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Zwei Wochen in Lemberg

In vielem unterscheidet sich dieser Krieg von jenem zwischen 14 und 18, auch in einer scheinbaren Kleinigkeit, nämlich darin, daß niemand mehr das Wort Etappe gebraucht. Es war in den letzten beiden Weltkriegsjahren in üblen Ruf gekommen. Die Zone, die es bezeichnete, war den Leuten der Front verächtlich, weil nicht einmal die schwerste feindliche Artillerie sie erreichte; sie war der Heimat zuwider, weil sich das Leben dort in einem unaufhörlichen Taumel befand. Man neidete ihr von der einen Seite die sicheren Bequemlichkeiten, die Gaststätten und Lichtspieltheater, die flotten Schreibkräfte; von der andern den hemmungslosen Geldumlauf, die prallen Magazine, die Fessellosigkeit einer vom Zufall zusammengewehten Gesellschaft. Hier war ein ewiges Kommen und Gehen, das Leben staute sich in einer üppig schäumenden Welle, die ihre Wucht und Wildheit von dem starren Wall zu empfangen schien, gegen den sie prallte, dem Wall der Fronten. Da diese sich im Stellungskrieg monate-, ja jahrelang nicht bewegten, wurden die dahinter liegenden Städte zu Garnisonen, die immer mehr zu jener Etappe auswucherten, deren Ruf dem einer leichtsinnigen Frau glich, ebenso das Verächtliche meinend wie das Lockende.

In den heutigen Bewegungskriegen, die sich in einer bisher unvorstellbaren Schnelligkeit abspielen, kann eine Etappe solcher Art gar nicht entstehen; Städte, gestern erobert, liegen morgen bereits 50, in einer Woche 200 km hinter der Kampflinie; zivile Behörden folgen den militärischen Stäben auf dem Fuße und lenken das Leben wieder in seine normale Bahn.

So zeigte Lemberg, das für kurze Zeit unser Aufenthalt wurde, deutliche Zeichen einer Stadt hinter der Front, entsprach aber nicht dem damaligen Begriff der Etappe.

Lemberg zählt zu den europäischen Städten, die in den letzten Jahrzehnten einige Male im Brennpunkt kriegerischen Geschehens lagen: im Weltkrieg von den Österreichern und Russen hart umstritten, wenige Jahre nachher Kampfgebiet der Polen und Ukrainer, im Polenfeldzug von deutschen Truppen erobert, dann für anderthalb Jahre von den Bolschewisten besetzt und ihnen schließlich wieder von uns entrissen, macht es heute den Eindruck der Erschöpfung, als hätten es wilde Fieber durchfrostet und verbrannt. Als wir ankamen, war die Straßenbahn wieder in Betrieb und auch Licht- und Wasserleitungen funktionierten; aber die Geschäfte waren geschlossen, es gab nur wenige Gaststätten, und Schritt auf Tritt begegnete man zertrümmerten oder ausgebrannten Häusern.

Wir schrieben die Lähmung, die über der Stadt lag und die der dichte Verkehr auf der Straße nur verhüllte, nicht löste, zuerst dem Kriege selbst zu; als wir aber in die Wohnungen kamen, mit den Leuten sprachen und – gleichsam als zusammenfassendes Dokument – das GPU.-Gefängnis vor uns sahen, erkannten wir, mit was für einer Eisschicht von Lebensfeindschaft der Bolschewismus das Land überzieht, das ihm anheimfällt.

Die Stadt war voll Soldaten. Überall die richtungweisenden Schilder der Wehrmacht. Die ersten paar Tage vergingen mit Quartiersuchen. Dabei lernte man die Anlage der Stadt, den Zustand der Häuser und Wohnungen und flüchtig auch die Menschen kennen, die in ihnen hausten. Auf den deutschen Maßstab für Sauberkeit und Bequemlichkeit mußte schließlich ganz verzichtet werden, er war in den allermeisten Fällen fehl am Platze. Wir kamen in Räume, die von russischen Offizieren, Beamten, Kommissaren und ihren Familien bewohnt gewesen waren und sich noch in dem Zustande befanden, in welchem die Flüchtigen sie hinterlassen hatten – es graute einem zumeist davor, einzutreten. Möbel, Matratzen, Bilder lagen in wildem Durcheinander umher oder sie fehlten vollständig; in allen Fugen fühlte man die Wanzen lauern, und in den Küchen war es schwarz von Fliegen. Man erkannte die Zimmer, die den Bolschewisten als Amtsräume gedient hatten, meist daran, daß lilafarbne Schreibtinte in riesigen Klecksen über die Wände verspritzt war und Stöße von Drucksorten in den Winkeln lagen. Fast jedes Sowjetamt war vermutlich berechtigt, zu verhören und einzusperren, denn überall gab es ein Zimmer, dessen Fenster vergittert war und dessen Türe, mit starkem Eisenblech beschlagen, ein kleines, eigens verschließbares Türchen aufwies, durch das wahrscheinlich das Essen gereicht oder die Bewachung besorgt wurde.

Lemberg war früher die Hauptstadt des österreichischen Kronlandes Galizien, und an den öffentlichen Gebäuden, aber auch an den Häusern der besseren Wohnviertel ist ihr der Einfluß Wiens stark anzumerken; der k. u. k. Ministerialstil ist hier und dort unverkennbar, und auch die Hausbesitzerrenaissance der Achtziger-, Neunzigerjahre hinterließ Straßenbilder, die einem aus den meisten deutschen Großstädten bekannt sind. Sie wirken hier etwas erfreulicher als bei uns, schon weil sie an Gewohntes in der Heimat erinnern, aber auch deshalb, weil sie jenen Komfort zu versprechen scheinen, den der Europäer ungern entbehrt. Erst wenn man weiter im Osten war und russische Städte gesehn hat, erkennt man, wie westlich Lemberg geraten ist, und stattet im stillen der deutschen Verwaltung seinen Dank ab, die sich von Wien aus bis nach Lemberg, Czernowitz und Sarajewo erstreckt hat.

Wundervoll sind die Grünanlagen der Stadt, besonders der große Park in ihrem südwestlichen Teil. Er zieht sich über hügeliges Gelände hin, ist noch immer gut gehalten, und seine schönen Bäume, die frisch gemähten Rasenflächen, von denen der Heuduft kam, ließen alles Häßliche vergessen und erfüllten manchen Abend so ganz nur mit sich selbst, als wäre der Krieg eine Sage und die friedliche Stunde die einzige Wirklichkeit. In solchen Augenblicken wird deutlich, wie nahe uns Baum, Wiese, Wind und Vogel noch immer sind und wie leicht es ihnen fällt, ihr Vorrecht allem Menschenwerk gegenüber geltend zu machen. Auch die Frauen gehören zu ihnen, die Sterne und die Musik.

In den vierzehn Tagen, die wir in Lemberg verbrachten, wandelte sich die Stadt beinahe von Tag zu Tag: überall tauchten kleine Kaufläden auf, Kaffeehäuser eröffneten den Betrieb, und man begann die Trümmerhaufen abzubauen, die die Hauptstraßen säumten. Noch waren die Geschäfte freilich eher Zeichen des Verfalls als des Aufstiegs: denn die Mehrzahl der Läden bot den Hausrat völlig Verarmter feil; aber nicht bloß ihren Hausrat, sondern auch die Gegenstände ihrer Liebhabereien, die Dinge also, die ihr eigentliches, intimeres Leben bedeuteten. Hinter dem Namen »Kommissionsgeschäft« spielen sich unsichtbare Szenen ab, deren Tragik durch keine noch so große Banknote abzugelten ist. Vielleicht aber sind die Szenen noch tragischer, die ihnen vorangegangen sind. Tausendfaches Elend hat die Polizeityrannis der Sowjets über die eine Stadt gebracht. Wie ein Alptraum müssen ihren Bewohnern die anderthalb Jahre in Erinnerung sein, wenn sie daran denken, wie Greise und Greisinnen, auf einem Lastwagen kauernd, zum Gefängnis oder zum Bahnhof gefahren wurden; an allen vier Ecken des Wagens standen die Treiber und hielten die Gewehre mit blanker Waffe auf das zusammengepferchte Wild. Oder ein Junge von sechzehn Jahren wurde zu Fuß transportiert, von vier Bewaffneten umschlossen, jeder das zielende Gewehr in den Händen, der ganze Haufen von zweien geführt, die den Weg mit der Pistole zu sichern hatten. Es gibt kein infameres Bild grausamer und zugleich feiger Willkür, als einen marschierenden Trupp, der auf sein Opfer von allen Seiten die Schußwaffen anlegt, den kurzen Augenblick der Tötung auf solche Weise gleichsam ins Endlose dehnend. Daß die nach Sibirien Verschickten winters in plombierten Viehwagen Lemberg verließen, um nach drei Wochen lebendig oder tot das Ziel zu erreichen, ist bei diesem System kaum noch des Aufhebens wert. Mit dreitausend wird die Höhe der Opfer beziffert, die in den Kellern des GPU.-Gefängnisses ihr Ende fanden; ehe die Henker das Haus verließen, steckten sie es in Brand. Es gibt Zeiten im Leben des einzelnen – und sie häufen sich, je älter er wird –, in denen ihm auch die herzzerreißendsten Vorgänge wie Szenen eines übermenschlichen Schauspiels erscheinen, ihn mehr fesselnd als erschütternd. In kriegerischen Epochen ist so viel schneidend Gegensätzliches auf engstem Raum beisammen, in jede Freude mischt sich das Bewußtsein des Schrecklichen, höchstes Menschtum erscheint dicht neben äußerster Bestialität, das Heilige so unmittelbar neben dem Verruchten, daß es weit über alle Nervenkraft geht, das einzelne wirklich mitzufühlen, mitzudenken, mitzuleben. So wird gerade im Kriege das gefaßte Zusehen, von dem oben die Rede war, allgemein, als wäre den Seelen eine durchsichtige, aber fast unverletzliche Hülle gewachsen – eine Schutzmaßnahme unserer Natur, damit wir auch das Härteste ohne tieferen Schaden ertragen. Daß der Krieg gegen einen Gegner wie den Bolschewismus – und damit ist nicht allein der russische Soldat gemeint, sondern auch, und eigentlich mehr noch, der Typus, der das System intellektuell vertritt – hart sein muß, leuchtet jedem ein, der diesen Gegner kennt. Ebenso, daß ein harter Krieg nur mit schonungslosen Entschlüssen, erbarmungslosen Zugriffen geführt werden kann. Wer heimkehrt und von diesem Krieg erzählt, wird Uneingeweihten völlig gefühllos erscheinen, denn er wird ohne Erregung berichten, wie wenig das Menschenleben in dem Lande gegolten hat, aus dem er kommt. Dann mögen die Daheimgebliebenen immer bedenken, daß er Szenen des härtesten Krieges hinter sich hat und daß er zum kalten Zuschauer werden mußte, wenn er sie kämpfend durchstehen sollte.

Manchmal aber kann das Schöne, plötzlich aufleuchtend aus dem Furchtbaren, von nie gekannter Gewalt sein. So erlebte ich drei Tage nach den ersten Eindrücken von Lemberg in einem Konzert die Unvollendete. Wie da Instrumente, die der Mensch gebaut hat, nicht den Tod in den Saal schleuderten, sondern auf vertraute Weise zu tönen, zu singen begannen, und wie sich aus den Klängen in vollkommenster Übereinkunft eine zarte, unsagbar schöne Welt aufbaute, das war erschütternder als die Bilder des Schreckens. Die Spannweite des Geistigen im Menschen, von seiner äußersten Nachtseite bis zu den hohen Werken der Kunst, wurde an dieser Stelle so unmittelbar deutlich, daß vielleicht das Bewußtsein davon die Macht der Töne noch überwog und zu einer Ergriffenheit führte, die jenseits des musikalischen Erlebnisses wurzelte. Für mich selbst erfuhr ich dabei wieder einmal, daß die klare Ordnung eines Kunstwerks, das zarte Walten hoher geistiger Gesetze tiefer zu erregen vermag als die Wirkungen der Gewalt. Dazu kommt freilich gerade bei Schubert die unvergängliche Frische seiner Eingebung; etwas wunderbar Reines und Frühes liegt über seiner Schöpfung, dem Lichte eines Maimorgens über dem Wienerwald vergleichbar. Als das Gesangsthema des ersten Satzes über den Synkopen der Begleitung einsetzte – wodurch ein selbstvergeßnes Sichwiegen entsteht, unnachahmlich in seiner versonnenen Anmut –, lösten sich die Bilder der Zerstörung in Nichts auf, die Wirklichkeit wurde unglaubhaft, die Welt der Töne wirklich. Das Auf und Nieder der Geigenbögen, die gestreckten Hölzer der Bläser, das schimmernd versammelte Blech auf der rechten Seite des Orchesters – die Abende stiegen wieder herauf, da man selbst an einem Pult der Celli saß und dem Geheimnis aller Musik dichter auf der Spur war als je zuvor. Der Bruder saß bei den Bratschen, und Blicke des Einverständnisses steigerten den Genuß des Musizierens – heute steht er irgendwo zwischen Gomel und Smolensk –, in diesem Augenblick aber war mit der Melodie auch er da und war alles da, was zum Frieden jener Jahre gehörte.

Wieder einmal war es erstaunlich, wie gut sich der Kaiserwalzer von Strauß in der anspruchsvollen Nachbarschaft der Unvollendeten hielt; es ist wahr, sie stammen aus dem gleichen Boden, aber das allein reichte nicht hin, es muß der gleiche Funke in ihnen sein, der göttliche, der Unsterblichkeit verbürgt. Nichts beschwört eine Epoche greifbarer herauf als die Walzer von Strauß; daß sie trotzdem unvergänglich sind, ist ihr innerstes Geheimnis. Es bedurfte nur der ersten paar Takte, und die Erinnerungen gingen bis vor den Weltkrieg zurück, in den eigentlichen Frieden also; der Hofgarten war voll promenierender Menschen, die Damen trugen Straußenfedern auf den riesigen Hüten, es war ein Sonntagvormittag im Juni, und durch das Grün der Baumkronen fiel ein festliches Licht auf die himmelblauen Waffenröcke; wir Pennäler standen in Gruppen abseits, scheu und herausfordernd in einem, und starrten den Mädchen nach, die, errötend unter den Blicken der jungen Leutnants, uns übersahen, als wären wir durchsichtiger als Luft. Die Promenade führte um den offenen Pavillon herum, in welchem das kleine Orchester musizierte, und alles bewegte sich in einer Heiterkeit, die von den Straußwalzern immer wieder befeuert wurde. Wie könnte einer von uns den etwas leeren Zauber dieser letzten Tage eines langen Friedens vergessen, in den jäh wie ein Windstoß die erste Kriegserklärung fuhr, um ihn wegzufegen für immer?

Aber die Magie dieser Musik war auch diesmal so stark, daß mein Kamerad und ich die fremde Dame, die uns zur Seite saß, fragten, ob sie schon jemanden hätte, der sie nach Hause brächte. Sie nahm unsere Begleitung lächelnd an, gleicherweise vielleicht wie wir in eine gesellig verbindlichere Zeit versetzt, von der hinreißenden Tanzmelodie aufgelockert und zwei völlig Unbekannten gegenüber zur Mitteilsamkeit bereit. Hinter der verdunkelten Stadt stand ein hellroter Schein – es brannte wohl irgendwo –, und wir sahen eine Weile zu, wie er bald plötzlich anschwoll, bald wieder zusammensank, als fänden Detonationen des Lichtes statt, die man nicht hören kann. Dieser Vorgang hatte etwas grausam Heimliches an sich, wie überhaupt das Feuer, wenn es zerstört, einem herrlichen Raubtier gleicht, einem schleichenden, lautlos reißenden, das Schrecken und Bewunderung einflößt.

Von den beiden elementaren Gewalten der Musik und des Feuers erregt, führten wir von Anfang an das Gespräch in freierer Art, als es uns bei der Kürze und Zufälligkeit der Bekanntschaft eigentlich zustand. Die Dame schien eine Kennerin der Sterne, und obwohl sie sich nur langsam verständlich machen konnte, knüpfte sie an die Betrachtung der schönen Himmelsbilder doch so geschickt Persönlichstes aus ihrem Leben, daß wir sie beim Abschied besser kannten, als man von einem kurzen Nachhauseweg erwarten durfte. Sie hatte sehr schöne dunkle Augen, eine feine Nase und einen kleinen, etwas traurigen Mund. Die ukrainisch-polnische Mischung der Ehe schien nicht ganz das Richtige zu sein, vielleicht aber war es mehr noch ihre sensible Art, die das Verhältnis schwierig machte. Wunderlich blieb, daß sie sich Fremden gegenüber so rückhaltlos aussprach, aber daran war wohl der ganze Abend schuld mit seiner Musik, der sommerlich weichen Luft und den Sternen. Vielleicht auch der Krieg. Denn neben seiner zerstörenden hat er auch die feinere Macht, in Gewohnheit Erstarrtes zu lösen und wieder zum Fließen zu bringen: dadurch, daß er fast jeden vor eine ungewöhnlich neue Ordnung der Dinge stellt, zwingt er ihn, sein Leben, das ihn bisher gleichsam dahingetragen hatte, einmal anzuhalten und die Richtung zu überprüfen, nach der es läuft. Da kann es sein, daß Ehen sich als nicht stark genug erweisen, andere wieder sich festigen; daß Frauen zum erstenmal wieder seit dem Hochzeitstag die Frage zu hören glauben, auf die sie damals ja gesagt hatten, und daß sie zu zweifeln beginnen, ob sie auch heute so antworten würden. Mit dem Lockerwerden von Bindungen geht Hand in Hand ihr rascheres Zustandekommen, mit einem Wort: das Leben atmet schneller, einem Ängstlichen gleich, den eine große Gefahr bedroht.

*

Nach tagelangem Herumsuchen fand ich ein nettes Mansardenzimmer in einem kleinen Einfamilienhaus. Ein paar Wochen vorher hatte es ein junger russischer Leutnant bewohnt, ein stiller, gutmütiger Mensch, wie die Hausleute erzählten, aber die letzte Zeit vor dem Ausbruch des Krieges sei er jeden Abend sinnlos betrunken nach Hause gekommen. Hatte er das Unwetter vorausgespürt, das über die Sowjetarmee hereinbrechen würde, und versuchte er, sich auf russische Weise damit abzufinden?

Vor dem Fenster stand eine junge Ulme, dahinter die Ruine eines großen Gebäudes; aber der Baum und der Sommerhimmel, über den in unaufhörlichem Wechsel das Spiel der Wolken ging, waren Landschaft genug – ich fühlte mich fast wie zu Hause. Ich hatte die Nacht zuvor in der Wohnung eines zu Geld gekommenen Metzgermeisters verbracht. Die ganze Familie, deren Umfang bei dem ewigen Kommen und Gehen immer neuer Dazugehöriger schwer festzustellen war, machte dem Gewerbe ihres Oberhauptes alle Ehre: da gab es keinen Dürren weit und breit, selbst die vierzehnjährige Tochter war schon ganz auf der Höhe der Zunft. Die Wohnung, in kleinbürgerlichem Geschmack eingerichtet, hatte einen Raum, der den gesamten Ehrgeiz der Familie, über den Fleischerladen auf irgendeine Weise hinauszuwachsen, in sich zu verkörpern schien: das strahlend weiß gekachelte Bad. Man konnte nicht anders als Mund und Augen aufreißen, als es der Hauswirt mit dem Stolz eines Mannes zur Schau bot, der weiß, daß es vielleicht das eleganteste Badezimmer in ganz Galizien ist. Da blitzte es von Nickelhähnen und geschliffenem Glas, von Schaltern und Lampen, und alles spiegelte sich in den prallen Wangen des Besitzers mit einer Eitelkeit, die man so sachlichen Einrichtungen nie zugetraut hätte. Es war ein kleiner Haustempel der Zivilisation. Leider war er nur durch das eheliche Schlafzimmer zu erreichen. Das spiele weiter keine Rolle, meinte der Hausherr gutherzig, aber ich zog es doch vor, am nächsten Morgen das »alte« Badezimmer aufzusuchen. Der Unterschied war niederschmetternd. Die an einem Leitungsdraht baumelnde Birne gab einen Schein, als wäre sie zum Leuchten zu müde oder zu faul, während dickes Spinnweb am winzigen Fenster das Tageslicht unerbittlich hinaussperrte. Das Waschbecken hing schief an der Wand und warnte ernstlich davor, es zu benützen, und man ging nicht fehl, wenn man von vorneherein annahm, keine Vorrichtung würde funktionieren. Der Besuch öffentlicher Badeanstalten in östlicheren Städten gab später der Vermutung recht, daß dieses ursprüngliche Bad der Familie Fleischermeister der landesübliche Typus sei. Es war gar zu traurig, sich hier zu rasieren, während man den Hausherrn unter funkelnden Hähnen schwelgen wußte; da blieb nichts übrig, als wieder auszuziehn.

Wer hätte nicht erfahren, daß mit der Lage, der Größe und Einrichtung eines Zimmers ganz bestimmte Erinnerungen verbunden sind? So fühlte ich mich in der kleinen Dachkammer vom ersten Augenblick an in meine Gymnasialzeit zurückversetzt, und auch die Stimmungen kamen wieder, die mich damals froh und schwermütig, ausgelassen und verzweifelt gemacht hatten. Es war die richtige Bude, um zweieinhalb Jahrzehnte aus dem Leben zu streichen und in Seelenbezirke zurückzukehren, aus denen man längst vertrieben ist.

Der Zufall wollte es, daß ich in einem eben eröffneten Antiquariat eine Gesamtausgabe der Werke von Ibsen ergatterte. Wir waren in unserer Fahrt nach Osten nur aufgehalten, nicht am Ziel, und hatten daher eigentlich keinen Dienst. So begannen für mich Tage jener geliebten und zugleich durchlittenen Einsamkeit, die dem jungen Menschen gemäß ist, solange er sich in keinem Stücke fertig weiß. Briefe schreiben, durchs Fenster starren, Bücher lesen, zwischen Trotz und Verzagtheit das Alleinsein ertragen, sich sehnen und nicht wissen wonach, froh sein und nicht wissen warum, das alles gehört zum Siebzehnjährigen, und der kann man wieder werden, wenn es die Stunde will. Auch damals hatte ich Ibsen gelesen; und es war sonderbar: einzelne Sätze müssen mir weit unter dem Bewußtsein im Gedächtnis gehaftet haben, denn als ich sie jetzt las, hoben sie sich aus der Tiefe und nahmen gleichsam das Erdreich mit herauf, in dem sie wurzelten, unfaßbare Stimmungen wurden fühlbar, die damals die Stunde des Lesens durchdrungen hatten. Genauer läßt sich solche Wiederkehr des Vergangnen nicht zergliedern, die Erscheinung zergeht, wenn man sie anruft.

Ich las alles, was der Mann geschrieben hatte, ich las es anders als vor fünfundzwanzig Jahren, mit einem anderen Blick für seine Kraft, aufzuhellen, seine Neigung, aufzuklären, aber ich sah, daß er trotz allem, was man gegen ihn sagen mag, unvergeßliche Menschen erschaffen hat. Die Männer kommen meist schlecht weg, er klopft sie ab von Kopf bis Fuß und da klingt es oft hohl und morsch und falsch – ist diese Art seither wirklich ganz ausgestorben? Mit einer Leidenschaft ohnegleichen geht er gerade den schwierigsten Verlogenheiten nach und macht sie meisterhaft deutlich. Eine Frau aber wie Nora ist noch immer wundervoll und die Frau vom Meere trotz der romantischen Zutaten ein echtes Weib.

Während dieser Stunden, in denen ich unter Figuren einer Traumwelt lebte, gingen oft kurze, äußerst heftige Gewittergüsse nieder, die aber in der großen Hitze des Sommers rasch verdampften. Darin stand wieder schneeweißes Gewölk im gereinigten Blau. Mit theaterhafter Plötzlichkeit folgten einander die Szenen der Natur, so daß besonders jene Stücke, die im Sommer spielten, einen großartigen Hintergrund hatten.

Am letzten Nachmittag vor unserer Abreise klopfte es an die Tür meiner Kammer; ein Melder wahrscheinlich – da war es die Dame aus dem Konzert. Ich war ihr vor einigen Tagen nochmals begegnet, hatte ihr von meinem kleinen Zimmer erzählt und wie zufrieden ich sei; hatte sie gefragt, ob sie sich nicht einmal den Garten ansehen wolle, der vom Hausherrn mit viel Liebe betreut werde. Nun stand sie vor der Tür – ich war gerade beim Einpacken – und meine Verwunderung war nicht geringer als ihre Verwirrtheit. Ich mußte an Szenen landläufiger Romane denken, in denen die verheiratete Frau zum erstenmal den vom Leser mit Spannung erwarteten Besuch macht. Ich glaubte, sogar die Redewendungen schon gelesen zu haben, die ich nun hörte. Aber seltsam: so verlogen sie in den Romanen klingen, hier klangen sie ganz wahrhaftig, und ich schämte mich ein wenig, die Begegnung ironischer zu sehen, als sie gemeint sein konnte. Denn in allem, was die Frau nun sagte, war der echte Ton des Abschieds zu spüren, diese herbe, immer wieder ergreifende Melodie. Ich brauchte fast nichts zu antworten. Mit großer Offenheit, unbekümmert um die Schwierigkeiten der Verständigung, hin und wieder ein französisches Wort für das mangelnde deutsche setzend, gab sie mir zu verstehen, wie es um sie stand. Sie hatte mir erlaubt, weiter zu packen, und dies erleichterte mir das Zuhören; denn ich fand mich in einer ganz und gar ungewohnten Lage, wenn auch die Lektüre der letzten Tage mir zu Hilfe kam – war nicht auch dies eine der vielen Szenen, die sich vor mir abgespielt hatten? Aber trotz des Schauspielhaften der Stunde war es doch das Leben selbst, das mit uns spielte. Als wir uns im Konzert zum erstenmal ansahen – von der Musik den Schranken des Gesellschaftlichen enthoben –, muß in uns beiden etwas sehr Ungleiches vor sich gegangen sein: ich sah wohl nur, daß die Frau schöne Augen hatte, sie aber fühlte sich vielleicht aus einer langen, immer unerträglicher werdenden Umschnürung befreit –, und nun stand schon wieder der Abschied bevor, und wohl für immer. Das hatte sie hergetrieben, und nun sah sie zu, wie Stück um Stück des kleinen Hausrats, den ein Soldat mit sich führt, im Koffer verschwand, und mußte fühlen, wie weit ich schon fort war, durch nichts mehr einzuholen, durch kein Wort, keinen Blick, keinen Kuß. Da sie eine echte Frau war, wußte sie dies alles ohne viel Erklärungen, sie las es von meinem Gesicht ab, sah es den geschäftigen Händen an, dem kahl werdenden Zimmer, und draußen ging der Wind durch den Baum, eher herbstlich schon als sommerlich. Bei allem Freimut, mit dem sie von den Empfindungen sprach, die sie in den letzten Tagen außer sich gebracht hatten, bewahrte sie bis zuletzt die Haltung der Frau, und es war ein unvergeßliches Geschenk dieser Stunde, einem Wesen begegnet zu sein, in welchem sich Kühnheit und Zucht, Feuer und Form so restlos durchdrangen.


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