt, kann man es ohne Bedenken wagen, wenn nötig auch weit um die eingestreuten Sümpfe herumzufahren, man darf bloß die Straße nie ganz aus den Augen lassen. Die unsere aber verlor immer mehr von ihrer teigigen Schwärze, sie schien fester zu werden, und plötzlich hörte sie ganz auf oder war unter die Grasnarbe verschwunden, so daß sie nicht mehr zu erkennen war. Wir hofften, sie hin und wieder zu ertasten, aber sie unterschied sich von dem steppenartigen Boden nicht mehr, auf den wir geraten waren. Es begann uns aufzufallen, daß uns kein Fahrzeug einholte, keines entgegenkam, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Das Land war öde, kein Bauer begegnete uns, kein Tier; um uns der bräunliche Boden in unendlicher Erstreckung nach allen Seiten und darüber der graue Himmel, aus dem es dünn und trocken zu schneien begann.
Wir fuhren längst nur noch über freies Feld, als etwa fünfhundert Meter vor uns ein Gehöft auftauchte. Es bestand aus ein paar braunen Hütten unter braunen Strohdächern, doch war eine von ihnen größer und ordentlicher gebaut als die übrigen. Dort mußte die Straße wiederzufinden sein; aber da spürten wir einen widerlichen Geruch im Wagen, die Räder drehten sich langsamer, und schließlich blieben sie ganz stehn – Kuppelungsbelag durchgebrannt, erklärte der Fahrer mit erstaunlicher Ruhe.
Wir stiegen aus und sahen uns um. Trostloses Land, meinte einer. Er hatte recht, aber ich weiß nicht, etwas an dieser Ode ergriff mich bis ins Herz hinein. Daß Menschen dies ein Lebenlang ertragen, nichts um sich zu haben als Acker und Himmel! Sie leben wie auf einem Schiff, das mitten im Meere unbeweglich festliegt. Welch ein Vertrauen zur Erde muß sie erfüllen, und wie reich muß es von ihr vergolten werden! Ich stellte mir vor, man zwänge mich heute, bis zu meinem Ende auf diesem Gehöft zu leben – schon bei dem Gedanken daran fühlte ich, wie die Zeit in den Boden versank; es würde gleichgültig werden, ob man sie nach Tagen oder nach Jahren zählt, sie ließe sich gar nicht mehr zählen. Nur daß Winter wird, Frühling und Sommer, nur an dieser Wiederkehr würde man spüren, daß man alt wird. Denn was ist noch meßbar in solcher Unermeßlichkeit?
Ich schickte die beiden Unteroffiziere zu dem Gehöft, und obwohl niemand hier Deutsch versteht und keiner von uns auch nur ein einziges Wort Russisch oder Ukrainisch spricht, kamen sie nach einer Weile mit zwei Paar Pferden zurück, von zwei Bauern begleitet. Der eine war ein lebhafter Mann mit lustigen Augen und einer scharfen Raubvogelnase, der andere bärtig, dumpf, langsam und wie aus dem Winterschlaf gerissen, den er schon glücklich begonnen hatte. Wir fragten sie durch Gebärden, wozu sie die beiden Wagen mitgebracht hätten und forderten sie auf, die Pferde auszuspannen. Aber alle Zeichensprache versagte. Sie taten, als wären die Tiere an die Wagen geschmiedet für ewige Zeiten. Da krümmte der Lebhaftere von den beiden seine Arme vom Kopf weg nach oben und außen, und er wiederholte dies so lange, bis wir verstanden, daß er damit Ochsen meine. Wir erwiderten die Gebärde zum Zeichen, daß wir begriffen hatten, und ein unbeteiligter Zuschauer wäre in Zweifel darüber geraten, ob wir uns auf diese Weise bekanntmachen oder verhöhnen wollten. Wir beschlossen, den Mann wieder zurückzuschicken, nicht ohne höfliche Begleitung, die Pferde mußten für alle Fälle hierbleiben und der aus dem Winterschlaf Gestörte auch. Es war zu befürchten, daß er wieder in ihn zurücksinke – solange dauerte es, bis die beiden wiederkamen. Aber sie brachten richtig ein Paar Ochsen mit; es waren die langsamsten, die es in ganz Rußland gab. Sie gehörten wohl dem langen blonden, außerordentlich übelgelaunten Burschen, der ihnen hin und wieder die Peitsche gab und in der Linken ein vorsintflutliches Joch trug. Drahtseil und Stricke hatten wir selbst mit.
Das Dorf, in das wir wollten, kannte er, aber er zeigte keinerlei Freude, als wir es ihm nannten. Wahrscheinlich lag es doch weiter ab, als wir vermuteten.
Ich weiß nicht, warum ein Auto, von Ochsen gezogen, so ungemein lächerlich wirkt. Meine Laune wuchs sich zum reinsten Übermut aus, wenn ich, nebenher trottend, das Gespann betrachtete. Da schwankte der kleine Wagen im Tempo eines Leichenzuges über das Stoppelfeld, der Fahrer saß drinnen und tat so, als steuerte er ihn, vorne aber stampften zwei gewaltige Ochsen stumpfsinnig dahin, ein Joch aus Olims Zeiten um den Hals, den langausschreitenden Treiber neben sich, der sein Gesicht in Falten einer abgründigen Verdrossenheit legte und hin und wieder zu einer langen, klagenden Rede ansetzte, die mit lauten Beschwörungen begann und in tiefem Gemurmel erstarb. Mir gefiel, was er sagte, es klang schön und überzeugend, ich hätte ihm stundenlang zuhören können und wußte bloß nicht, was er meinte.
Zugleich erweckte dieser Marsch einer winzigen Gruppe über die unendliche Fläche hin das Gefühl einer solchen Verlassenheit, daß es sich gleichsam überschlug und ins Gegenteil verkehrte: nie füllte ich mich in diesem Lande geborgener als an jenem Nachmittag, da wir nicht mehr wußten, wohin es ging, und unser Häufchen unter dem riesigen Himmel, auf der riesigen Ebene zu einem Nichts zusammenschrumpfte. Geborgen im Verlornen – so seltsam ist der Mensch.
Plötzlich hatten wir die Straße vor uns. Alle meine Bemühungen, den Mann zu veranlassen, er möge neben ihr auf dem Acker bleiben, schlugen fehl; er führte das Gespann mitten hinein in den Schlamm. Eine Weile ließen es sich die Ochsen gefallen, dann setzten sie ihre Beine immer bedächtiger, der Wagen sank immer tiefer, und schließlich kam der Augenblick, in welchem das Ganze stand. Die Reden des Treibers schwollen zu wahren Lamentationen an, die Peitsche schnalzte den Tieren um die Köpfe, sie wichen ihr bald nach links, bald nach rechts aus und drohten, starrsinnig wie sie waren, in die Sümpfe zu gehn, zwischen denen gerade an dieser Stelle der Morast der Straße das einzig Feste war. Bei jedem Peitschenhieb schoben wir an, selber bis zur halben Wade im schwarzen Teig steckend, aber der Wagen blieb wie festgeleimt. Es nützte auch nichts, als wir ein zweites Paar Ochsen, das in der Ferne aufgetaucht war, heranholten und einspannten; wir hatten nur alles verdoppelt: das Gespann, die Peitsche, das Gebrüll und die Hilflosigkeit.
Auf dem Wagen, dem wir die Tiere entliehen, saß ein Mädchen. Sie hatte ein braunes, südliches Gesicht und dunkle Augen, wie man sie hier selten sieht. Es war weder Scheu noch Feindseligkeit, mit der sie mir zuhörte, bloß völlige Fremdheit. Zigeunerinnen können einen so ansehen, und man fühlt, daß es keine Brücke herüber oder hinüber gibt. Ich wies ihr die Uhr, nannte das Dorf und fragte durch Zeichen, wie lange man dorthin brauche. Sie zeigte mit dem Finger auf eine Ziffer und sagte ein einziges unverständliches Wort dazu; doch meinte ich erraten zu haben, daß der Marsch in dreiviertel Stunden zu schaffen sei. Ich ließ die Ochsen heimkehren und machte mich mit einem der beiden Unteroffiziere auf den Weg.
Die Schlacht östlich von Kiew war das Ergebnis einer gewaltigen Umfassung; in ihrem Verlaufe schloß sich der Ring immer enger um den Gegner, und hier war die Mitte des Kessels, in der seine letzte Kraft gebrochen wurde. Seit zweieinhalb Wochen waren die kämpfenden Truppen Hunderte von Kilometern weitermarschiert, die Geschütze verstummt, der Lärm der Motoren verhallt – Schweigen und Leere waren eingetreten, die Stille eines ungeheuren Friedhofes lag über dem Land. Wir begegneten niemandem mehr. Vor dem Dorfeingang lagen auf einer Wiese zwölf tote Pferde, rechts der Straße über den Boden gestreut ganze Kisten voll kleinkalibriger Granaten, Gasmasken, zum Teil neu, zum Teil angesengt oder verbrannt, Stahlhelme, Patronentaschen, Brotbeutel. Einige Schützenlöcher, eilig aufgeworfen und voll Patronenhülsen, und die frischen Soldatengräber erinnerten unmittelbarer an den Kampf um das Dorf. Eine alte Frau brach hinter dem Zaun ihres Anwesens Blumen – es waren wohl die letzten in diesem Jahr – und verschwand ins Haus, als sie uns kommen sah. Die Hütten waren wie ausgestorben. Es hatte zu schneien aufgehört, und durch das dünne Gewebe, das den Himmel überzog, drang ein gelber Schein.
Das Dorf war so weiträumig gebaut, daß man nie mehr als zwei Häuser zugleich übersehen konnte, aber die deutsche Ordentlichkeit hatte Tafeln und Wegweiser angebracht; die Dienststelle, die man brauchte, war unschwer zu finden. Trotzdem war es höchst eigenartig und fast erregend, durch das vollkommen stumme Dorf zu gehn, keinem Menschen zu begegnen und das Gefühl nicht loszuwerden, die Schatten der Gefallenen starrten einem nach und die Stille sei gar keine echte Stille, sondern bis zum Ersticken gefüllt mit Schlachtlärm und Wehgeschrei, aber stumm. Ein Zug Feldgendarmerie war hier eingesetzt, um die Kraftwagen abzuschleppen, die von den Russen zurückgelassen worden waren. Der Zugführer schätzte die Gesamtzahl der Wagen, die, auf engem Raum zusammengedrängt, in unsere Hand gefallen waren, auf fünftausend. Die Hälfte davon sei verbrannt; ein Fünftel der andern Hälfte etwa sei fahrbar gewesen und von der kämpfenden Truppe mitgenommen worden; aus dem Rest hole sein Zug nun täglich das Brauchbare heraus, und mit Hilfe russischer Gefangener ließen sich aus zehn Fahrzeugen vier soweit wiederherstellen, daß man sie zu leichten Fahrten verwenden könne.
Dies erzählte er mir, nachdem er für uns Quartiere besorgt und mir den Traktor zur Verfügung gestellt hatte, der unsern Wagen aus dem Dreck ziehen sollte. Da ein solcher Traktor nicht mehr als acht Kilometer in der Stunde fährt, war mit seiner Rückkehr vor Einbruch der Dunkelheit nicht zu rechnen. Dies machte mir Sorge, und die Berichte über Partisanen-Überfälle, die sich gerade in dieser Gegend an den letzten Abenden ereignet hatten, waren nicht harmlos genug, um die Besorgnisse zu verscheuchen. Ich atmete auf, als die Zugmaschine endlich den Wagenpark verließ, und meine heißesten Wünsche begleiteten sie.
Der Boden des Hofes, über den sie fahren mußte, war unergründlich. Die Leute, die hier arbeiteten und den ganzen Tag hin- und herstapften, trugen hohe Gummistiefel über dem Schuhwerk. Bei jedem Schritt hatte man das Gefühl: wenn es möglich wäre, müßten die Beine im Schlamm ersticken. Es tat wohl, sie in der Bauernküche, die der Leutnant mit fünf seiner Männer bewohnte, von den Stiefeln zu befreien und auszustrecken. Er stellte mir für die Nacht eine russische Tragbahre zur Verfügung, lud mich zum Abendessen ein, und ich fühlte mich bald in die Unterstände des Weltkrieges zurückversetzt, in denen die Armseligkeit der Einrichtung meistens durch die Gemütlichkeit des kameradschaftlichen Beisammenseins reichlich wettgemacht wurde. Die Küche selbst war wie alle russischen Küchen: von einer Wand her ragte ein mächtiger Ofen fast in den halben Raum herein, mit dem Vorbau, auf dem man kochte, und dem Hinterbau, auf dem man schlief. Die Leute meines Gastgebers hatten es vorgezogen, Stroh auf den Boden zu schütten, und der Leutnant selbst muß irgendwo die letzte brauchbare Bettstatt aufgetrieben haben, sie stand einladend an der Fensterseite.
Wie gut sind die paar Stunden solcher Gastfreundschaft, in denen die Schüssel dampft und der Kamillentee durch einen Schuß Fünfundneunzigprozentigen zu einem kriegerischen Getränk wird! Der Tabakqualm verwischt die Grenzen des Raumes und der Zeit, und man lebt ganz nur im Gespräch, in der Wärme des Menschlichen, in Erinnerung und Traum. Im Zimmer nebenan schrie ein Säugling; auch durch die furchtbarsten Formen des Todes ist das Leben nicht unterzukriegen.
Als der Traktor in den Hof ratterte und der Mercedes brav hinterdrein schwankte, war alles gut. Über den Strohdächern stand ein weicher herbstlicher Nachthimmel und in ihm als einziger Stern, wie es sich hier gehörte, groß und rot der Mars.
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Was am nächsten Tag von halb acht Uhr früh bis zwei Uhr nachmittags an Unverdrossenheit, Geduld, kameradschaftlichem Helfen für die Aufgabe verwandt wurde, uns abzuschleppen, müßte man in jedem kleinsten Zuge erzählen. Was ging die beiden, die den Lastwagen führten, unser verunglücktes Fahrzeug an, das ihnen wie ein Klotz am Bein hing? Sie waren auf Verpflegungsfahrt und liefen Gefahr, einen oder zwei Tage zu versäumen und dies nur unsertwegen; aber ihr Humor und ihre Unermüdlichkeit waren nicht einen Augenblick lang zu erschüttern, auch dann nicht, als das Zugseil, an dem wir hingen, zum fünfzehnten Mal aussprang und zum dritten Male riß. Immer wieder holten sie es aus dem Schlamm, hängten es ein, knüpften es, machten die Gleisketten um zwei Glieder enger, und dies alles im kalten Morast dieser Straße, die eine hauchdünne Frostschicht trug. Für leicht erregbare Leute wäre es eine Nervenmarter gewesen – wir hatten Geduld gelernt, und das ist es, was man in diesem Lande am nötigsten braucht.
Schon gestern waren uns lange Züge von Gefangenen entgegengekommen, nun wanderten sie vor uns her, in unabsehbaren Kolonnen, erdbraun, stumpf, schweigsam. Jedem, der diese Massen dahinziehn gesehen hat, kommt einmal der Gedanke: wie ist es möglich, daß dreißig, vierzig Soldaten genügen, um zwei- bis dreitausend Männer, die aus der Schlacht kommen, ins Lager zu führen? Sie marschieren meilenweit durch fast unbewohntes Gebiet. Es müßte ihnen ein leichtes sein, auf einen gemeinsamen Entschluß, ein einziges Signal hin die paar Begleiter zu entwaffnen und in die Dörfer, die Wälder, die Sümpfe zu verschwinden. Sie tun es nicht. Es gibt keine andere Erklärung dafür als die, daß der Wille des Gefangenen gebrochen ist. Nicht die Schrecken der Schlacht haben ihn ermüdet und mutlos gemacht, auch die Angst vor den Folgen seiner Tat hält ihn nicht zurück, sondern der Augenblick, in welchem er mit Hunderten von Kameraden die Waffe wegwarf und die Hände erhob, der Augenblick dieser einen Gebärde hat den Willen in ihm getötet. Er sah sich wie im Spiegel, als alle die Arme emporstreckten und waffenlos dem Feinde entgegengingen, und dieses Bild brannte sich ihm unauslöschlich in die Seele. Ein geschlagener Mann – das ist mehr, als der Wille zu ertragen vermag; er bricht zusammen. Nach Wochen des Lagers, der Arbeit, des Nachdenkens wird er sich in Einzelnen wieder erheben, aber ohne seine alte Kraft, Gemeinschaften zu bilden und mit hundert anderen Willen in einen zu verwachsen; daher die Flucht Einzelner oder kleiner Gruppen, kein Versuch, die gemeinsame Aktion zu wagen.
Es war ein eindrucksvolles Bild, als Tausende auf offenem Felde rasteten. Von unzähligen kleinen Feuerstellen stieg der Rauch auf und vermischte sich mit dem golden durchsonnten Dunst des Herbstmorgens. Im Gegenlicht wurden die reglos Stehenden, die Kauernden und Hockenden zu schattenhaften Gebilden, graublauen Formen des Bodens, Wacholderbüschen gleichend, zwischen denen es neblig schwelte. Zugleich hatte das Ganze den Schein der Unwirklichkeit, und als wir vorüber waren, konnte es die Rast wandernder Nomaden vor tausend Jahren gewesen sein.
Der Schlepper hatte seine linke Gleiskette verloren und konnte uns nicht mehr ziehen. Ich ließ ihn mit den beiden Unteroffizieren in die nächste Ortschaft vorausfahren, stieg aus dem tief im Schlamm begrabenen Wagen und hängte das Gewehr über. In der Nähe lag ein Park zertrümmerter und ausgebrannter russischer Kraftfahrzeuge, etwas abseits ein zerstörter Sanitätswagen und neben ihm ein kleiner Heuhaufen. Der Wind ging scharf über die Ebene und räumte mit dem Herbstnebel auf, der Himmel wurde blau, aber es war kalt. Wir steckten das Heu in Brand, der Wind riß brennende Fetzen aus dem Haufen und trieb den Rauch über die Fläche hin – knapp über dem Boden eine rasch hinrollende weiße Fahne, bis an den Horizont. Das Holz des Sanitätswagens war trocken und gab ein prächtiges Feuer. Es machte einen trunken, in die prasselnden Flammen zu schauen, ihre Farbe war rotes Gold, ihre Formen glichen unaufhörlich sich verwandelndem Geschmeide aus einer barbarischen Prunkzeit. Ich war so hingerissen von der Schönheit dieses Feuers, daß ich mir über die zwei, drei Infanteriegeschosse, die von irgendwoher über uns hinpfiffen, keinerlei Gedanken machte und beinahe den Lastwagen übersehen hätte, der nach einer halben Stunde schon zurückkam, eine »gefundene« Ersatzkette über den linken Rädern und wieder bereit, uns ins Schlepptau zu nehmen. Die Straße wurde etwas besser, die Bilder, die mir die beiden Tage geschenkt hatten, wirkten mit starkem Zauber nach, und so lachte ich bloß, als man mir in Borispol erklärte, man müsse uns abhängen, es ginge nicht mehr. Von hier hatten wir telephonische Verbindung nach Kiew und erhielten einen Wagen entgegengeschickt, mit dem wir um neun Uhr abends »zu Hause« waren.
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Diese Stadt bleibt mir fremd, und die Wochen, die ich hier lebe, dringen nicht in die Mitte des Bewußtseins. Ob ich allein oder unter Menschen bin, nie verläßt mich ganz das Gefühl der Unwirklichkeit. Ich komme aus einer kleinen Gesellschaft, und auch dort war es zwischen mir und den andern, es steigerte sich mit jeder Stunde, und als ich ging, glaubte ich aus einem Traum in den andern zu gleiten.
Ein junger Deutscher, in Rußland geboren, später in Berlin auf der Schule, führt im Auftrage des Reiches eine Verteilungsstelle, die an Volksdeutsche Wäsche und Kleider ausgibt. Er wohnt mit seinem Helfer im vierten Stockwerk eines Neubaues. Wir waren zu zweit zum Abendessen geladen, an dem auch vier Mädchen teilnahmen, Kinder deutscher oder gemischter Elternpaare. Zwei von ihnen waren Bedienerinnen – sie hatten gekocht –, die dritte besuchte eine Zeichen-, die vierte eine Ballettschule. Eine verstand kein Wort Deutsch, die andern waren imstande, das Nötigste zu radebrechen; der Gastgeber sprach vorzüglich Russisch.
Es gab Huhn mit Reis, sauber gedeckten Tisch und anfangs viel beiderseitige Hemmungen. Aber während sich mein Kamerad nach den ersten paar Gläsern Wodka zu unterhalten begann, merkte ich bald, daß ich einsam blieb und meine Einsamkeit von Stunde zu Stunde zunahm. Es kostete mich immer mehr Mühe, zu lächeln, zu trinken, etwas zu sagen, aber nicht etwa, weil mir die Gesellschaft nicht behagt hätte – die Männer waren frische, kameradschaftliche Leute, die Mädchen liebenswürdige Kinder –, sondern weil sich für mich alles in einer Art Gespensterwelt abzuspielen begann, und zwar so, als begäbe es sich nicht auf dem Boden des Zimmers, sondern ein Stück darüber, auf einer fremden, schwebenden Bühne. Wer kennt nicht das brennende Gefühl des Ausgeschlossenseins, an welchem nichts schuld ist als das Unfaßbare in uns selbst? Man kann das Wetter dafür verantwortlich machen, einen Traum, den man vergessen hat und der dennoch das Bewußtsein beherrscht, einen Brief – er braucht nur ein einziges Wort zu enthalten, das anders ist als erwartet –, es kann die Ausstrahlung einer Stadt, einer unseligen Sternstunde sein, qualvoll ist es, daß alles, was an einem solchen Abend unternommen wird, daß jeder Versuch, dem rätselhaften Einfluß zu entkommen, die Kraft des fremden Bannes nur noch steigert. So nützte es nichts, daß ein Plattenspieler lärmende Musik von sich gab, die Gläser sich rascher zu füllen und zu leeren begannen, ja, nicht einmal der Tanz, zu dem man nun aufstand, vermochte die Starre zu lockern, in der ich mich befand. Im Gegenteil, die Stunde entglitt mir ganz und gesellte sich zu jenen längstvergangnen, die ich in manchen Nächten nach dem Weltkrieg erlebt oder von denen ich in Büchern gelesen hatte; daß man tanzte, während Schmerz und Schrecken über das Antlitz der Welt zuckten, und daß sich in die Posaunen des Gerichts das heitere Klingen der Gläser mischte.
Für eine Weile fühlte ich die Wirklichkeit näher, als sich die Mädchen überreden ließen, russische Volkslieder zu singen. Besonders aus einer der Weisen, die zumeist in Moll standen, glaubte ich die Wärme des Bodens, eine gute, frühlingshafte Wärme zu spüren, und einen Augenblick lang wußte ich, was mir fehlte: bäuerliches Land, bäuerliches Leben, der alte, heilige Sinn der Welt. Aber es ging rasch vorüber, die Mädchen sangen lieber Tanzschlager, und da schwand der Boden wieder, auf dem ich daheim bin.
Der Gastgeber erzählte zwei kleine Geschichten; ich zeichne sie auf, weil sie über den russischen Charakter vielleicht einigen Aufschluß geben.
Die Familie des Erzählers lebte, wie gesagt, vor 1914 in Rußland, und er selbst war sieben Jahre alt, als der Krieg ausbrach. Sie wurden aus der großen Stadt, in der sein Vater ein wohlhabender Kaufmann war, weggeführt und in ein Dorf der kirgisischen Steppe verbannt. Anfangs litten sie unter der Feindseligkeit der Bewohner, entbehrten wohl auch die Bequemlichkeiten der Stadtwohnung und die lebendige Tätigkeit des kaufmännischen Betriebs. Aber bald wurde es anders: als die Bauern gewahrten, daß der Deutsche sowohl lesen wie schreiben konnte, daß er sich mit den russischen Behörden leichter zurechtfand als sie, hatten seine gelegentlichen Hilfeleistungen ein allgemeines Vertrauen, ja, eine Art scheuer Verehrung zur Folge. Der Internierte wurde wie von selbst zum Herrn des Dorfes, und jedermann fand es so in der Ordnung. Die Kinder spürten vielleicht den Umschwung am deutlichsten; gewohnt, vom Tage zu nehmen, was er zu geben hat, sahen sie unabsehbare Wochen der Freiheit vor sich, ritten des Morgens durch das Dorf, besaßen die Weite als riesigen Spielplatz und kehrten abends müd und satt von Abenteuern mit den Bauern heim. Der Erzähler schloß mit der Beteuerung: schönere Jahre als die vier des Weltkrieges habe er in seinem Leben nicht gehabt.
Die zweite Geschichte, eine kleine Begebenheit aus den letzten Tagen, bringt eine Verhaltensweise zur Anschauung, die wir nicht verstünden, wüßten wir nicht, wieviel an Härte, Leid und Geduld dem russischen Volk in den Jahrhunderten seiner Geschichte zugemutet worden ist. Trotz dieses Wissens aber bleibt uns die Seele fremd, die auf das, was ihr zustößt, so apathisch erwidert.
Der Erzähler fuhr in Begleitung eines Arztes der Wehrmacht durch Kiew. Da kam dem Wagen ein etwa vierzehnjähriger Knabe entgegen, das Gesicht blutüberströmt, die Hände in ein blutbeflecktes Handtuch gewickelt. Er lief nicht und schrie auch nicht, seine Haltung war gefaßt und wie von einem Auftrag bestimmt. Unser Gastgeber ließ halten, und während der Arzt den Schaden besah, fragte jener den Knaben um den Hergang des Unglücks. Da erfuhr er, daß das Kind mit irgendeinem Blindgänger oder einem Stück herumliegender Munition gespielt hatte. Ein Auge war ihm herausgerissen, den Händen fehlten die Finger. Man fragte den Buben, wohin er denn ginge. Er antwortete: Ins Krankenhaus. Ob er nach dem Unfall zu Hause gewesen sei. Ja, er habe der Mutter gezeigt, was ihm zugestoßen; sie habe bloß gesagt: Da hast du ein Handtuch, geh ins Krankenhaus! Daraufhin nahmen ihn die beiden Männer im Wagen mit und führten ihn zur Dienststelle des Arztes. Ohne Schrei, ohne Träne ließ er die Behandlung über sich ergehen, von welcher der Arzt sagte, sie sei ungewöhnlich schmerzhaft. Dann lieferte ihn unser Gastgeber ins Krankenhaus und machte auf Anraten des befreundeten Arztes, der die Verhältnisse zu kennen schien, die Leute darauf aufmerksam, daß er nachmittags wiederkäme, um sich nach dem Verletzten umzusehen. Offenbar war diese Versicherung nötig, damit man sich um den Buben überhaupt kümmerte. Am dritten Tage fand auch die Mutter Zeit, ihr verstümmeltes Kind zu besuchen.
Zwei von den Mädchen, die von den Erzählungen unseres Kameraden wenig verstanden, waren auf dem Diwan eingeschlafen. Sie lagen nebeneinander wie übermüdete Kinder, die überall Platz zum Schlafen finden. Auf ihren Gesichtern war der Schimmer der Jugend, ihre Körper zeichneten sich unter den Kleidern ab, frühlingshafte Gebilde, sie riefen Bilder von Märztagen hervor, warme Gartenerde, weiches Gewölk, süßes Blau hinter rötlichem Gesträuch.
Als wir vor das Haus traten, ging ein kalter, heftiger Regen nieder, sein Wasser rauschte in Bächen die steile Straße hinab. Aus tiefster Finsternis stürzte er zur Erde, und es gab keine trostlosere Vorstellung als die, daß nun ein ganzer Kontinent in völligem Dunkel liege, um mit keinem Fenster den Tod anzulocken, und daß in dieser Herbstnacht den Menschen auch kein Stern leuchte, um das Dunkel nicht zu stören, hinter dem sie sich voreinander verstecken.
Es ist Mitternacht. Hin und wieder ein Gewehrschuß auf der Straße, aber kein Schritt, kein Ruf, kein Schrei. Als schösse man im Weltraum hin und her, so klingt es, bald näher, bald ferner.
Im Hause ist es totenstill. Ich sitze wieder an diesem Schreibtisch, der nicht mir gehört, vielleicht ist einer an ihm gesessen, der anders an sich und die Menschen gedacht hat als ich, vor dem sie zu Aktenbündeln wurden, weil er ein Kriegsgerichtsrat oder ein öffentlicher Ankläger oder eine Registriermaschine war, denn dieses Haus war das Haus des Kriegsgerichts.
Die Straße, ein Stück weit hinauf und hinab, kann ich mir noch vor Augen rufen, als Bild, als Form und Raum, aber die Stadt schon nicht mehr, diese Anhäufung gleichgültiger Häuser, und viel weniger noch das Land mit den vielen Dörfern, den einsamen Höfen, den Hütten, den Wäldern und Straßen, den unermeßlichen Flüssen, dieses weite, weite Land.
Wenn du nun diese freundliche Lampe nicht hättest! Einzig ihr Licht läßt dich fühlen: hier bin ich. Da ist der Tisch, ein großes, schweres Stück mit Schubladen und verschließbaren Fächern, zu plump für die kurzen gedrechselten Beine und fast ein wenig unheimlich mit seinem Überzug aus schwarzem Tuch. Der Schrank, weiß Gott aus welchem Hausrat, rot gestrichen, wackelig, die Türe schließt nicht, an der Lade fehlt der Griff, das Ziergesims droht jeden Tag herabzufallen, aber die ganze linke Hälfte strahlt: ein einziges Stück geschliffenen Spiegels – es ist, als wenn ein Sterbender grinste. Auch das Bett gehört nicht dir, nicht die Matratze, und das Leintuch haben Leute benützt, die du nicht kennst und von denen du nicht weißt, ob sie es nun entbehren oder nicht; vielleicht entbehren sie längst nichts mehr. Wo kam wohl die Lampe her, die auf deinem Tische steht? Wer hat sie einmal gekauft und heimgetragen und zu einem Stück seines Lebens gemacht? Alles ist fremd, fast nichts ist dein, das Wesen Unbekannter hängt an den Dingen, die dich umgeben, und so bist du noch ärger allein als nur dadurch, daß keiner von denen bei dir ist, die du liebst. Du hast dich, ja, aber schon in diesem Zimmer beginnt die Fremde und wird fremder mit jeder Meile Landes, das sich in immer dunkleren Ringen um dich legt.
So schrumpft der Raum, den du wirklich besitzest, auf dich selbst zusammen, und ringum ist Leere. Die Fremde stiehlt dir den Raum weg, das Dunkel beraubt dich der Wirklichkeit. Du weißt die Welt, aber du lebst sie nicht mehr. Es ist die äußerste Einsamkeit, die Einsamkeit eines Tierfängers auf Spitzbergen, eines Mönchs in der Zelle; vielleicht eine ärgere noch. Wenn so die Welt nur noch an einem einzigen Punkte lebendig ist, dort nämlich, wo du bist, dann spaltet sich dein Ich, weil es ohne Du nicht leben kann, und du fängst an mit dir zu reden. Fernab rollt die Welt durchs Nichts: der Feuerkreis der Milchstraße, die Sonne, der Mars, der Saturn, die Erde – lauter Kugeln, helle, dunkle, glühende, versteinerte, trockne und von Wassern flutende, alles in allem ein merkwürdiges Spielzeug.
Da ist die Erde – wie ist es möglich, daß du mit ihr durch den Raum fliegst und daß du sie zugleich fliegen siehst, eine nachtschwarze Masse, bewölkt und da und dort bleich aufscheinend, weil der Mond darüber hingeistert, rauchend, rundum brennend von Krieg –, seit Äonen stürmt sie ihre Bahn, und was sich der Mensch darüber denkt, ist nicht immer das gleiche, aber es ist immer gleich hoffnungslos: Als du zur Schule gingst, sagte man dir, einmal müsse sie der Gewalt des größeren Gestirns erliegen und in die Sonne stürzen; neulich lasest du, auch die Kraft der Sonne werde erlahmen und unser Stern ihr mählich entgleiten, in immer größere, eisigere Kreise, bis sie ihn ganz losläßt und er ins Leere fällt. Was geht es dich an? Es ist Gottes Spiel.
(Aber daß der Mensch das Ende voraussieht, so oder so; daß er weiß, man spielt mit ihm, und daß er es dennoch ernst nimmt, das Große wie das Kleine, macht nicht dies seine Tapferkeit aus und seine Tragik? Nur zu wissen, was man tut, nicht, was mit einem geschieht!)
Jetzt aber, da du nur noch den einen Punkt hast, an dem du lebst – es ist dieser lächerliche Schreibtisch mitten in Rußland –, jetzt ist auch die Zeit nicht mehr dein; denn das eine ist nicht ohne das andere. Du weißt, wie der Inder sich ihrer entledigt: indem er den Baum auslöscht. Tust du zu dieser Stunde etwas anderes als er, wenn er auf die Mitte seines Bauches starrt? Du starrst in dich hinein und fragst dich, hab ich gelebt? Du lasest den Vers:
In der Zeit zu leben ist gesisterhaft.
Ja, das ist es; du kannst sie, wenn es über dich kommt, abstellen wie einen Motor, und wie dann die Stille anbricht, plötzlich, das pure Nichts, so bricht die reine Gegenwart an – oder die Ewigkeit –, und du warst nicht mehr, du bist nur noch. Hast du alles geträumt: Schulzeit, Krieg, Liebe, Kinder, Musik und deine Bücher, die Frauen, die Freunde? Es ist alles fremd geworden, wie der Raum um dich fremd ist, alles saugt die eine Stunde ein, die mitternächtige, sie hat die Jahre verschlungen, und wenn du dir Erlebtes gewaltsam zurückrufst, dann geschieht das Gespenstische: du siehst dich selbst, eine Figur unter Figuren, und das war doch nicht so, als du's lebtest! Ist alles gestorben, bist du dir selber tot, und gibt es nur noch diesen einen Augenblick, der hinstirbt, sobald er da ist?
So einsam war der Mensch, als er das erste Wort fand, in solcher Stunde fand er es. Er war ein angstvolles Herz im Bodenlosen, wissend um das Irrspiel der Zeit, wissend um den Tod, allein in der dunklen Mitternacht. Was er gelebt, war zu Schatten geworden, Augenblick für Augenblick, und es wich von ihm fort, er holte es nicht mehr ein. Da krampfte sich der Atem in seiner Brust, und weil es so schmerzte wie kein anderer Schmerz – nichts schmerzt so wie Erkenntnis –, stieß er ihn durch die Kehle und schrie.
Einer der Schatten blieb stehn. Angerufen, beim Namen gerufen von diesem Schrei, blieb er stehn und wandte sich um, und der Mensch, der es sah, rief ihn noch einmal, und da kam er näher, und mit jedem Ruf, der ihn traf, gewann er an Gestalt, er kam auf den Einsamen zu, ein Vertrauter, ein Freund, fast das Leben selbst.
So kehren mir die Länder zurück, die ich sah, die Menschen, die Stunden der Freude, die Nächte der Schwermut, ich rufe sie bei ihrem Namen, sie treten aus der Finsternis, aus dem Nichts und kommen zu mir. Ist sie nicht ein Zaubersack, die Sprache? Du greifst hinein und langst das Leben hervor. Ich schreibe Zeile um Zeile, fülle Blatt um Blatt mit den Bildern und Gestalten des Entschwundenen und bin nicht mehr allein. Alles lebt auf im Wort, der Baum und der Fluß, die Wolke, der Stern, Musik und Empfindung, das Kind daheim und die Frau. Eine beschwörende Kraft ist im Wort, es hat magische Gewalt über Ferne und Vergangenheit; was wäre dem Menschen die Schöpfung ohne das Wort, den wahren creator spiritus, der ihr dumpfes Glühn in durchsichtige Helle klärt, ihr blindes Werden und Vergehn ins Geistige, damit es den Tod überwinde?