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XII. Der Weg nach Golgatha

Zwanzig bis dreißig Sekunden vergingen. Veronika war allein. Die Stricke schnitten sie ins Fleisch. Das Eisengeländer des Balkons stieß an ihre Stirn. Der Knebel ließ sie fast ersticken. Die am Rücken festgebundenen Unterschenkel mußten die ganze Last ihres Körpers tragen. Es war ein furchtbares Martyrium. Sie litt, hatte aber doch kein deutliches Empfinden dieses Leidens. Ihre physische Qual kam ihr nicht zum Bewußtsein nach all der seelischen Pein, die sie erduldet hatte.

Sie konnte keinen Gedanken mehr fassen. Sie wollte sterben und genoß bereits im voraus die Ruhe des Nichts, wie man bei einer stürmischen Seefahrt im voraus die Ruhe des Hafens genießt. Das Schicksal ihres Sohnes beschäftigte sie kaum. Sie hoffte auf ein Wunder.

Alle Geräusche im Hause: das Sprechen von Leuten, Schritte, Bewegungen schienen ihr nicht die angekündigten Maßregeln, sondern vielmehr Handlungen anzudeuten, die darauf abzielten, die Pläne Vorskis zunichte zu machen. Hatte ihr inniggeliebter Franz nicht gesagt, daß nichts mehr sie beide trennen könnte und daß sie sogar dann noch nicht die Hoffnung aufgeben sollte, wenn alles bereits verloren schiene?

»Franz, mein Franz,« wiederholte sie einmal über das andere, »du wirst nicht sterben ... wir werden uns wiedersehen ... du hast es mir versprochen.«

Draußen breitete sich ein blauer Himmel, an dem drohend einige Wolken hingen, über die großen Eichen aus. Sie blickte durchs Fenster dahin, wo sie auf dem Rasen, über den sie mit Honorine gegangen war, damals ihren Vater gesehen hatte. Man hatte jetzt dort einen Platz geebnet und mit Sand bestreut, der aussah wie eine Arena. Sollte dort etwa ihr Sohn sich schlagen? Ihr Herz krampfte sich bei diesem Gedanken zusammen.

In diesem Augenblick wurde im Erdgeschoß eine Türe geöffnet. Stimmen drangen zu ihr herauf. Sie erkannte Vorskis Stimme.

»Also,« sagte er, »verstanden? Wir kommen von verschiedenen Seiten, ihr beiden links und ich rechts. Ihr nehmt den einen Jungen und ich den anderen. Mitten auf dem Platz treffen wir uns wieder. Ihr seid sozusagen die Zeugen des einen, ich bin der Zeuge des anderen, so daß alle Regeln genau beachtet werden.«

Veronika schloß die Augen, denn sie wollte nicht mitansehen, wie ihr Sohn mißhandelt und gleich einem Sklaven zum Kampfplatz geschleppt wurde. Der entsetzliche Vorski lachte und rief:

»Bis hierher und nicht weiter. Die beiden Gegner sollen sich jetzt aufstellen. Stillgestanden, ihr beiden da! Kein Wort mehr! Wer von euch beiden spricht, den schlage ich nieder. Seid ihr bereit? Los! --«

So sollte denn wirklich dieser schreckliche Kampf ausgefochten werden! Vor den Augen der Mutter sollte der Sohn sich schlagen! Sie mußte hinsehen, ob sie wollte oder nicht.

Da sah sie, wie beide schon aufeinander losgingen. Aber was da geschah, war ihr nicht sofort verständlich. Sie gewahrte wohl die beiden Kinder. Doch welcher von ihnen war Franz und welcher Reinhold?

Sie waren beide gleich gekleidet, trugen dieselben kurzen Samthosen, dieselben weißen Flanellhemden, dieselben Ledergürtel. Beide hatten den Kopf mit einer rotseidenen Schärpe verhüllt, in der sich nur je zwei Löcher für die Augen befanden.

Welcher war Franz? Welcher war Reinhold?

Da erinnerte sie sich der unerklärlichen Drohung Vorskis. Das also nannte er die genaue Vorführung seines Programms! Das also war das eigens von ihm erfundene Vergnügen! Nicht nur, daß der Sohn unter den Augen der Mutter kämpfen mußte -- nein, sie sollte nicht einmal wissen, wer von beiden ihr Sohn sei!

Höllisch ausgedacht! Vorski hatte es selbst gesagt: Kein Schmerz sollte dem Schmerz Veronikas gleichkommen.

Nichts wußte sie. Kein Anzeichen konnte ihr Gewißheit geben. Der eine von beiden war größer, zarter, schlanker. War das Franz? Der andere gedrungener, stämmiger, schwerfälliger. War das Reinhold? Sie konnte es nicht sagen. Wenn sie nur ein Stückchen vom Gesicht und einen flüchtigen Zug gesehen hätte! Doch wie die undurchdringliche Maske durchdringen?

»Bravo!« schrie Vorski und klatschte bei einem Angriff lebhaft Beifall.

Er schien das Duell wie ein Amateur zu verfolgen und tat so, als ob er völlig unparteiisch wäre und nur dem Tüchtigeren den Sieg wünschte. Und doch war es einer seiner Söhne, den er zum Tode verurteilt hatte.

Hüben und drüben standen die Komplizen Vorskis. Es waren Kerls mit brutalen Gesichtern und spitzen Schädeln, beide mager, aber der eine mit einem dicken Hängebauch. Sie klatschten nicht Beifall. Sie standen dem Schauspiel gleichgültig gegenüber, vielleicht sogar feindlich.

»Sehr gut«, nickte Vorski. »Fein pariert! Ein Paar tüchtige Jungen! Ich frage mich, wem die Palme gebührt.«

Er sprang um die Gegner herum und ermunterte sie mit seiner heiseren Stimme, die Veronika an manche Szenen der Vergangenheit erinnerte, wenn er unter dem Einflüsse des Alkohols gestanden hatte. Da streckte die Unglückliche die Hände nach ihm hin und stöhnte unter dem Knebel, der ihr im Munde steckte.

»Gnade! Gnade, ich kann nicht mehr. Haben Sie Mitleid.«

Unmöglich konnte die Marter noch länger dauern. Ihr Herz schlug heftig und sie war nahe daran, in Ohnmacht zu fallen, als plötzlich etwas geschah, was ihr wieder ein wenig Mut machte. Einer der beiden hatte nach einem ziemlich heftigen Angriff plötzlich einen Sprung nach rückwärts gemacht und nun verband er seine rechte Faust, aus der einige Blutstropfen flössen. Es kam Veronika vor, als ob sie in den Händen des anderen das kleine blau getupfte Taschentuch gesehen hätte, dessen ihr Sohn sich bediente.

»Das ist Franz,« murmelte sie ... »ja, ja, er ist es ... Du bist es, nicht wahr, mein Liebling? Ich erkenne dich wieder ... der andere ist so gewöhnlich und schwerfällig ... Du bist es, Liebling ... Ach, mein Franz, mein angebeteter Franz.«

Wenn beide sich auch mit gleichem Eifer schlugen, so war jener doch in seinen Angriffen weniger stürmisch und nicht von so blinder Wut. Man konnte meinen, es käme ihm weniger darauf an zu töten als zu verwunden und daß seine Angriffe mehr darauf abzielten, sich nur zu verteidigen. Veronika beunruhigte das, und sie stammelte, wie wenn der Knabe es hätte hören können: »Schone ihn nicht, Liebling! Auch er ist ein Ungeheuer wie sein Vater. Ach, mein Gott, wenn du großmütig bist, bist du verloren! Franz, Franz, sieh dich vor.«

Eben hatte der Dolch über dem Haupte dessen geblitzt, den sie ihren Sohn nannte. Trotz des Knebels in ihrem Munde hatte sie ihn warnen wollen. Da nun Franz dem Hieb auswich, war sie der Überzeugung, daß er den Schrei gehört hätte, und sie warnte und mahnte weiter:

»Ruh' dich aus ... schöpfe Atem ... laß ihn ja nicht aus dem Auge ... er hat etwas vor ... jetzt wird er auf dich losstürzen! Ach, mein Liebling, beinahe hätte er dich in den Hals gestochen. Sieh dich vor, er ist ein Verräter ... Jedes Mittel ist ihm recht.«

Aber bald merkte die unglückliche Mutter, obwohl sie es sich selbst nicht einzugestehen wagte, daß er schwach zu werden begann. Gewisse Anzeichen ließen eine Abnahme der Widerstandsfähigkeit erkennen, während der andere im Gegenteil immer eifriger und überlegener wurde. Franz wich zurück. Er war bereits an die Grenze des Kampfplatzes gelangt.

»Na, Bengel«, höhnte Vorski. »Du willst doch nicht etwa das Hasenpanier ergreifen! Nerven, zum Teufel!«

Das Kind machte einen neuen Angriff, und jetzt mußte der andere zurückweichen. Vorski klatschte in die Hände, während Veronika stöhnte:

»Für mich wagt er sein Leben. Das Ungeheuer wird ihm gesagt haben: Das Schicksal deiner Mutter hängt von dir ab. Bleibst du Sieger, so ist sie gerettet, und er hat geschworen, daß er siegen werde. Er weiß, daß ich zusehe. Er ahnt meine Gegenwart. Er hört mich. Mein heißgeliebter Sohn, sei gesegnet.«

Es war die letzte Phase des Zweikampfes. Veronika zitterte erschöpft vor Erregung über die fortwährend wechselnden Chancen des Kampfes. Noch einmal verlor ihr Sohn an Terrain, noch einmal kam er wieder nach vorn. Nun aber verlor er das Gleichgewicht und stürzte so unglücklich, daß er auf seinen rechten Arm fiel.

Alsbald warf sich der Feind auf ihn, kniete auf seiner Brust und hob den Arm. Der Dolch blitzte.

»Hilfe! Hilfe!« stöhnte Veronika, trotz des Knebels, der sie zu ersticken drohte.

Sie richtete sich trotz der quälenden Fesseln an der Wand hoch. Ihre Stirn blutete. Sie fühlte, daß sie durch den Tod ihres Sohnes selbst zugrunde gehen würde. Vorski hatte sich genähert. Er rührte sich nicht, verzog keine Miene.

Zwanzig Sekunden, dreißig Sekunden. Mit ausgestreckter Linken wehrte sich Franz gegen den Feind, aber der Arm des Siegers lastete mehr und mehr auf ihm, die Klinge fuhr hernieder, die Spitze des Dolches war nur noch wenige Zentimeter von seinem Halse entfernt.

Vorski bückte sich. In diesem Augenblick stand er hinter Reinhold, so daß er weder von diesem noch von Franz gesehen werden konnte. Er sah dem Kampf mit einer Aufmerksamkeit zu, als ob er beabsichtigte, im gegebenen Augenblick einzugreifen. Aber zu wessen Gunsten? Hatte er etwa die Absicht, Franz zu retten? Veronika atmete nicht mehr.

Die Spitze des Dolches berührte den Hals und mußte jeden Augenblick in das Fleisch eindringen, wenn es Franz nicht gelang, sie abzuwehren.

Vorski bückte sich immer tiefer zu ihm herab, ließ die mörderische Spitze nicht aus den Augen. Plötzlich zog er ein Federmesser aus der Tasche, öffnete es und wartete. Es vergingen noch einige Sekunden, der Dolch senkte sich immer tiefer. Da ritzte Vorski plötzlich mit der Klinge des Federmessers Reinholds Schulter.

Das Kind stieß einen Schrei aus, sofort ließ es von dem Gegner ab und Franz, der nunmehr befreit war und den rechten Arm frei bekam, ging von neuem zum Angriff über. Er hatte Vorski nicht bemerkt und begriff nicht, welchem Umstande er seine Rettung verdankte. Er versetzte Reinhold jetzt seinerseits einen Dolchstich mitten ins Gesicht, so daß dieser wie eine regungslose Masse zu Boden fiel.

Alles das hatte keine zehn Sekunden gedauert. Aber diese Szene brachte die unglückliche Veronika in furchtbare Aufregung. Sie wußte nicht, ob sie sich freuen sollte oder ob sie sich etwa getäuscht hatte und ob nicht vielmehr ihr Franz von Vorski ermordet worden war.

Die Zeit rückte weiter. Veronika hörte die Wanduhr viermal schlagen und sagte:

»Nun ist Franz schon zwei Stunden tot, denn sicher war er es, der starb. Sie zweifelte nicht, daß das Duell diesen Ausgang genommen hatte. Vorski würde niemals zugegeben haben, daß Franz der Sieger und sein anderer Sohn der Unterlegene wäre. Also hatte sie gegen ihr eigenes Kind Partei ergriffen und für das andere gebetet.

»Franz ist tot«, wiederholte sie. »Vorski hat ihn getötet.«

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgestoßen und die Stimme Vorskis erscholl.

Mit wankenden Schritten trat er ein.

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, liebe gnädige Frau, aber ich glaube, Vorski hat geschlafen. Schuld Ihres Herrn Vaters, Veronika, er hatte in seinem Keller einen verdammten Wein, den Konrad und Otto entdeckten und von dem ich ein wenig betrunken bin. Aber weinen Sie nicht, man wird die versäumte Zeit schon wieder einbringen ... Übrigens muß um Mitternacht alles erledigt sein. Also ...«

Er hatte sich ihr genähert und rief:

»Was, der Lump, der Vorski hat Sie in Fesseln gelassen? Was für ein Vieh, dieser Vorski! Es muß Ihnen ja ziemlich unbehaglich sein! Donnerwetter, sind Sie blaß. Na, sagen Sie mir, sind Sie nun tot oder nicht? Nein, Sie dürfen uns nichts vormachen!« Er ergriff Veronika bei der Hand, die sie ihm heftig zu entziehen suchte.

»Alle Wetter! Man verabscheut also noch immer seinen lieben Vorski! Na gut, der wird sich schon zu helfen wissen.«

Er horchte auf.

»Was? Wer ruft mich denn? Bist du es, Otto? Was gibt es Neues? Ich habe nämlich geschlafen, mußt du wissen. Der verfluchte Wein ...«

Otto, der eine der beiden Komplizen, trat eiligst herein. Es war der mit dem Hängebauch.

»Was es Neues gibt?« rief er. »Folgendes: Ich habe jemanden auf der Insel gesehen.«

Vorski begann zu lachen.

»Bist du besoffen, Otto? Der verdammte Wein ...«

»Ich bin nicht besoffen ... ich habe gesehen ... und Konrad hat auch gesehen ...«

»So, so,« sagte Vorski jetzt ernster, »wenn Konrad bei dir war, dann ist das etwas ... ja, was habt ihr denn gesehen?«

»Eine weiße Gestalt, die verschwand, als wir näher kamen.«

»Wo war es?«

»Zwischen dem Dorf und der Heide in einem kleinen Kastanienwäldchen.«

»Also auf der anderen Seite der Insel? Gut, wir werden Vorsichtsmaßregeln ergreifen.«

»Ja, wie aber? Es sind vielleicht mehrere.«

»Und wenn es zehn sind, das ändert nichts an der Sache. Wo ist Konrad?«

»In der Nähe der Notbrücke, die wir an Stelle der abgebrannten gebaut haben. Dort hält er Wache.«

»Der Brand der Brücke hat uns auf der anderen Seite zurückgehalten. Der Brand der Notbrücke bildet jetzt dasselbe Hindernis. Veronika, ich glaube, man kommt dir zu Hilfe ... das Wunder, das du erwartest ... kommt zu spät, liebe Schöne.«

Er löste die Fesseln, die sie an den Balkon banden, trug sie zum Sofa und lockerte ein wenig den Knebel. »Schlaf, meine Tochter, erhole dich, so gut du kannst, du bist erst auf dem halben Wege nach Golgatha, und das letzte Ende des Aufstiegs wird hart sein.«

Mit diesen Worten entfernte er sich. Veronika hörte noch einige Sätze der beiden Männer, die ihr bewiesen, daß Otto und Konrad nur Statisten waren, die von der ganzen Geschichte nichts wußten.

»Wer ist denn eigentlich die Unglückliche, die Ihr verfolgt?« fragte Otto.

»Geht dich gar nichts an.«

»Ja, aber Konrad und ich, wir möchten gern etwas Näheres wissen.«

»Warum denn zum Teufel?«

»Ja, wir möchten eben gern.«

»Konrad und du, ihr seid zwei Idioten«, antwortete Vorski. »Als ich euch in meine Dienste nahm, habe ich euch von meinen Plänen alles gesagt, was ich euch darüber sagen konnte. Ihr habt meine Bedingungen angenommen. Um so schlimmer für euch. Ihr habt A gesagt, folglich müßt ihr auch B sagen.«

»Und wenn wir das nicht tun?«

»Dann sollt ihr die Folgen verspüren. Ich mag keine Feiglinge!«

Weitere Stunden verflossen.

Veronika wünschte nicht mehr, daß das Wunder geschehe, auf das sie gewartet hatte. Sie dachte nicht einmal mehr daran. Ihr Sohn war tot; sie hatte keinen anderen Wunsch als ihm zu folgen, und müßte sie auch die schrecklichsten Martern erdulden. Was war ihr an diesen Martern gelegen! Sie war an der Grenze der Leiden angelangt, lange konnte es ja nicht mehr dauern.

Sie fing an zu beten ... Dann schlief sie ein. So tief schlief sie, daß sie bei Vorskis Rückkehr nicht erwachte. Er mußte sie aus dem Schlafe rütteln.

»Die Stunde ist nahe, liebe Kleine. Sprich dein Gebet.«

Er sagte ihr das leise ins Ohr, damit seine Gefährten ihn nicht hören konnten.

Dann rief er laut:

»Es ist noch zu hell. Otto, sieh doch mal im Vorratsbeutel nach. Ich habe Hunger.«

Sie setzten sich zu Tisch, aber Vorski sprang gleich wieder auf.

»Sieh mich nicht so an, Kleine. Deine Augen stören mich. Was willst du? Man hat ja gerade kein kitzliches Gewissen, solange man allein ist, aber sofort beginnt es sich zu regen, wenn einem ein schöner Blick wie der deine, bis ins Innerste dringt. Schlag die Augen nieder, Schöne.«

Er legte um Veronikas Augen ein Taschentuch, das er hinten am Kopf zusammenknüpfte. Aber das genügte ihm nicht. Er hüllte den ganzen Kopf in eine Tüllgardine, die er vom Fenster riß und dann am Halse zusammenband. Darauf setzte er sich nieder, um zu essen und zu trinken.

Alle drei redeten kaum ein Wort über das, was sie auf der Insel vorhatten, und ebensowenig erwähnten sie den Zweikampf vom Nachmittag. Solche Gespräche würden auch Veronika, selbst wenn sie darauf geachtet hätte, nicht mehr sonderlich aufgeregt haben. Alles wurde ihr fremd. Die Worte drangen zwar noch an ihr Ohr, hatten aber keinen Sinn für sie. Sie dachte nur noch an den Tod.

Als die Nacht gekommen war, gab Vorski das Zeichen zum Aufbruch.

»Sind Sie also immer noch entschlossen?« fragte Otto mit einer Stimme, die etwas gereizt klang.

»Fester denn je! Warum diese Frage?«

»Na ja ... aber ...«

»Aber?«

»Na, um es gerade heraus zu sagen, dieses Geschäft will uns nicht gefallen.«

»S'ist die Möglichkeit! Und das fällt dir erst jetzt ein, mein Lieber, nachdem du lächelnd die Schwestern Archignat aufgehängt hast?«

»An dem Tage war ich besoffen. Sie hatten uns so viel zu trinken gegeben.«

»Na, so besauf dich eben wieder! Da hast du die Kognakflasche. Gieß' dir den Hals voll und laß mich in Frieden ... Konrad, hast du die Bahre zurecht gemacht?«

Er wandte sich seinem Opfer zu.

»Eine besondere Aufmerksamkeit für dich, meine Liebe ... Zwei alte Stelzen deines Jungen, die man mit Weidenruten zusammengebunden hat ... Bequem und praktisch ...«

Gegen halb Neun setzte sich der unheimliche Zug in Bewegung. Vorski nahm die Spitze und hielt eine Laterne in der Hand. Die Genossen trugen die Bahre. Die Wolken, die schon den ganzen Nachmittag gedroht, hatten sich über der Insel schwer und schwarz verdichtet. Schnell senkte sich die Finsternis herab. Ein Gewittersturm brach los, der die Kerze in der Laterne flackern ließ.

»Brr,« murmelte Vorski, »ist das aber düster ... der reine Golgathaabend.« Plötzlich wich er ein bißchen beiseite und brummte etwas, da er eine kleine schwarze Masse bemerkte, die ihm zur Seite herumhüpfte.

»Was ist denn das? Sieh doch! ... Wie ein Hund schaut es aus ...«

»Das ist der Hund des Jungen«, sagte Otto.

»Aha, der berühmte Allesgut? ... kommt gerade zurecht, hahaha, es geht ja wirklich alles gut! Na, warte, dreckige Bestie.«

Er stieß mit dem Fuß nach ihm. Allesgut wich aus und begleitete jetzt außer Reichweite, aber laut bellend, den Zug.

Der Aufstieg war schwierig. Jeden Augenblick kam einer von den drei Männern von dem unsichtbaren Wege ab, der längs der Häuserfront nach dem Feen-Dolmen führte. Dabei blieben sie in Brombeersträuchern und Efeugerank hängen.

»Halt!« kommandierte Vorski. »Verschnauft ein wenig, Kerls. Otto, reich mir mal die Flasche. Mir ist nicht ganz wohl zumute.«

Er trank in gierigen Zügen.

»Jetzt bist du dran, Otto ... Was, du willst nicht? Was hast du denn?«

»Mir ist, als wären Leute auf der Insel. Sicher suchen uns die ...«

»Sie sollen uns nur suchen!«

»Und wenn sie im Kahn kommen und den Steg am Abhang heraufkriechen, über den die Frau und das Kind heute morgen fliehen wollten?«

»Wir haben einen Angriff zu Lande und nicht zur See zu fürchten. Aber die Notbrücke ist ja verbrannt; es gibt keine Verbindung mehr.«

»Falls sie nicht den Zugang zu den Zellen entdecken und durch den Tunnel bis hierher kommen.«

»Haben sie denn diesen Zugang entdeckt?«

»Ich weiß es nicht.«

»Na, angenommen, sie finden ihn. Wir haben doch erst kürzlich den Zugang von dieser Seite verrammelt, die Treppe zerstört und alles in Unordnung gebracht. Um sich da einen Weg zu bahnen, brauchten sie wohl einen halben Tag. Doch bereits um Mitternacht wird alles geschehen sein, und bei Tagesanbruch sind wir schon weit fort von Sarek.«

»Wird alles geschehen sein? ... Was wird geschehen sein? Das heißt also, wir werden ein neues Verbrechen auf dem Gewissen haben! Aber ...«

»Was aber?«

»Der Schatz?«

»Ach so, der Schatz! Da hast du ein großes Wort gelassen ausgesprochen. Der also quält dich, du Schuft? Na, beruhige dich nur, es ist so gut, als wenn du dein Teil bereits in der Tasche hättest.«

»Wissen Sie das auch genau?«

»Ganz genau. Glaubst du denn, ich bleibe zum Vergnügen hier bei dem schmutzigen Geschäft?«

Sie gingen wieder weiter. Nach Verlauf einer Viertelstunde fielen einige Regentropfen nieder. Der Donner rollte. Das Gewitter schien aber noch weit zu sein.

Mit Mühe vollendeten sie den schwierigen Aufstieg, und Vorski mußte seinen Genossen dabei behilflich sein.

»Endlich sind wir oben! Otto, die Flasche ... So ist's recht. Danke ...«

Sie hatten ihr Opfer am Fuße der Eiche, deren untere Äste abgehauen waren, zu Boden gesetzt. Ein Lichtstrahl aus der Laterne beleuchtete die Inschrift: V. v. H. Vorski hob einen Strick auf, den er vorher dorthin gebracht hatte, und lehnte eine Leiter an den Baum.

»Wir wollen es machen wie bei den Schwestern Archignat«, sagte er. »Ich werde den Strick um den Hauptast des Baumes legen. Der kann uns als Aufzug dienen.«

Auf einmal sprang er beiseite. Etwas Ungewöhnliches war geschehen. Er murmelte:

»Was? Was ist denn das? Habt ihr dieses Pfeifen gehört?«

»Ja,« sagte Konrad, »es sauste mir dicht am Ohr vorbei, eine Kugel oder so etwas.«

»Du bist ja verrückt.«

»Ich habe es auch gehört,« sagte Otto, »und mir ist, als wenn es den Baum getroffen hätte.«

»Welchen Baum?«

»Na, die Eiche, zum Teufel! Grade als ob man auf uns geschossen hätte!«

»Es hat doch gar nicht geknallt.«

»Dann muß es ein Stein gewesen sein, der die Eiche getroffen hat.«

»Können wir gleich feststellen«, sagte Vorski.

Er drehte seine Laterne ein wenig. Gleich darauf stieß er einen Fluch aus.

»Donnerwetter! Seht doch! Gerade unter der Inschrift ...«

Sie schauten hin.

An der Stelle, auf die er zeigte, steckte ein Pfeil, dessen Federn noch zitterten.

»Ein Pfeil«, stammelte Konrad.

»Ja, ein Pfeil, ist's möglich?« Otto stöhnte.

»Wir sind verloren! Das hat uns gegolten!«

»Der auf uns gezielt hat, kann nicht weit sein«, bemerkte Vorski. »Macht mal die Augen auf ... Wir wollen ihn suchen.« Er ließ das Licht der Laterne rings in die umgebende Finsternis leuchten.

»Halt!« sagte Konrad lebhaft ... »ein wenig mehr rechts ... sehen Sie? ...«

»Ja ... ja ... ich sehe.«

Etwa vierzig Schritte von ihnen, jenseits der vom Blitz verstümmelten Eiche bemerkte man etwas Weißes, die Umrisse einer Gestalt, die sich, wie es schien, hinter einem Gebüsch zu verbergen suchte.

»Kein Wort! Keine Bewegung!« befahl Vorski. »Nichts, woraus er entnehmen könnte, daß wir ihn entdeckt haben. Konrad, du begleitest mich. Du, Otto, bleibst hier mit dem Revolver in der Hand und gibst acht. Wenn einer näher kommt und die Frau etwa befreien will, so feuerst du zweimal und wir sind sofort bei dir. Verstanden?«

»Verstanden!«

Er bückte sich über Veronika und zog den Schleier ein wenig beiseite. Augen und Mund blieben immer noch verdeckt. Sie atmete schwer. Der Puls war langsam und schwach.

»Wir haben Zeit,« flüsterte er, »dennoch heißt es eilen, wenn wir nicht wollen, daß sie vorher stirbt. In jedem Fall scheint sie nicht zu leiden. Sie hat das Bewußtsein verloren.«

Vorski setzte seine Laterne zur Erde. Dann schlich er sich mit seinen Genossen nach der Richtung hin, wo er die weiße Gestalt bemerkt hatte.

Bald aber sollte er gewahr werden, daß diese Gestalt, die anfangs unbeweglich schien, sich ebenso vorwärts bewegte wie er, so daß der Zwischenraum zwischen ihnen immer derselbe blieb. Sie war noch von einer anderen, schwarzen, kleinen Gestalt begleitet, die an seiner Seite herumsprang.

»Das ist die verdammte Bestie«, brummte Vorski. Er beschleunigte seine Schritte. Die Entfernung wurde nicht kleiner. Die Gestalt lief ebenfalls und, was das seltsamste war: man hörte kein Geräusch, weder von raschelndem Laub noch von den Schritten dieser geheimnisvollen Persönlichkeit.

»Teufel«, fluchte Vorski, »der macht sich lustig über uns! Was meinst du, Konrad, wenn man auf ihn schießen würde?«

»Zu weit; die Kugeln würden ihn nicht treffen.«

»Ja, wie denn! Wir gehen doch nicht etwa ...«

Der Unbekannte führte sie nach der Spitze der Insel. Dann stieg er bis zum Ausgang des Tunnels hinab, kam an der Abtei vorbei, ging den östlichen Abhang entlang und erreichte so die Notbrücke, von der noch einige rauchende Balken übriggeblieben waren. Dann bog er seitwärts ein, ging wieder an der anderen Seite des Hauses vorbei und kam den Rasenplatz herauf.

Von Zeit zu Zeit stieß der Hund ein freudiges Gebell aus. Vorski ließ nicht locker. Aber was für Anstrengungen er auch machte, er gewann nicht einen Zoll breit an Terrain, und die Verfolgung dauerte bereits eine Viertelstunde. Da fing er an, auf den Feind zu schimpfen.

»So bleib doch stehen, wenn du kein Feigling bist! Was willst du denn? Uns etwa in eine Falle locken? Wozu? ... Willst du die Frau retten? In dem Zustand, in dem sie sich befindet, lohnt das nicht mehr der Mühe. Ha, du Lump, wenn ich dich kriege.«

Plötzlich zupfte Konrad Vorski am Rock.

»Was hast du, Konrad?«

»Sehen Sie doch, es sieht aus, als rührte er sich nicht mehr.«

Zum ersten Male konnte man die weiße Gestalt in der Dunkelheit deutlich erkennen und sehen, wie sie auf einmal zwischen dem Laubwerk mit weit geöffneten Armen, gekrümmtem Rücken und kreuzweise übereinandergeschlagenen Beinen auf der Erde saß.

»Er ist wohl hingefallen«, meinte Konrad.

Vorski, der vorausgeeilt war, schrie:

»Soll ich schießen, Kanaille? Du bist mir sicher! Heb die Arme hoch, oder ich gebe Feuer!«

Keine Bewegung.

»Um so schlimmer für dich! Wenn du Geschichten machst, sollst du sehen ... ich zähle bis drei, dann schieße ich.«

Er näherte sich der Gestalt auf zwanzig Schritte und zählte mit ausgestrecktem Arm:

»Eins ... zwei ... Bist du bereit, Konrad? Wir wollen beide zugleich schießen.«

Sie feuerten los.

Weiter unten ertönte ein Angstschrei. Die Gestalt schien niederzufallen. Die beiden Männer stürzten auf sie los.

»Haben wir dich endlich, du Lump! Jetzt sollst du Vorski kennenlernen! Du Strauchdieb, hast mich ja gehörig laufen lassen.«

Er verlangsamte seine Schritte aus Furcht vor einer Überraschung. Der Unbekannte rührte sich nicht, und als Vorski ganz nahe war, sah es aus, als ob er einen toten Menschen vor sich habe. Vorski rief lächelnd: »Weidmanns Heil, Konrad. Heben wir das Wild auf.« Aber er war sehr erstaunt, als er, im Begriff, das erlegte Wild aufzuheben, in seinen Händen nur einen Kittel hielt, der an den Dornen eines Gestrüpps hängengeblieben war und worin kein Mensch mehr steckte. Auch der Hund war verschwunden. Er ließ seine Wut in der gewohnten stupiden Weise aus, indem er auf dem Kleidungsstück mit den Füßen herumtrampelte. Da kam ihm plötzlich ein Gedanke.

»Wozu das alles? Ich dachte es mir ja gleich! Eine Falle, ein Trick ist es gewesen, um uns von der Frau zu entfernen, während wahrscheinlich jetzt Freunde von ihm auf Otto losgehen. Ach, was bin ich doch für ein Idiot gewesen.« Sofort lief er eilends zurück, und sobald er die Umrisse des Dolmens gewahrte, rief er: »Otto, Otto!«

»Halt! Wer da?« antwortete Otto.

»Ich, zum Teufel! schieß nicht ...«

»Wer ist da?«

»Ja, ja, ich Schafskopf! Ich!«

»Aber die zwei Schüsse?«

»Ein Versehen ... man wird dir schon erzählen ...«

Er war zu der Eiche gelangt. Ergriff die Laterne und ließ einen Schein auf sein Opfer fallen. Dieses rührte sich nicht und lag noch so wie vorher am Fuße des Baumes, den Kopf vom Schleier verhüllt.

»Ah,« rief er, »ich atme wieder auf! Teufel noch mal, habe ich Angst gehabt.«

»Angst? Wovor?«

»Das man sie uns geraubt hätte.«

»Na, war ich denn nicht da?«

»Du, du bist auch nicht tapferer als irgendein anderer. Und wenn man dich angegriffen hätte?!«

»So hätte ich geschossen und Sie hätten den Schuß gehört.«

»Wer weiß! Ist sonst etwas passiert? Hat die Frau sich nicht sehr aufgeregt?«

»Anfangs ja, sie stöhnte derart, daß ich fast die Geduld verlor ...«

»Na und?«

»Na, lange hat es nicht gedauert. Ich habe ihr einen tüchtigen Faustschlag versetzt.«

»Oh, du Vieh!« schrie Vorski. »Wenn du sie getötet hast, bist du selber des Todes!« Er beugte sich hastig über sie und legte sein Ohr an die Brust der Unglücklichen.

»Nein«, sagte er. »Das Herz schlägt noch, aber lange wird es vielleicht nicht mehr dauern. Ans Werk, Kameraden, in zehn Minuten muß alles aus sein!«


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