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Besinnung und Erinnerung

Als wir heimkamen, fanden wir die erste Post vor. Die Welt war wie verwandelt: es gab keine Ukraine mehr, keine zerschossenen Häuser, keine fremden Menschen: wie durch Zauberei trat das Vertraute aus den Schriftzügen, das Gesicht der Frau, das Haus und der Garten, die Stadt im Gebirge, und verdrängte alles ringsum, war stärker als alles und war das Leben. Die Briefe waren sehr alt und antworteten auf Berichte, die wir lange vor unserer Fahrt nach Osten gegeben hatten, Bericht und Antwort bildeten ein Stück Vergangenheit, zu dem wir kaum noch in Beziehung standen, aber was schadete das, wenn aus den Buchstaben selbst die geliebte Wirklichkeit so unverwandelt hervortrat? Für eine Stunde war man ganz allein und zugleich so innig zu zweit, wie es das bloße Nach-Hause-denken nie zu vermitteln vermag; der kleine Kreis, aus dem man fortgezogen war, schloß sich wieder und strahlte die ganze Kraft auf einen zu, die ihn zusammenhält. Da war die Rede von Schulzeugnissen, Weichselkirschen, die reif werden, Freunden, die zu Besuch kamen und nach einem fragten, das Wetter war erwähnt, die Ferien stünden vor der Tür, kurz, alles war da, was die kleine, fast winzige Welt ausmacht, in die man gehört, und es war bloß zu wundern, daß sie mitten in der großen, die so heftig in Bewegung geraten war, noch immer bestand.

Feldpost – lange war es her, seit sie die große Rolle im täglichen Ablauf zu spielen begann; aber es hatte sich nicht viel geändert: was damals die Mutter schrieb, schreibt heute die Frau; es ist das Bestehende im Wechsel, die kleine Arche in der Sintflut der Zeit.

Unvergeßlich der erste Postempfang im Großen Krieg. Wir waren noch nicht an der Front; das Marschbataillon lag zur Gebirgsausbildung im Vintschgau. Im Matscher Tal, das sich von Süden her gegen die Ötztaler hinaufzieht, hatten wir feldmäßiges Schießen. Wir waren fast den ganzen Tag marschiert und schlugen abends auf einer Bergmahd zum erstenmal die Zelte auf. Wir wärmten das Essen an den kleinen Feuern, deren rotes Geflacker sich im dunklen Spiegel des Nachthimmels zu klaren Lichtern beruhigte – so standen die Sterne über ihnen. Es ist herrlich, um das Feuer zu sitzen, die Nacht hinter den Hockenden ist dickstes Dunkel, wie mit verschränkten Armen lehnt sie sich auf ihre Schultern und starrt über sie in die Glut; Hände und Gesichter aber leben von dem Feuer, das in der Mitte pulst wie ein gemeinsames Herz. Wir redeten, schwiegen und sangen wohl auch, als plötzlich vom Rande des Lagers her Unruhe durch die Gruppen lief und schließlich der Ruf: Post ist gekommen!

Die Mutter hatte geschrieben, der Bruder, der noch daheim war, und die Kusine, die das Herz des jungen Soldaten nach Berlin mitgenommen hatte. Wie schön war diese Nacht über den ersten Briefen! Noch lange gingen die Gespräche im Zelt den Weg zurück, den die Post gekommen war, und die Vertraulichkeit, mit der man am Zuhause des andern teilnehmen durfte, begann aus Kameraden damals zum erstenmal Freunde zu machen.

Lange vor dem Antreten am nächsten Morgen saßen wir vor den Zelten und schrieben auf den Knien unsere Antwortbriefe und Feldpostkarten. An diesem Maimorgen war das Band wieder geknüpft, dessen Zug man immer leise spüren muß, um sich wohl zu fühlen.

Später dann haben wir uns beim Verschließen manches Briefes gefragt, ob es diesmal nicht der letzte sei. Dann waren wir wohl glücklich, ihn nicht anders geschrieben zu haben als die früheren, denn es brauchte niemand darum zu wissen, daß auch der Soldat an den Tod denkt. Keinen aber habe ich mit so heißer Lust geschrieben wie den vom 10. Oktober 16 an meine Mutter. Die kleine Felskaverne, in der wir uns vor dem neu einsetzenden Trommelfeuer deckten, dröhnte und bebte; die Mulde, die sich zwischen uns und der Hauptstellung hinzog – wir lagen etwa fünfhundert Schritt als Feldwache vor ihr –, war in einen Hexenkessel pfeifender, peitschender, zerplatzender Geschosse verwandelt, der klare Herbsthimmel hinter Rauch und Staub erblaßt, der scharfe Hauch feuriger Gase, heißen Stahls, zermalmten Gesteins wehte von den Einschlägen in warmen, würgenden Stößen auf uns zu, unser Atem flog nach der Erregung des Gefechts, aus dem wir kamen, jeden Augenblick war der zweite Ansturm des Gegners zu erwarten – da drängte sich das Papier wie von selbst auf die Knie und ich schrieb der Mutter, daß ich noch lebe. Der Brief enthielt nichts als die Mitteilung, mir ginge es gut und sie möge sich nicht zu sehr um mich sorgen, auch wenn sie in der Zeitung von den Kämpfen lese, in denen wir nun stünden, aber ich fühlte hinter jedem Wort den unbändigen Jubel zu leben, noch einmal entronnen zu sein, wie von Posaunen tönte es hinter den Zeilen, goldener Glanz war in dem Felsenloch, und dieses starke, jasagende Gefühl hielt über den Augenblick hinaus an und war Halt und Hilfe in der zehntägigen Schlacht. Ich konnte nicht wissen, als ich den Brief schrieb, daß die Mutter mich vermißt glaubte; als er in der Nacht mit den Essenholern zurückging, meinte ich, nun sei alles gut und die bedrohte Ordnung wieder hergestellt.

In der österreichischen Armee war es Aufgabe des Zugführers, täglich die Post seiner Leute zu zensurieren. Damals lernte ich kennen, wie der Bauer, der Arbeiter, der Kaufmann, der Lehrer schreibt. Es hat mich anfangs überrascht, daß der einfache, wortungewohnte Mann sich formelhafter ausdrückt als der sprachgewandtere; das ging so weit, daß der Inhalt einer Feldpostkarte, die etwa ein Bauernknecht geschrieben haben mochte, überhaupt nur aus Floskeln bestand. In Briefen brach dann auch bei ihm ein augenblicklicher Einfall durch, derb oder auch ungemein zart, humorig oder von einem Ernst, auf den es keine Antwort gab; dieser eine Satz war dann der eigentliche Brief, das übrige aber war das, »was sich gehört«.

Für jeden Soldaten ist die Post wichtig, oft wichtiger als das Essen. Nur wenn sie wochenlang ausbleibt, steigert sich das Gefühl der Entbehrung nicht, sondern vergeht. Es kann so vollständig verschwinden, daß man überhaupt nicht mehr an Post denkt. Kaum taucht aber bei irgendeinem Glücklichen der erste Brief auf, wird man unruhig und wartet wieder täglich mit der alten Ungeduld.

Unzählige gute Stunden verdanke ich der Feldpost, sie hat es mir nie übelgenommen, daß ich sie – damals in den langen Wintermonaten des Stellungskrieges – täglich mit einem halben Dutzend von Aufträgen überlastete, und sie war der einzige Weg, auf dem ich mich mit einem Menschen traf, dem ich persönlich nie begegnen sollte.

Viele Soldaten des Weltkrieges haben mit fleißigen, aber unbekannten Schreiberinnen Briefe gewechselt. Ich glaube mich zu erinnern, daß auch die Zeitung solche Verbindungen herstellte; manche kam durch kleine Grußzettel zustande, die in den liebevoll gestrickten Wollstrümpfen versteckt waren. Ich erhielt eines Tages Grüße einer Unbekannten aus Berlin, wo die Kusine zur Schule ging. Sie muß einen meiner naturschwärmerischen Briefe ihrer Freundin gezeigt haben, die als Ausländerin in derselben Anstalt untergebracht war, um Deutsch zu lernen. Ob es ihren Sprachkenntnissen förderlich war, meine Briefe zu lesen, weiß ich nicht; ihrer empfindsamen Natur schlug es nicht gut an, denn wir gerieten bald in einen richtigen Liebesbriefwechsel, tauschten Bilder aus – was hatte sie für ein helles, entzückendes Gesicht! –, ich schrieb Verse und weil mir das Streichquartett so schmerzlich abging, brachte ich meinen Überschwang in Allegros, Menuetten und Adagios zu Papier, nicht in Noten, sondern in Worten.

Drei Sendungen der geliebten Unbekannten aber versetzten über das schöne Spiel hinaus nicht nur das Herz in Aufruhr, sondern verbanden uns beide stärker, als es den meisten persönlichen Begegnungen gelingt. Als wir im späten Oktober 17 zur Offensive antraten, erhielt ich während des Marsches in die Bereitstellung einen Brief – er war so kurz und eigenartig wie alle ihre Briefe, aber diesmal lag ihm ein winziger Strauß Veilchen bei. Es sage keiner, daß einem Soldaten ein gehöriges Stück Speck lieber sei; wenn es heißt, aus den Gräben zu steigen und es für ihn nur noch den schmalen Streifen gibt, der sich dort drüben schwärzlich durch den Schnee zieht, über ihm aber die dröhnenden Bögen sich kreuzen, in Flammen ausbrechen und Himmel und Fels zum Bersten bringen, dann ist so ein kleiner, vertrockneter Veilchenstrauß unendlich viel wert. Darüber läßt sich nicht reden, unter Männern schon gar nicht; aber in solchen Augenblicken ist vieles anders, als einer meint, der nie dabei war. Ich jedenfalls trug ihn die ganze Offensive in der Brusttasche und wundere mich heute, daß ich ihn nicht mehr besitze – es muß ein schlechter Tag gewesen sein, an dem ich ihn fortwarf.

Am 23. Dezember des gleichen Jahres lagen wir in erbärmlichen Stellungen auf den Sieben Gemeinden. Kein Holz zum Heizen, kein anderes Licht als erbeutetes Fernkabel, das wir in meterlange Stücke schnitten, an den Wänden des gedeckten Grabens aufhängten und langsam verbrennen ließen, Tag und Nacht keine Ruhe, unregelmäßige Verpflegung – und mitten hinein in diese Armseligkeit verirrte sich eine Weihnachtssendung aus Berlin. Sie enthielt nichts als einen spannenlangen Christbaum, dessen Drahtäste – sie waren mit künstlichen Nadeln beklebt – man so auseinanderbiegen konnte, daß das Ganze einer Miniaturtanne ähnlich sah; winzige Kerzchen waren daran befestigt, die das Anzünden freilich nicht überlebt hätten. Wir stellten das Industriebäumchen vor uns hin. Zuerst lachten wir darüber, aber je länger wir es ansahen, desto höher und schöner wuchs es empor, es machte uns schweigen, wie die Kinder meist stumm werden, wenn sie vor den Lichterbaum treten. Als dann der Oberleutnant P. von der Nachbarkompanie die paar Stufen herabstolperte, die aus dem offenen Graben in unsern Unterschlupf führten – er trug als einziger einen rotblonden Vollbart und hatte fast immer einen altmodischen Bergstock bei sich und als er dann, der berüchtigte Parolenverbreiter, beweisen konnte, daß er diesmal die reinste Wahrheit verkündete, da war er uns lieber als der echteste Weihnachtsmann; denn wir brachen tatsächlich nach Mitternacht auf, um ins Etschland hinaus zu marschieren, wo wir den schönsten Heiligen Abend des ganzen Krieges feierten.

Von März 18 ab hörte ich von meiner Freundin nichts mehr. Sie war wohl in ihre Heimat zurückgekehrt, und die Nachkriegsjahre waren nicht darnach, Verbindungen wieder aufzunehmen, die gleichsam Eigentum des Krieges geworden waren. So wenig wie ich damals daran dachte, noch einmal Soldat zu werden, so wenig kam mir die Möglichkeit in den Sinn, von der Unbekannten jemals wieder zu hören. Aber es muß wohl sehr tiefe und dem Menschen ganz verborgene Zusammenhänge geben, Entsprechungen der Zeitläufte und des Einzellebens, die ihm, wenn er sie erfährt, einen leichten Schauder über den Rücken jagen. Waren das Mädchen und mein Briefwechsel mit ihm so sehr ein Wesenszug des Krieges, gehörten sie beide so unzertrennlich zu meinem Soldatsein, daß sich die abgerissene Verbindung nach einem Vierteljahrhundert wieder schließen mußte, als zum zweiten Male Krieg war? Geisterhaft war es, als ich im Spätherbst 1940 einen Brief in den Händen hielt, den ich zu öffnen zögerte, weil von den Schriftzügen ein solcher Ansturm undeutbarer Erinnerungen ausging, daß ich zu träumen glaubte; noch geisterhafter war es, den Brief zu lesen. Denn er war buchstäblich so geschrieben, als gäbe es das nicht, was wir die Zeit nennen; im April 1918 abgesandt, hätte er nicht anders gelautet. Alles war so wie damals: die Knappheit des Ausdrucks, die leichte Fremdheit mancher Wendung, das Verschweigen der äußeren Lebensumstände, die Beschränkung auf das, was nur uns beide anging. Da hatte ein Herz nichts vergessen und nun war es gekommen, weil ich wieder Soldat war, es gehörte zu mir und zum Krieg; es war gleichgültig, durch welche Zufälle es mich gefunden hatte, tiefer als jeder Zufall liegt das Geheimnis, dem er sich fügt.

*

Ich habe in den letzten zwei Jahren unzählige Briefe erhalten, keiner aber machte mir so viel Freude wie der meiner Tochter, den sie schrieb, als sie dreieinhalb Jahre alt war.

Ich hatte der Mutter eine photographische Aufnahme geschickt: zwei Offiziere vor dem Stationszelt eines Funktrupps. Die Kleine hatte mich gleich erkannt, erzählte später die Mutter, hatte das Bild zu sich genommen und war damit auf den Diwan geklettert. Bäuchlings liegend betrachtete sie mich und begann ein langes, schwer verständliches Gespräch mit mir, aus welchem hin und wieder kleine Rufe der Zärtlichkeit aufflogen, daß der Mutter ganz sonderbar zumut wurde. Sie ließ wohl auch mich manchmal etwas sagen, denn ihr helles Gewisper senkte sich oft plötzlich zu einem komisch tiefen Gemurmel, hin und wieder schüttelte sie den Kopf, strich sich das Haar aus dem Gesichtchen, hielt das Bild näher vor sich hin – sie war wohl nicht immer ganz einverstanden mit dem, was ich sagte. Nicht einen Augenblick kam der Mutter der Gedanke, der innige Ernst dieses Tuns könnte Spiel sein; auch dann nicht, als die Kleine um Papier und Schreibstift bat.

Einige Tage später hielt ich das Blatt in den Händen. Es ist wohl nur ein Bild, wenn man sagt: das Herz geht einem über von Tränen des Entzückens, aber es war nicht anders, auf diesen Augenblick traf es zu. Da waren viereinhalb Zeilen reinster Liebesschrift, erfunden von einem kleinen Herzen, bloß um dieses eine Gefühl aufzuschreiben; keine Buchstaben, nur ein wunderlich verschlungenes Auf und Ab, ein Seismogramm inneren Bebens, unterbrochen von den Pausen des Atemholens, vom Weiterrücken des Händchens, das zum erstenmal schrieb. Klar und deutlich abgesetzt und wie von selbstverständlicher Höflichkeit in die rechte untere Ecke gerückt ein köstlich geformter Schnörkel: der Name.

Zweimal im Leben stand ich vor beschriebenem Papier und fühlte Ähnliches: in der Wohnung Goethes zu Weimar und in Beethovens Geburtshaus.

»So hinan denn! hell und heller,
Reiner Bahn, in voller Pracht!
Schlägt mein Herz auch schmerzlich schneller,
Überselig ist die Nacht.«

»Dem aufgehenden Vollmonde« stand in feiner, sauberer Altersschrift darüber. Ich las und las, und da zerging die herrlich beschworene Landschaft, und an ihre Stelle trat immer deutlicher die Hand, die da schreibt, und das Antlitz, das sich darüberneigt; das aufblickende Auge, in dessen Glut sich das vergängliche Bild in den Dauerbestand der vier Zeilen läutert – das schöpferische Leben selbst war sichtbar geworden im Geheimnis der Schrift.

Das andere Mal aber hatte ein Sturm, ein zarter, geistiger, Noten übers Papier geweht, sie flogen schräg durch die Zeilen, Zeichen einer atemlosen Leidenschaft, nicht so sehr einer des Formens als einer des Gehorchens; denn es war den wehenden Noten anzusehen, daß sie als ein Gewitter von Tönen weit herkamen, und die Hand war kaum schnell genug, sie zu halten, sie vergriff sich, strich durch, eilte ihnen nach, und es kann wohl sein, daß sie nicht alles einfing, was vorüberbrauste. Aber so viel steht nun für immer da, daß es genügt, um aus vier Instrumenten die pfingstliche Stunde wieder und wieder zu rufen.

Wie selten tut sich das Vollkommene im Mittel der Überlieferung so vollkommen kund! Aber gerade hierin glich das Gekritzel der Kleinen den Handschriften der beiden Unsterblichen. Dem Genie ist Unmittelbarkeit vergönnt wie dem Kinde; Liebe weiß auch ohne Buchstaben zu schreiben, und der Liebende vermag es zu lesen. Zärtlichkeit, Humor, Klugheit, launiges Herz, alles, was das kleine Wesen ausmacht, stand in den viereinhalb Zeilen. Die Kleine hatte mit einem hellgrünen Farbstift geschrieben, und so lag über dem Brief ein fröhliches Licht wie über einer Wiese, ein verlorner Schein aus dem frühesten Garten der Menschheit.

*

Ich weiß nicht, ob die vielen Briefe, die wir schreiben, das Leben auch wirklich sichtbar machen, von dem wir berichten. Schon die Menschen, mit denen wir täglich umgehen, müssen denen daheim fremd bleiben; den meisten Frauen ist die Form, in der man Befehle gibt und empfängt, Meldungen erstattet, überhaupt seinen Dienst macht, unbekannt, ganz zu schweigen von dem Handwerklichen des eigentlichen Frontkämpfers, das die Männer und Söhne beherrschen, ohne davon viel zu reden. Filmberichterstatter sind diesmal zwar immer wieder bis an die Linie vorgedrungen, an der sich die Schlacht selbst entzündet, aber auch sie entreißen ihr da einen Augenblick, dort einen, sie pressen tagelange Kämpfe, U-Bootfahrten, Luftangriffe in Minuten zusammen, steigern die Eindringlichkeit des Geschehens zwar, verwirren aber zugleich die Zeitbegriffe des Zuschauers. Auch unsere schnellsten Kriege gehen nicht so schnell vor sich, wie das Filmband abläuft.

Dichter werden auch von diesen Feldzügen einmal erzählen, und dann wird man erfahren, wie die Stunden, die Tage und Nächte, die Wochen des Vormarsches, der großen Umfassungsschlachten, der Rast oder der Verteidigung gewesen sind; wie sich die Eroberung einer Stadt abgespielt hat, ein Panzervorstoß, der U-Bootangriff auf einen Geleitzug.

Aber von vielen Dienststellen der Wehrmacht wird niemand erzählen, ihre Arbeit bildet den einfarbigen Hintergrund, von dem sich die großen epischen Bilder farbiger abheben werden. Und doch waren die Gedanken der Daheimgebliebenen auch bei diesen Soldaten, auch bei uns.

Wenn wir nicht auf Erkundung oder beim Standortwechsel sind, verläuft unser Tag still und gleichförmig, ein Schreibtischleben wie in jedem Büro. Daß es sich in Städten abspielt, die ohne jedes Leben sind, vereinsamt es und schränkt es ganz auf sich selbst ein – darin gleicht es jenem an der Front, und ich weiß nicht, ob es durch größere Beweglichkeit, Gefahr und körperliche Mühsal nicht eher gewänne. Die Zufälle, die uns begegnen, sind kaum erzählenswert, und es müßte einer schon über die dichterische Kraft der Selbstdarstellung verfügen, sollte das, was nicht um uns, sondern in uns vorgeht, Leser fesseln. Es erinnert mich manchmal an die zermürbenden Monate des Stellungskrieges, da wir in tiefen Stollen, bis zu achtzig und hundert Meter weit im Fels drinnen hausten, oft tagelang das natürliche Licht nicht sahen – der Kaverneneingang lag im genauen Feuer feindlicher Geschütze, der Dienst begann mit dem Dunkelwerden, morgens legten wir uns schlafen, wir waren zu zweit in einer kleinen Felskammer, und obwohl wir uns gut verstanden, wurden wir uns unerträglicher mit jedem Tag. Auch davon gab es nichts zu erzählen, und doch war es eine niemals wiederkehrende Form des Lebens, geladen mit Spannungen, erregend, quälend, ein ständiges Hin und Her zwischen Streit und Versöhnung, eine schwierige, nervenzerreißende Männerehe.

Wir haben es diesmal viel besser; wir stehen in einem Alter, in welchem man mit der Einsicht in den andern zumeist auch die Fähigkeit verbindet, einander gelten zu lassen. Unsere Abende sind gemütlich, wenn wir zusammen bleiben, aber auch erträglich, ja mitunter schön, wenn jeder allein ist und seinen Neigungen folgt. Es ist viel leichter, mit fertigen Männern Gemeinschaft zu haben als mit werdenden, die sich unbedingter entgegentreten, in Liebe oder in Haß, während man, älter geworden, nie mehr ganz den Abstand außer acht läßt, der die innere Welt des einen von der des andern trennt.

Es kommen immer wieder Zeiten, in denen man gleichsam einen täglichen Anlauf nehmen muß, um über innere Hindernisse hinwegzukommen, besonders dann, wenn die Gleichförmigkeit des Dienstes lähmend zu wirken beginnt; dann gibt es wieder Stunden kameradschaftlicher, ja freundschaftlicher Aufgeschlossenheit, aus denen sich die Kraft erneuert, das Aufgetragene mit Gefaßtheit und fröhlicher Zuversicht zu tun.

Man war auf das Licht in meinem Zimmer, das oft bis über Mitternacht hinaus brannte, aufmerksam geworden; ich hatte mich oft vorzeitig aus dem kleinen Kreis verabschiedet, um der Nacht die Stunden abzujagen, die mir der Tag nicht gönnte. Ich sah, daß eine Aufklärung der Kameraden über meine anders geartete Situation notwendig geworden war, und so fand ich mich eines Abends in dem armseligen Raum, der uns für die gemeinsamen Mahlzeiten zur Verfügung stand, der besten Zuhörerschaft gegenüber, die ich mir wünschen konnte. Es waren die sechs Männer, mit denen ich täglich zusammen bin; wir kannten einander nun schon lange genug, um die Hemmungen auszuschalten, die auf beiden Seiten der Preisgabe persönlicher Aufzeichnungen entgegenstehn, und doch wieder nicht lange genug, als daß ihnen diese nicht zu einer willkommenen und interessanten Überraschung hätte werden können. Soldaten sind immer geneigt, Zartes, das sie anwandelt, mit einem derben Scherz gleichsam ungefährlich zu machen, denn sie scheuen das Gefühl, wenn es den stummen Bezirk des Herzens verläßt und zur Sprache kommt. Sie scheuen es aus einer Art Notwehr – sie fürchten, sie könnten an Haltung einbüßen, die sie selbst und die wir an ihnen gewohnt sind. Um so lockender war es, vor ihnen einmal Empfundenes, Gedachtes, Erinnertes auszubreiten und zu erproben, ob es sich innerhalb des Soldatischen bewährt; günstigenfalls konnte man daraus erfahren, wie weit sich die beiden Sphären – die des Künstlerischen und die des Soldatischen – zu durchdringen vermögen. Ich war in der glücklichen Lage, etwas wählen zu können, das gerade diese Frage zum Inhalt hatte.

Der Augenblick, in welchem ich in dem ungewöhnlichen Vorleseraum das Manuskript auf den Tisch legte, war noch so schwankend zwischen Ernst und Spaß, daß wir ohne einen bedeutenden Schluck Kognak nicht anfangen konnten. Aber schon nach den ersten Sätzen war fester Boden gewonnen, ich spürte, wie stark es jeden anging, was ich zu sagen hatte, und als ich zu Ende war, hatte die liebenswürdige Spottlust sogar das Gesicht des Kommandanten verlassen, und wenn er sich auch wundern mochte, was für sonderbare Leute den grauen Rock tragen, ich sah es seinen Augen an, daß er im Innersten mit ihnen ganz einverstanden war.

Wir hatten, wie gesagt, den Schnaps getrunken, lächelten uns zu, und das hieß: nun ja, man kann ja auch einmal eine Viertelstunde Literatur hören statt Skat zu spielen, und ich begann:

Drei Tage nach der Reifeprüfung standen wir im Kasernenhof, der Größe nach aufgereiht, und lernten das erste, was man bei den Soldaten lernt: das Warten. Für die schöne Ungeduld eines Achtzehnjährigen ist in der Schule der Geduld kein Platz. Von Zeit zu Zeit kam ein Unteroffizier mit einer Liste, verlas unsere Namen und ging wieder, es war nicht zu erraten, woher er gekommen war und wohin er verschwand. Fragen, die schüchtern gewagt wurden, bewirkten nichts als ein eisiges Erstaunen im Gesicht des Befragten; auch für Neugier ist bei den Soldaten kein Raum.

Die nächsten Tage vermittelten das Bewußtsein, daß die Kenntnis der analytischen Geometrie und der Tragödien des Sophokles im Urtext nicht mehr die Rolle spielte, die sie in den letzten zwei Jahren gespielt hatte; es wurde mit einemmal unvergleichlich wichtiger, das Bett so bauen zu können, wie es sich der Diensttuende vorstellte, den Flur zu spülen, das Gewehr zu reinigen, die Stiefel zu putzen und die Eßschale sauberzuhalten. Dazu kam die Erkenntnis, daß es eine wahrhaft unabsehbare Pyramide von Vorgesetzten gab und daß man selber nicht einmal auf ihrer untersten Stufe stand. Der Begriff des Befehls nahm leibhafte Gestalt an – Schritt auf Tritt –, und zum Begriff des Gehorsams wurde man binnen kurzem selbst.

Mit alledem konnte man auf verschiedene Weise fertig werden: entweder in langsamer Bekehrung oder mit rascher Zustimmung, in beiden Fällen am besten mit Humor. Humor und Kameradschaft sind Dinge, die sich bei den Soldaten ganz von selbst entwickeln, sie brauchen weder gelehrt noch geübt zu werden, sie entspringen dem harten Boden der Rekrutenzeit und gedeihen in ihrem rauhen Klima aufs beste, sie schlagen in jedem Wurzel, der nicht ganz aus der Art ist, und bleiben unausrottbar, solange man den Rock des Soldaten trägt.

Keiner, der jemals Soldat war, wird leugnen, daß es im Kasernenleben Gelegenheiten gibt, sich gekränkt und verkannt zu fühlen, sich zu ärgern und unglücklich zu sein – aber das vergißt man, oder es verliert in der Erinnerung an Gewicht; das andere bleibt. Nicht für jeden das gleiche. Mir war das Morgenturnen in jenem Oktober 1915 eine ungetrübte Lust. Der Reif lag auf der Wiese, sein kalter Hauch kam nicht recht auf gegen die Sonne und das warme Blut im Geäder, aber er war ein immerwährender Zuschuß an Frische, man spürte es geradezu, wie er sich unter der Haut in ein Gefühl von Gesundheit, in warme, rote Strömung verwandelte. Es war auch eine Freude, den Gewehrgriff so zu beherrschen, daß fünfzig Gewehre – von einer Seite gesehen – zu einem einzigen wurden und der ganze Zug einer gut geölten Maschine glich, die nach genau berechneten Gesetzen spielte. Wenn wir mittags einrückten – das war schon viele Wochen später –, nahm uns am Rand der Stadt die Musikkapelle in Empfang, und wir stampften in der Hauptstraße den Bürgern einen Parademarsch vor, der sie an die Stelle zu nageln schien und der so dröhnte, daß die Fenster aufflogen und den Köchinnen die Augen naß wurden.

Es ist besser, mit achtzehn als mit achtunddreißig Jahren Rekrut zu sein. Man steht noch auf keinem Geleise, aus dem man geworfen werden kann, noch liegt das Leben vor einem, ein blauer, unendlicher Bogen, zu dessen Rand hin es hundert Wege gibt. Fast in jedem Mann steckt ein Stück vom Soldaten, aber im Achtzehnjährigen, der noch nichts ist, läßt es sich leichter wecken und großziehen. Dennoch ist der geborene Soldat selten. Und wenn ein ganzes Volk unter den Waffen steht, ist es kein Berufsheer, es ist ein Heer ganz eigener Art, gleichsam das kriegerisch gewordene Leben selbst. Das Kriegerische aber hat vielerlei Formen, mehr als das bloß Soldatische, und so konnte es draußen an der Front mitunter geschehen, daß einer, der als Rekrut alles andere eher als einen Marschallstab im Tornister trug, sich als Krieger hohen Ranges bewährte.

Wenn wir als Rekruten an die Front dachten, mochte jeder ein anderes Bild von ihr vor Augen haben; mir stand sie als eine maßlos übertriebene Hölle vor der Seele, ein unaufhörliches Geflamm platzender Granaten, Minen und Schrapnells, ein pausenloses Gedröhne und Geheul. Denn damals war der Krieg auf den südlichen Bergkämmen unseres Landes bereits zum Stellungskampf erstarrt. Der Bewegungskrieg jedoch hatte für die Phantasie noch alle Farbigkeit, die aus den Kampfberichten früherer Zeiten leuchtete. Daher zielten unsere Hoffnungen, ehe wir hinauskamen, auf Vormarsch und Angriff, auf den Krieg als Abenteuer und Bewegung. Das Land, gegen das wir damals im Kampfe standen, war ja zugleich das Land, das die nordischen Völker seit zwei Jahrtausenden auf fast magische Weise angelockt hatte, und für uns, die wir Horaz und Vergil gelesen hatten, war es gleichsam ein zweites geistiges Zuhause. Wem zudem noch ein Tropfen südlichen Blutes von den Vätern her beigemischt ist, dem mag man es verzeihen, wenn er selbst einen Weltkonflikt von so tragischem Ausmaß wie den damaligen heimlich für eine abenteuerliche Möglichkeit nahm, seine Wanderlust zu stillen.

So ungefähr sah es in mir aus, als das Marschbataillon die Garnison verließ. Die drei Monate, die es zur Gebirgsausbildung im Etschland lag, schienen einen Vorgeschmack künftigen Kriegslebens zu bieten – ganz in dem Sinne, wie ich es mir wünschte. Daß es dann wesentlich anders kam, wird den nicht wundern, den das Leben gelehrt hat, jeder Vorwegnahme der Wirklichkeit zu mißtrauen.

Vielleicht ist es an dieser Stelle notwendig, zu gestehen, daß in mir das Entzücken über neue Landschaften, Begegnungen mit fremden Menschen, über die wunderbare Stimmung eines Zeltlagers im Hochgebirge, über die tägliche Spannung, mit der die Post erwartet wurde, kurz, über alles, was das Soldatenleben so unbürgerlich und seltsam erregend macht – daß dieses Entzücken meinen Ehrgeiz nach Sternen und Litzen weit überwog. Ich sah ihn an Kameraden, er eiferte mich zeitweilig zu gesteigerten Bemühungen an, aber er verlor sich immer wieder vor der Gewalt des Träumerischen, das mich ganz erfüllte; es war mir viel gemäßer, ein namenloser Soldat zu sein als ein zur Führung ausersehener. Und damit wird eine Schwierigkeit sichtbar, die vielleicht für jeden künstlerisch berufenen Menschen da ist, sobald er in den grauen Rock schlüpft. Es ist – bei noch soviel Einsicht in die Notwendigkeit dessen, was ein Volk vom einzelnen zu fordern das Recht hat – für den dichterisch empfindenden Menschen wahrscheinlich schwerer als für andere, seine Träume fahren zu lassen und künftig nichts mehr zu sein als das ausführende Organ eines Befehls. Freilich, für den Achtzehnjährigen ist es nicht schlimm, er hat zumeist sein Werk noch gar nicht begonnen, es bedrängt ihn bloß wie ein unverstandenes Fieber; aber seine gesamte Anlage hat es in sich, ihn mehr als oft gut ist zu verabseitigen, er lebt zu sehr nur als Auge, Ohr, Nerv, während er doch nichts als Soldat zu sein hätte. So kam es, daß mir fast alle dienstlichen Ereignisse völlig entfallen sind – die wirklichen Kampfhandlungen ausgenommen – und lauter Herbstabende, Winternächte, Briefe und Gespräche, Bäume, Bergnebel, Sommermorgen vor mir auftauchen, wenn ich an den Krieg zurückdenke. Ich bin oft wirklich betroffen, wenn ich Kameraden meiner Frontjahre erzählen höre – was sie da von Offizieren, Beförderungen, genauen Umständen einer dienstlichen Veränderung, Truppenteilen und Kampfabschnitten zu berichten wissen – nach fünfundzwanzig Jahren! –, das ist mir alles bis auf blasse Andeutungen entschwunden. Wenn ich sie aber frage, ob sie nach dem Jahre 1918 öfters vom Krieg geträumt haben und sie mir zur Antwort geben: fast nie, dann bin ich noch mehr erstaunt; denn ich hatte zwei Jahre lang wöchentlich zwei- bis dreimal alles noch einmal durchzustehen, nur noch verdichteter, erregender und völlig sinnlos. Vielleicht läßt sich daraus auf die Art und Weise schließen, in der ich mir das Furchtbare einverleibt hatte – einer bewußtlosen, aber überaus empfindlichen Platte vergleichbar, die das Bild bewahrte, bis der Traum es entwickelte.

Ich erlebte den Krieg vom Juli 1916 bis August 1917 als einfacher Grabensoldat, im letzten Kriegsjahr als Offizier. Das eine war körperlich anstrengender, aber belohnte mit Erfahrungen, die – wie mir scheint überhaupt erst vollauf dazu berechtigen, von Krieg und Soldaten zu reden.

Ich habe an der Front nie ganz aufgehört, Verse aufzuschreiben; sie drehten sich vorwiegend um Musik, Landschaft und Liebe; der Krieg spielte hinein, war aber nie der alleinige Gegenstand solcher Versuche. Zwei, drei »Kriegsgedichte« habe ich noch auf der Mittelschule geschrieben, sie waren so grauenhaft unwahr – und das sah ich im ersten Augenblick, den ich an der Front erlebte –, daß ich es für immer sein ließ, das Ungeheure, Unaussprechbare, Übermenschliche in vierzeilige Strophen zu zwängen. Ich frage mich nun schon fünfundzwanzig Jahre lang, ob das, was wir draußen erlebten, überhaupt gestaltbar ist. Unzählige Bücher scheinen ja zu sagen. Es sind auch tatsächlich welche darunter, die gewissermaßen den eigentümlichen Hauch jener Jahre verspüren lassen, diesen Hauch von Eisen, Feuer, Blut und Lehm; aber die, die dabei waren, werden mir recht geben, wenn ich sage: auch hier ist das Unaussprechliche stumm geblieben, und kurze Berichte über einzelne Kampfhandlungen sind noch immer das Echteste, was sich mitteilen läßt. Was ein Bauernknecht zwanzig Jahre nach dem Krieg, falls er nicht übertreibt, über den einen oder andern Tag an der Front erzählt, ist uns noch immer lieber als die Romane, die man druckt. Erst wenn einer alles Stoffliche – diese ungeheure Fülle epischen Materials – so ins Persönliche verdichtet, daß die Bilder der Sprache über die des Krieges triumphieren, erst in diesen seltensten Fällen entsteht ein dichterisches Frontbuch.

Es ist ein sonderbares Gefühl, einer Generation anzugehören, die erst im Feuer der Fronten zum Bewußtsein ihrer selbst erwacht ist und die nun, ein Vierteljahrhundert später, noch einmal zur Front zurück muß, als wären nicht die Aufgaben des Friedens, sondern der Krieg ihr eigentliches Handwerk. Sie hatte, achtzehnjährig, einen Schritt zu tun, den man nur einmal im Leben so tun kann: aus der mütterlichen Wärme des Elternhauses unvermittelt in den Eishauch des Todes, aus der stillen Luft eines vierzigjährigen Friedens in das Weltgewitter eines Krieges, der anders war als die Kriege seit 1648, da er wie ein Erdbeben durch das soziale Gefüge Europas ging, eine tiefreichende Erschütterung, die noch heute anhält und deren zweiten Hauptstoß wir augenblicklich erleben. Diese Generation, wahrhaft mit Feuer getauft, in Schlachten gehärtet, denen keine früheren gleichen, fand sich zu Ende des Krieges auf einer Brandstatt wieder und brachte buchstäblich nicht mehr mit nach Hause als das nackte Leben. Aber eine Nacktheit des Lebens, die wirklicher Besitz, eine unschätzbare Beute ihres Krieges war: denn sie war zugleich die Bürgschaft eines neuen Anfangs, eine letzte Echtheit und Aufrichtigkeit, sie war gefeit gegen Kostüm und Schminke; wir hatten gefühlt, wie hohl der Boden Europas war, auf dem man gekämpft, gehungert, gelitten und das Leben gelassen hatte. Wir brachten aber auch die Erfahrung mit, daß der Student, der Bauer, der Arbeiter, der Kaufmann, der Arzt, der Lehrer, der Dichter und der Holzfäller, daß sie alle nebeneinander im Graben gestanden und auf eine Weise miteinander verbunden gewesen waren, die keine andere Trennung mehr erlauben würde als eine, die der persönlichsten Bewährung entspricht. Es ist wahr: keiner Generation ist der Krieg zwischen 14 und 18 greifbarer eingeprägt als dieser; sie war die bildsamste, sie war damals die Jugend. Man soll sich nicht wundern, daß die künstlerische Formung ihres größten Erlebnisses, gemessen an seiner Gewalt und auch gemessen an der großen Zahl jener, die damals als Jünglinge an der Front standen, nur in einer schmalen Reihe wirklicher Kriegsbücher vorliegt – nichts ist in uns so groß geworden wie das Schweigen. Soldat sein heißt auch: Mund halten und das Notwendige tun. Wer möchte mit Worten an Dinge rühren, die für das ganze Leben entscheidend waren, weil es innerlichste Dinge sind? Schon hier kostet es Überwindung, das Schweigen zu brechen und Verborgenes zur Sprache zu bringen, dem man jenseits des Wortes verpflichtet ist. Solche Stummheit aber schließt nicht aus, daß in jeder Zeile, die unsereins schreibt, ja, auch in jedem Vers, Ernst und Gefaßtheit des Frontsoldaten zu spüren sind. Die Unbedingtheit, mit der zu jeder Stunde das Leben gegen den Tod gewagt wurde, ist die gleiche, mit der die Dichter die Wahrheit gegen den Schein wagen. Durch unsere Bücher weht eine Kälte; es ist die gleiche, deren wir bedurften, wenn es heiß herging; aber es ist eine von innen her glühende Kälte, eine Leidenschaft nicht der Worte, sondern des Denkens; sie stutzt vor dem Wort wie vor einer Gefahr und setzt das nüchterne hin statt des berauschten. Denn Worte sind eine Gefahr, sobald sie der Verbindlichkeit ermangeln, die das geistige Wesen des Menschen von ihnen fordert. Zu unseren Erfahrungen gehört auch die, daß das Leben zu jeder Stunde aufs äußerste gefährdet ist – es bleibt keine Zeit zum Spiel mit Worten. Je dichter sich das, was wirklich zu sagen ist, in einen Satz drängt, desto besser gefällt er uns. Noch lebt uns der Stil soldatischer Befehle im Ohr und baut heimlich an unseren Sätzen mit. Wir sind viel mit Maschinen umgegangen – sie waren unsere besten Helfer in der Gefahr –, wir lieben ihre überzeugende Form, die Klarheit ihres Gefüges, die Härte ihres Materials; auch sie bauen an unseren Zeilen mit.

In einem unserer Bücher stehen die Sätze:

»Und als sich dann erwies, daß Musik, Verse, Gedankenspiele und noch billigere Eitelkeiten vor dem Tode nicht viel galten, blieb außer dem guten Kameraden nur noch die Erde selbst. Ein Baum am Abend, ein singender Vogel über dem Schlachtfeld, die wärmende Sonne nach kalter Nacht. Darum ist es eine echte, unausrottbare Liebe, die der Heimgekehrte zur Erde hat, keine Flucht ins Romantische, kein schwelgerisches Sichvergessen, nicht einmal eine Umkehr ins Bauerntümliche, nein, eine neue, von Tod und Leben geweihte Liebe. Wir haben mit Spaten und Geschossen den edlen Leib der Mutter zerrissen, seine duftende Grashaut mit Feuer und Gas verbrannt, seine Fruchtbarkeit zerstört, und dennoch hat er uns immer liebend umfangen, geschützt und gestärkt und hat die Toten in den Schoß genommen für immer. Was sollen uns die steinernen Städte, ihr gläsernes Licht in der Nacht, ihre Blendung und ihr Geschrei? Wir wollen schweigen und horchen, ins Dunkel horchen, wie wir es gewohnt sind seit damals.«

»Da streckte sich die Erde unter unserem Schritt in die Länge und Breite, Wald ging über in Wald, Acker in Acker, Himmel in gleich blauen Himmel, und der Fluß band alles aneinander und war in der Landschaft das langsam klopfende Herz. Wir waren so arm geworden – oder so reich? –, daß ein regenverwischtes Strohdach über gestampftem Lehm Heimat, Abend, Frieden und Kindheit war. Wenn uns das Marschieren oft ohne Sinn erschien, weil wir heute nach Osten, morgen in gleicher Eile nach Westen zogen, den einen Sinn hatte es: wir wußten wieder, was die Erde war, daß der Boden, den wir traten, heimlich das eigentliche Ziel sein mußte. Gehen, Rast und kurzer Schlaf, Aufbruch, Gehen und kurze Rast – wir waren wieder Schreitende über die Erde geworden, und wenn wir um das Feuer saßen, war es das erste, uralte, heilige Feuer, und wir behüteten es vor dem Regen wie ein Kind. Aber auch der Regen, der tagelang vom Himmel floß, war wieder richtiger Regen, er näßte uns bis auf die Haut, und wenn uns der Wind trocken blies, war es wie der erste Wind, der über die junge Schöpfung wehte, als sich das Feste von den Wassern schied. Rauch, der aus fremden Hütten stieg, war Rauch der Heimat; der Stall, in dem wir lagen, war unser Stall, wir waren Besitzende und Preisgebende in einem, Wanderer, überall zu Hause, wo ein Brunnen lief und ein Herd rauchte. Dazu hat uns der Krieg gemacht, und seit wir aus ihm zurück sind, fällt es uns schwer, zu warten und zu bleiben; wir haben uns das Sitzfleisch wegmarschiert.«

Und nun sind wir wieder aufgebrochen und auf dem Wege zur Front. Als ich damals Abschied nahm, stand die Mutter auf dem Bahnhof. Es war in den ersten Tagen des Mai, und die Sonne knallte von den Hörnern und Trompeten der Regimentskapelle. Wir trugen Blumen auf den Mützen und am Koppel, als führen wir zu einem Fest; es war der Aufbruch der Jugend.

Diesmal war Herbst. Niemand konnte es dem Zivilisten anmerken, daß er zur Truppe fuhr; nur die Frau wußte es und die beiden Buben. Die Kleine, die ihre Ärmchen fest um den Abschiednehmenden schlang und ihn küßte, wie nur Töchter zu küssen verstehen, begriff nichts von Krieg und Kasernen, sie saß auf dem Arm der Mutter und lachte. Und das war wie eine Verheißung. Ihr kleines Herz aber flog dem fahrenden Zuge nach.

Dies war der Abschied des Mannes von den Seinigen, von dem lieben Haus am Hang und von dem Werk, für das ihn der letzte Krieg aufgespart zu haben schien. Er weiß niemanden, der es an seiner Statt besorgen könnte; auch darum ist es mit zweiundvierzig härter, dem Ruf der Notwendigkeit zu folgen, als mit achtzehn. Aber es ist gut, zu wissen, daß es die Notwendigkeit ist, die uns ruft.


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